

Joachim Hunold steht vor dem Schalter von Gate A16 am Münchner Flughafen. Er will seine Bordkarte ausgedruckt haben. "Die hebe ich mir auf", sagt er. Die Mitarbeiterin hinter dem Computer verlangt seinen Ausweis. Hunold hält einen Moment inne, doch statt seinen Ausweis zu zücken, buchstabiert er seinen Namen: "H-u-n-o-l-d." Die Dame, Diana Butz-Weigl ist ihr Name, schaut verdutzt und zieht schnell eine Bordkarte aus ihrer Jackentasche, sie hatte sie vorsichtshalber schon ausgedruckt, Platz 1C.
Wenig später stehen unzählige Gäste vor Butz-Weigl und wollen ein Souvenir wie Hunold, der 1991 Air Berlin ein zweites Mal gründete und jahrelang Chef der Linie war, ein nicht unumstrittener Chef.
Nichts ist normal an diesem Abend auf dem Flug AB6210 von München nach Berlin-Tegel. Es ist der letzte Flug von Air Berlin - wenn er den Boden der Hauptstadt berührt, ist Deutschlands zweitgrößte Fluglinie nach der Insolvenzanmeldung im August endgültig Geschichte. Gekommen sind Fans der Linie aus der ganzen Republik, unerschütterliche Romantiker, Mitarbeiter, Journalisten.
Fast jeder hat eine Kamera dabei; wer hier fotografiert, fotografiert Fotografierende. Ein Mann in Funktionsjacke hält Blumen in der Hand, wer sie bekommt, werde "sich zeigen", sagt er. Eine Vielfliegerin stellt ein Porzellansparschwein auf, um für die Crew des Abends zu sammeln, nicht wenige stecken Scheine in den Schlitz.
Christian Gaisböck ist extra aus Kiel angereist. Der 42-Jährige arbeitet bei einer Firma, die mit Saatgut handelt und ist so viel mit Air Berlin unterwegs gewesen, dass er den Platinum-Status im Vielfliegerprogramm hat. "Die waren einfach immer herzlich und viel weniger muffig als das Personal bei Lufthansa", sagt er. Ein grauhaariger Mann, der gerade mit einer anderen Maschine angekommen ist, versucht Passagier August Ulrich, 29, seine Bordkarte abzukaufen. Doch die gebotenen 500 Euro sind Ulrich zu wenig, um auf den letzten Air-Berlin-Flug zu verzichten. "Unter 2000 Euro geht nichts", sagt er.
Air Berlin war in der jüngeren Geschichte stets der Pflegefall der deutschen Luftfahrtindustrie. Die Bilanzen glichen Jahr für Jahr einem Desaster; dass der Tag des letzten Fluges irgendwann kommen musste, wurde in den vergangenen Jahren immer wahrscheinlicher.
Doch als im Münchner Terminal 1 die Durchsagen durch die Lautsprecher scheppern, in denen sich Mitarbeiter des Bodendienstleisters verabschieden, weinen einige. Sie wirken, als wollten sie diesen Moment einfach nicht wahrhaben. Dass die Maschine heillos verspätet ist, interessiert heute nicht. Niemand fragt nach einem Upgrade, niemand will einen anderen Sitzplatz, niemand mal eben noch umgebucht werden.
In der Fluggastbrücke stehen jubelnde Mitarbeiter, die Air-Berlin-Hymne "Flugzeuge im Bauch" wird noch häufiger zu hören sein in dieser Nacht. Mit einem Stift verewigen sich manche am Rumpf des Airbus A320 neben der Eingangstür.
Auch die Crew nach Berlin ist besonders auf Flug AB6210: Auf 195 Jahre Berufserfahrung bringen es die Mitarbeiter in Cockpit und Kabine. Zum Beispiel Annette Meister, 54 Jahre alt und seit dem 1. März 1990 als Flugbegleiterin dabei. Ihr erster Flug für Air Berlin ging nach Orlando, damals mit einer Boeing 707. Ihr letzter Einsatz endet nun in Berlin-Tegel - mit einer ungewissen Zukunft.
