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Innovationen »UNS FEHLT DER HUNGER«

Die deutsche Industrie steckt in einer Innovationskrise, sie hat in vielen Bereichen den Anschluß an die technische Entwicklung verloren. Ohne neue Produkte läßt sich die Rezession nicht überwinden - und der Lebensstandard der Bevölkerung nicht halten. Viele Manager fordern Entwicklungshilfe vom Staat.
aus DER SPIEGEL 46/1993

Dem Regionalproporz verdankt der vordem unbekannte Paul Krüger seinen Job. Der Kanzler machte den Ostdeutschen vor einem halben Jahr zum Bundesforschungsminister.

Die Entscheidung signalisierte, welche Bedeutung Helmut Kohl der Forschung und Entwicklung beimaß: eine ziemlich geringe.

Das hat sich, ganz plötzlich, geändert. Vergangene Woche sagte Kohl seinem Forschungsminister 150 Millionen Mark zusätzliche Mittel zu. Ein paar Tage zuvor hatte er Wissenschaftler und Unternehmensführer ins Kanzleramt eingeladen - zum Plausch über den Forschungsstandort Deutschland.

Die Bonner SPD-Parlamentarier wollten offenbar nicht nachstehen. Sie legten letzte Woche einen Gesetzesantrag für einen Technologierat vor. Über dieses Thema hatte auch Kohl mit seinen Gästen gesprochen. Die Expertenriege soll die Bundesregierung bei Fragen des Strukturwandels beraten.

Das neue Interesse ist Folge einer Erkenntnis, die so neu nicht ist, aber offenbar erst jetzt Bonn erreicht hat: Die deutsche Wirtschaft steckt nicht nur in einer schweren Rezession, sondern auch in einer tiefen Strukturkrise. Und schuld daran sind neben den hohen Kosten vor allem fehlende Innovationen.

Noch immer produziert die deutsche Industrie vornehmlich Produkte, Automobile etwa, die zu Beginn des Jahrhunderts erstmals auf den Markt gekommen waren. Der ehemalige Exportweltmeister hat in wichtigen Bereichen den Anschluß an die technische Entwicklung verloren, und damit an die Märkte der Zukunft.

Im Geschäft mit Computern vertritt nur Siemens die deutsche Industrie, doch der Münchner Elektrokonzern ist in diesem Bereich wenig erfolgreich und international eher ein Zwerg. Chips kommen fast ausschließlich aus Asien, Software kommt meist aus den USA.

Die Unterhaltungselektronik ist fest in japanischer Hand, deutsche Firmen entwerfen allenfalls das Design für landesgemäße Gehäuse. Die Bio- und Gentechnik spielt praktisch keine Rolle.

»Im Hochtechnologiebereich«, warnt der Kölner Berater Jürgen Schulte-Hillen, »findet in Deutschland praktisch eine Entindustrialisierung statt.«

Krüger legte in der vergangenen Woche einen Bericht über den Forschungsstandort Deutschland vor - mit beunruhigendem Ergebnis: Die Deutschen meldeten selbst in ihrem Renommierbereich Maschinenbau deutlich weniger Patente an als ihre Konkurrenten in Japan und in den Vereinigten Staaten; die Ausgaben für Forschung nehmen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, ab (siehe Grafik).

Die Position der Deutschen ist vor allem dort schwach, wo Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen genutzt werden, etwa bei der Biomedizin und bei Fertigungsverfahren für neue Werkstoffe. In der Mikroelektronik ist der Rückstand besonders groß.

Wie aber soll ein Hochlohnland wie die Bundesrepublik die zunehmende Konkurrenz auf dem Weltmarkt bestehen, wenn nicht durch neue Produkte? Wie soll der Lebensstandard der Deutschen gehalten werden, wenn ihre Innovationskraft sinkt?

»Alle sehen, daß Sparen allein nicht reicht«, sagt Wolf-Michael Catenhusen, Forschungsexperte der SPD-Bundestagsfraktion. »Jetzt sind Zukunftsstrategien gefragt.« Forschungsminister Krüger fordert eine Innovationsoffensive der deutschen Wirtschaft.

Doch wie läßt sich die Kreativität in Forschungslabors und Betrieben steigern? Die Antwort vieler Manager ist einfach: mit Steuergeldern.

Die Maschinenbauer wollen eine Investitionszulage; die Raumfahrtindustrie wähnt sich ohne Staatsknete am Ende; die Elektroindustrie drängelt wegen neuer Aufträge der Telekom.

Und Tyll Necker, Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, hat - wahrlich eine Innovation - eine ganz neue Subvention erfunden: High-Tech-Unternehmen, die Spitzentechniker ausbilden, sollen Geld vom Staat erhalten.

Bisher war der enge Schulterschluß von Staat und Industrie - in Japan und Frankreich schon lange üblich - in Deutschland verpönt. Doch die reine Lehre der Marktwirtschaft ist fast überall auf der Welt auf dem Rückzug.

In den USA und in Großbritannien rücken Politik und Wirtschaft immer enger zusammen: Der britische Premier John Major hat eine »stärkere Partnerschaft« zwischen seiner Regierung und der Industrie angekündigt.

In den USA legte Präsident Bill Clinton ein milliardenschweres Technologieprogramm auf. Davon profitiert unter anderem die Automobilindustrie. Sie soll zusammen mit Forschern, die vom Staat besoldet werden, ein umweltfreundliches Auto entwickeln.

Schon klagt Siemens-Chef Heinrich von Pierer, daß der Wettbewerb von Unternehmen durch einen Wettbewerb von Nationen ersetzt werde - um prompt seine Forderungen an die Politik anzumelden: Bonn müsse die Industrie gezielt unterstützen.

Viele Politiker sehen das ähnlich. In Baden-Württemberg etwa haben Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) und Wirtschaftsminister Dieter Spöri (SPD) eine ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik eingeführt.

Spöri organisiert mit Unternehmern und Gewerkschaftern Branchendialoge für angeschlagene Sektoren. Über künftige Chancen für den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg beraten mehr als 40 Unternehmer, Wissenschaftler und Gewerkschafter in der Zukunftskommission Wirtschaft 2000.

Die beiden Koalitionäre sehen ihre »Spätzle-Connection« (Manager Magazin) als Modell für Bonn. »Ohne solche Konsensbildung«, glaubt Spöri, »hat die deutsche Wirtschaft auf Dauer keine Chance.«

Noch kranken alle Vorschläge über Wege aus der Innovationskrise allerdings an einem erheblichen Mangel: Die Experten sind sich über die Ursache der Misere keineswegs einig.

Gehen den Deutschen etwa die Erfinder aus? Oder forschen die in den falschen Fachbereichen? Oder werden deren Ergebnisse nur schlecht umgesetzt?

Kaum ein Manager bestreitet inzwischen, daß die deutsche Wirtschaft in den achtziger Jahren, vom langen Boom verwöhnt, träge geworden ist; sie hat viele Entwicklungen verschlafen.

Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer wollte vor kurzem von Bayer-Manager Walter Wenninger wissen, warum die Pharmabranche in den fetten siebziger und achtziger Jahren nicht mehr Geld in die Forschung gesteckt habe. Wenningers entlarvende Antwort: Der Minister könne nicht erwarten, daß in riskante Forschung investiert werde, wenn man seine Milliarden leicht mit »Feld-, Wald- und Wiesenprodukten« verdienen könne.

»Uns fehlt einfach der Hunger«, meint Hartmut Weule, Forschungsvorstand bei Daimler-Benz. Siemens-Chef von Pierer hat ebenfalls erkannt: »Wir müssen der Innovation wieder mehr Beachtung schenken.«

Der internationale Standortwettbewerb hat, mit einiger Verspätung, nun auch die Forscher erreicht. Moderne Kommunikationsmittel erleichtern den Exodus ganzer Entwicklungsabteilungen in Länder mit Niedriglöhnen oder lascheren staatlichen Auflagen. Texas Instruments zum Beispiel läßt Software im indischen Bangalore entwickeln - via Satellit halten die Inder Kontakt mit ihren Kollegen in Dallas.

Aus Deutschland haben sich zuerst die Chemie-Experten verabschiedet. Fast jeder dritte Bayer-Forscher arbeitet mittlerweile im Ausland. Bei Hoechst sind es sogar 40 Prozent. Für deutsche Nachwuchsforscher ist das deprimierend: Im vergangenen Jahr gab es 4000 arbeitslose Chemiker.

In der Vergangenheit sind in Deutschland viele Forscher und innovative Unternehmer an den Hürden der Bürokratie gescheitert. Zum Beispiel Ilse Müller, Unternehmerin aus Konstanz: Ihr Mann hatte einen superschnellen Mikroprozessor entwickelt. Monatelang verhandelten die Müllers vergebens mit Siemens und dem Bonner Forschungsministerium. Heute baut der Tokioter Elektronikanbieter Alps Electric den Minibaustein - und verkauft ihn in Millionenauflage.

Iradj Hessabi, Erfinder aus Oerlinghausen bei Paderborn mit 382 internationalen Patenten, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. In monatelanger Arbeit entwickelte er ein überraschend simples und billiges Sicherheitskonzept für Tanklastzüge. Es verhindert, daß die Fracht von Lastzügen bei Unfällen explodiert.