"Es ist wirklich bitter, was mit Air Berlin passiert ist", sagt Meister. Sie spricht mehrere Sprachen fließend, versteht ihren Beruf als zuvorkommende Gastgeberin. Die permanente Bedrohung ihres Arbeitsplatzes wurde für Meister über die Jahre zum Normalfall. "Ich weiß nicht, wie es konkret weitergeht", sagt sie.
Der Purser hält eine rührende Ansprache an die Passagiere, dann unterbricht Kapitän David McCaleb ihn per Lautsprecherdurchsage: "Wir sind glücklich, aber bitte doors armed und cross check." Es ist ganz still an Bord, als der Airbus A320 auf der Startbahn 26 in München beschleunigt und abhebt. Der Caterer hat eine Piccolo-Flasche Sekt für jeden spendiert, es gibt Kanapees vom Porzellanteller. Kurz erinnert die Reise an das Fliegen in den glanzvollen Zeiten der Luftfahrtindustrie.
Geschichten werden ausgetauscht, Anekdoten von Flügen und ihren Zwischenfällen erzählt. Gäste stecken Speisekarten und Übelkeitstüten ein, am Ende fehlen an vielen Sitzen die Karten mit den Sicherheitsinstruktionen.
Es wird über ehemalige Air-Berlin-Manager gelästert, andere Passagiere sind so erschöpft, dass sie im Sitz dösen. Ein Mann, seit 1984 Mitarbeiter bei der Air-Berlin-Technik, schaut aus dem Fenster. Ihm laufen Tränen über die Wangen.
Über Berlin fährt der Kapitän das Fahrwerk früh aus, nur so kann das Logo der Fluglinie am Leitwerk beleuchtet werden - ein Muss für die Ehrenformation. Die Flugsicherung hat die Genehmigung erteilt, in niedriger Höhe über Berlin zu fliegen: Schönefeld, Tempelhof, Tegel. Am Ende wird die Route der Maschine über Berlin ein Herz ergeben.
Die Flughafenfeuerwehr erwartet das Flugzeug mit einer Wasserfontäne; um Punkt Mitternacht rollt der letzte Air-Berlin-Flug der Firmengeschichte auf seine Parkposition vor dem Crewhaus in Berlin-Tegel. Hunderte Mitarbeiter in gelben Warnwesten erwarten den Jet. Sie feiern nicht sich selbst, sondern vor allem die Passagiere. Bei jedem einzelnen Fluggast, der die Treppe herabschreitet, brechen sie in Jubel aus. Hände werde gedrückt, es wird umarmt.
Das einzig Normale an diesem letzten Flug: Beim Aussteigen gibt es für jeden Gast ein Schokoherz. Die Herzen reichen nur knapp. Im Bus zum Terminal sagt ein Passagier zu seinem Begleiter: "Warum war Air Berlin eigentlich nicht immer so toll wie heute?"
Im Video: Martin U. Müller mit Eindrücken aus dem Flieger
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Zuvor hatten sie die Crew des letzten Flugs der insolventen Airline empfangen - und jeden einzelnen Passagier beim Herabsteigen der Treppe bejubelt.
Nach fast vier Jahrzehnten verschwindet Air Berlin vom Flugplan: Mit einer Stunde Verspätung landete die letzte Air-Berlin-Maschine am Freitagabend in Berlin. Zum Abschied flog der Pilot noch eine Ehrenrunde über die Hauptstadt - die Route ergab die Form eines Herzens.
Vor dem Start in München präsentiert die Crew des letzten Flugs Lebkuchenherzen.
Der Flug AB6210 am späten Freitagabend in München kurz vor dem Start nach Berlin - und damit vor dem letzten Flug der insolventen Fluggesellschaft Air Berlin.
Auch in Düsseldorf verabschiedeten sich Air-Berlin-Mitarbeiter von ihrer Fluggesellschaft. Bis zu 3000 ehemalige Air-Berlin-Mitarbeiter sollen bei der Lufthansa-Tochter Eurowings unterkommen.
In München posieren Air-Berlin-Mitarbeiter vor und in der Turbine.
Gemeinsam 195 Jahre Berufserfahrung: Die Crew des letzten Fluges AB6210 von München nach Berlin.
Zum Abschied schwenken Piloten und Flugbegleiter Fahnen.
Auf einem Plakat steht: Die Fluggesellschaft mit Herz sagt Tschüss.
Seit ihrem Erstflug 1979 habe die Airline mehr als eine halbe Milliarde Passagiere befördert, teilte Air Berlin mit. Air Berlin - die nach Lufthansa bisher zweitgrößte deutsche Fluglinie - hatte Mitte August Insolvenz angemeldet. Nun wird der Konzern zerschlagen.
Bye, bye Air Berlin: Der Flughafen München verabschiedete sich auf einer Anzeigetafel.
Air Berlin am Boden: Am 15. August hat die Fluggesellschaft Insolvenz angemeldet. Nachdem Großaktionär Etihad eine Kreditrate nicht auszahlte, sah das Management keine Perspektive für eine normale Fortführung der Geschäfte.
1978 begann alles hoffnungsvoll: US-Pilot Kim Lundgren (links, mit Sohn Shane) gründet Air Berlin 1978 in den USA als Charterfluggesellschaft. Hintergrund: Damals dürfen nur Flugzeuge der Siegermächte Berlin anfliegen.
Der erste Heimatflughafen von Air Berlin heißt folglich nicht Berlin, sondern Miami. Von dort gibt es mitunter auch Direktflüge in die geteilte Stadt.
Berlin steht faktisch aber im Mittelpunkt des wachsenden Netzes von Air Berlin. Der erste Flug geht nach Mallorca. Bald entwickeln sich Ziele im Mittelmeerraum zum Markenzeichen von Air Berlin.
Nach der Wiedervereinigung ist der Weg frei für den Wechsel des Firmensitzes in die künftige Hauptstadt. Der spätere Vorstandsvorsitzende Joachim Hunold übernimmt die US-Gesellschaft.
Rollfeld des Flughafens von Palma de Mallorca: Air Berlin startet auch im lukrativen Touristenfliegergeschäft durch.
Air Berlin bekommt immer größeren Hunger auf Wachstum. Im Jahr 2004 erwirbt die Airline 24 Prozent an der österreichischen Linie Niki des früheren Rennsportlers Niki Lauda. Später erhöht Air Berlin den Anteil.
Die Expansion kostet Geld. Geld, das sich die Eigentümer an der Börse holen wollen. Im zweiten Anlauf gelingt der Sprung aufs Parkett - seit dem 11. Mai 2006 sind Anteile von Air Berlin frei handelbar.
Treibende Kraft hinter dem Wachstumswillen bleibt Vorstandschef Hunold, der noch heute im Verwaltungsrat von Air Berlin sitzt.
Hunold unternimmt zahlreiche weitere Übernahmeversuche. So schluckt Air Berlin noch 2006 Wettbewerber dba. Ein Jahr später ist die deutsche Traditionsgesellschaft LTU dran. An der Schweizer Fluggesellschaft Belair erwirbt Air Berlin im selben Jahr 49 Prozent der Anteile.
Hunold hat einen Lauf - seine Fluggesellschaft verbucht in dieser Zeit sogar Gewinne, was in der Geschichte von Air Berlin Seltenheitswert haben sollte. 2006 bleiben 40 Millionen, 2007 27 Millionen Euro übrig. Danach geht es abwärts.
Immer wieder scheitern auch geplante Akquisitionen. Die geplante Übernahme von Condor kommt nicht zustande, weil die aufziehende Finanzkrise 2008 den Markt schwächt.