Genützt hat ihm das wenig. Seit Wochen müht sich der Iraner um das Interesse der Bonner Ministerien für Umwelt, Verkehr und Forschung - umsonst. Besonders frustrierend für Hessabi: Der TÜV Rheinland testet derzeit im Auftrag des Forschungsministeriums die Sicherheit von herkömmlichen Tanklastzügen, die Kosten für den Steuerzahler liegen bei rund 10 Millionen Mark. Hessabis Erfindung kostet einen Bruchteil, etwa 3500 Mark pro Tanklastzug.

Das Beispiel des Iraners zeigt, warum staatliche Forschungsförderung so viele Flops produziert: In kaum einem Bereich ist es so schwer zu erkennen, wer und was gefördert werden sollte.

Immerhin eine Wachstumsbranche hat die staatliche Förderung hervorgebracht: professionelle Subventionsberater. »Die sind echt erfinderisch«, sagt Helmut Kohn, der im Bonner Wirtschaftsministerium für Forschungsförderung zuständig ist.

Die deutschen Unternehmen werden sich selbst helfen müssen, wenn sie ihre Innovationskrise überwinden wollen. Bundesweit ist eine Diskussion darüber _(* Mit der Zeichnung des von ihrem Mann ) _(entwickelten Mikroprozessors. ) in Gang gekommen, wie die Forschung in den Unternehmen effizienter gestaltet werden kann.

Die meisten Unternehmen, die derzeit ihre Abteilungen für Forschung und Entwicklung umkrempeln, wollen Ideen schneller umsetzen. Nach einer Kienbaum-Untersuchung vergehen im Durchschnitt fast zehn Jahre, bis hierzulande mit neuen Produkten die Gewinnschwelle erreicht wird.

In vielen Unternehmen wird allzulange getüftelt und gebastelt. So benötigt der schnellste japanische Autobauer nach einer Untersuchung der Unternehmensberatung Arthur D. Little 400 000 Ingenieurstunden für die Entwicklung eines neuen Modells, beim schnellsten Europäer vergehen 2,4 Millionen Stunden.

Für Herbert Henzler, den Chef der Unternehmensberatung McKinsey Deutschland, beruhen die Schwächen deutscher Forschung deshalb nicht in einem Mangel an Mitteln, sondern »auf dem zu wenig wirkungsvollen Einsatz«.

Beim Kölner Maschinenbauer Klöckner-Humboldt-Deutz arbeiten die Entwickler inzwischen mit Konstrukteuren sowie Material- und Montageplanern zusammen, damit Stärken und Schwächen ihrer Konzepte frühzeitig erkannt werden. Forscher und Entwickler mußten sogar umziehen; die neuen Büros sind nur durch eine Glaswand vom Rest der Fabrik getrennt.

Andere Unternehmen prüfen nun genauer, wie stark sich die Arbeit ihrer Forscher auszahlt. Die Tüftler von Daimler-Benz bewerten sich neuerdings gegenseitig in Gruppensitzungen.

Bei Siemens müssen Forscher und Entwickler ihre Arbeitsergebnisse auf internen Messen bei anderen Abteilungen anpreisen - um zu erfahren, wie ihre Arbeit ankommt und was anderswo gebraucht wird. »Das war für viele ein Kulturschock«, berichtet Peter Kleinschmidt, Fachabteilungsleiter im Forschungsressort. »Es gab enorme Widerstände.«

Mehr Kooperation, härtere Kontrollen: Was den Forschern zunehmend abverlangt wird, ist in anderen Abteilungen oft längst selbstverständlich. Claus Tiby, Unternehmensberater bei Arthur D. Little, sieht in der Rezession eine Chance, unproduktive Strukturen aufzubrechen - und Abschied von dem Vorurteil zu nehmen, daß Forscher dann kreativ sind, wenn sie abgeschottet nur mit ihresgleichen arbeiten.

Daß vermehrte Forschungsanstrengungen jedoch nicht sogleich zum Aufschwung führen, zeigt die Geschichte. Im Jahre 1930 hatten Deutschlands Erfinder mit 80 000 Patenten einen neuen Rekord geschafft. Die Weltwirtschaftskrise war damit aber nicht mehr aufzuhalten. Y

[Grafiktext]

_114_ Deutschlands Forschungsausgaben

_____ Forschung und Entwicklung im Vgl.: USA, Japan,BRD

_____ / Bruttoinlandsausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts

_115_ Internationale Patentanmeldungen: USA, Japan, BRD

[GrafiktextEnde]

* Mit der Zeichnung des von ihrem Mann entwickelten Mikroprozessors.

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