Hunold holt manchen alten Weggefährten mit an Bord, um der Krise Herr zu werden - so Ex-Bahnchef Hartmut Mehdorn, der 2009 in den Aufsichtsrat einzieht und zwei Jahre später Übergangschef und Hunold-Nachfolger wird.
Den Kursverfall der Air-Berlin-Aktie nutzt die türkische Holding ESAS der Sabanci Holding (im Bild: Vorstand Guler Sabanci) und erwirbt 15,3 Prozent der Anteile.
Ende 2011 steigt schließlich die arabische Gesellschaft Etihad im großen Stil bei Air Berlin ein, kauft einen 29,21-Prozent-Anteil und wird größter Eigner. Etihads Ziel: über das Air-Berlin-Streckennetz auf dem europäischen Flugmarkt Fuß zu fassen.
Unter den neuen Machtverhältnissen steigt Wolfgang Prock-Schauer zum Chef auf und löst Mehdorn ab. Doch steckt die Gesellschaft schon mitten in einer großen Krise. Hunderte Arbeitsplätze werden abgebaut, die Mitarbeiter sollen auf fünf Prozent ihres Gehalts verzichten.
Hinzu kommt, dass ihr geplantes Drehkreuz, der Flughafen Berlin-Brandenburg, wegen Bauplanungsmängeln nicht eröffnet werden kann.
Etihad lässt sich derweil nicht von der Schwäche von Air Berlin beeindrucken. Die Tochter soll näher an andere Beteiligungen wie Alitalia heranrücken, wird zum Puzzleteil in der Strategie der Araber.
Der nächste Chef: Ab Februar 2015 soll Stefan Pichler Air Berlin für seinen arabischen Großaktionär endgültig wieder auf Linie bringen. Doch es geht immer weiter abwärts: 2014 verbucht seine Airline einen Verlust von 377 Millionen Euro - bis dato Rekord. Sein Sparprogramm begründet er gegenüber seinen Leuten knapp: "Wir haben nur noch einen Schuss frei."
Den "letzten Schuss" setzte Pichler in Form einer Rettungsstrategie. Ein Bestandteil: mehr Langstreckenflüge in die USA.
Das Streckennetz in Europa sollte dagegen etwas schrumpfen. Immerhin gab es im Sommergeschäft 2015 schwarze Zahlen für Pichler.
Zentraler Bestandteil für die Zukunftspläne bleibt danach allerdings der starke Partner Etihad. Doch ob er an Bord bleibt, erscheint zunehmend fraglich. Immerhin dürfen die Araber weiter gemeinsame Flüge mit Air Berlin unter einer Codenummer anbieten. Dennoch bleibt bis Anfang 2017 unterm Strich eine Milliarde Euro, die die Araber erfolglos in Air Berlin gesteckt haben.
Im Herbst 2016 stehen die Zeichen bereits auf Zerschlagung. Gespräche mit Lufthansa über einen Verkauf von Geschäftsteilen beginnen. Die Kranich-Airline will 38 Flugzeuge von Air Berlin zumindest zeitweise übernehmen.
Die Zerschlagung könnte auch Folgen haben für den Ferienflieger TuiFly. Dieser kooperiert bisher mit der Air-Berlin-Tochter Niki. Diese könnten zu einer eigenständigen Ferien-Airline zusammengelegt werden.
Der Einfluss der Lufthansa auf Air Berlin wächst bereits im Dezember 2016 massiv, der von Etihad sinkt. An der Unternehmensspitze ersetzt Thomas Winkelmann den glücklosen Stefan Pichler. Zuvor hatte Winkelmann bei der Lufthansa die Tochter Eurowings neu aufgestellt.
Bei Air Berlin gehen die Lichter aus: Am 27.10. startet der letzte reguläre Flug in München und nimmt Kurs auf Berlin. Die Lufthansa wird sich einen Großteil des Maschinenparks einverleiben, Tausende Mitarbeiter bangen um ihre Jobs.
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