Plattformen wie Amazon und Wish Wie im Onlinehandel täglich Steuern hinterzogen werden

Falsche Angaben über den Inhalt, fehlende Steuernummern, falsche Rechnungen: Der Steuerbetrug im Onlinehandel kostet den Fiskus Hunderte Millionen Euro. Auch für die Kunden kann es teuer werden.
Amazon-Pakete (Archiv)

Amazon-Pakete (Archiv)

Foto: DAVID W CERNY/ REUTERS

Schon die Aufschrift des Päckchens aus China ist eine glatte Lüge. "Commercial Sample", also "Warenprobe", hat der Händler in die Zollerklärung geschrieben. Und als Wert hat er fünf US-Dollar angegeben. Es hat funktioniert: Der Zoll hat die Sendung ohne jede weitere Prüfung durchgewunken.

Tatsächlich ist in dem Päckchen gar kein Warenmuster. Sondern eine Drohne, die der Händler verkauft hat: über die Shopping-App Wish, für 34 Euro plus neun Euro Versand. Und auf diesen Preis muss der Verkäufer oder der Käufer Einfuhrumsatzsteuer an den deutschen Staat entrichten - so verlangt es das Gesetz. "Geschieht das vorsätzlich nicht, ist es Steuerhinterziehung", sagt Hans-Michael Wolffgang, Professor für Zollrecht an der Universität Münster.

Es ist bei Weitem nicht der einzige Fall von Steuerbetrug im Onlinehandel. Wie eine aktuelle SPIEGEL-Recherche zeigt, führen viele ausländische Händler auf E-Commerce-Plattformen wie Wish oder Amazon Marketplace noch immer keine Umsatzsteuer ab, wenn sie Produkte nach Deutschland verkaufen. Ihre Kunden kann das am Ende teuer zu stehen kommen.

Millionenverluste durch Steuerbetrug

Seit Jahren hinterziehen vor allem E-Commerce-Händler aus Fernost systematisch die deutsche Umsatzsteuer. Das Prinzip ist simpel: Sie liefern ihre Ware in die Bundesrepublik - zahlen hierzulande aber keinen Cent an den Fiskus. Strafverfolgung müssen sie nicht fürchten in der "Steueroase Internet", wie der Bundesrechnungshof 2015 schrieb. Sie sind ja weit weg. Das bringt diesen Verkäufern einen Wettbewerbsvorteil gegenüber hiesigen Händlern, die um die Umsatzsteuer nicht herumkommen. Händler aus Fernost können ihre Waren günstiger anbieten.

Hunderte Millionen Euro verliert die Bundesrepublik Jahr für Jahr durch diesen Steuerbetrug. Bundesfinanzminister Olaf Scholz versucht nun, das illegale Treiben zu beenden. Am 1. Januar 2019 tritt ein Gesetz in Kraft, das vorsieht, die Betreiber der Onlinemarktplätze für die Umsatzsteuer ihrer Händler in Haftung zu nehmen. Die Haftbarkeit selbst beginnt am 1. März. Nur wenn Unternehmen wie Amazon und Ebay dem Finanzamt eine Bescheinigung über die steuerliche Registrierung der Verkäufer vorlegen, die bei ihnen aktiv sind, haften sie nicht. Andernfalls müssen sie selbst die Umsatzsteuer abführen.

Doch Testkäufe des SPIEGEL zeigen: Wenige Tage vor Inkrafttreten der neuen Vorschriften ist die Umsatzsteuerhinterziehung im E-Commerce immer noch gang und gäbe.

Nur eine von acht Rechnungen korrekt

Wir haben in den vergangenen Wochen acht Produkte bei Amazon und Wish eingekauft: Elektronik, Babyartikel sowie Spielzeug. Später haben wir von den Verkäufern eine Rechnung mit ausgewiesener Umsatzsteuer angefordert - und alle Belege von Nathalie Harksen, geschäftsführende Gesellschafterin der Steuerberatungsgesellschaft AWB, analysieren lassen.

Ergebnis: "Nur eine einzige Rechnung scheint korrekt zu sein", sagt Harksen. Hier berechnete ein in Großbritannien ansässiger Verkäufer eine Wickeltasche mit britischer Steuernummer und britischer Umsatzsteuer; bei Kleinverkäufen an Endverbraucher ist dies in bestimmten Fällen rechtskonform. In den sieben übrigen Fällen passten die Angaben hinten und vorne nicht zusammen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der deutsche Staat also von den acht Einkäufen des SPIEGEL bei Amazon- und Wish-Händlern keinen einzigen Cent Umsatzsteuer abbekommen.

"Mich erstaunt, dass Amazon das durchgehen lässt"

"Leider sind wir Online-Verkäufer und wir haben nur eine kommerzielle Rechnung ohne Value Added Tax (VAT)", schreibt Yvonne aus China, die über Amazon Marketplace Babybälle verkauft. Cindy aus Hongkong, die auf demselben Marktplatz ein in der EU illegales Abblendlicht anbietet, teilt mit: "Unsere Umsatzsteuer-Identifikationsnummer in Deutschland wurde nicht ausgestellt."

Andere Amazon-Marketplace-Anbieter wiesen zwar 19 Prozent Umsatzsteuer auf ihren Rechnungen aus, aber keine deutsche Steuernummer für Umsatzsteuerzwecke. "Ohne Steuernummer können die Händler hierzulande gar keine Umsatzsteuer abführen", sagt Steuerexpertin Harksen. "Dass Amazon das durchgehen lässt, erstaunt mich." Dass die Verkäufer keine Steuernummer auf ihren Rechnungen angeben, muss nicht heißen, dass sie keine solche Nummer haben. Aber es ist sehr wahrscheinlich.

Mehr zum Thema: So kann Billigware aus dem Netz die Gesundheit gefährden

Duldet Amazon bewusst Steuerhinterziehung über seine Plattform? Vieles deutet darauf hin, dass der Weltkonzern den Kampf gegen dubiose Anbieter nur halbherzig führt. Ein Amazon-Sprecher erklärt, sein Unternehmen unterstütze jederzeit die Einhaltung steuerrechtlicher Verpflichtungen. "Wir sperren ein Verkäuferkonto umgehend, wenn uns eine deutsche Steuerbehörde benachrichtigt, dass ein Verkäufer sich nicht an seine steuerrechtlichen Pflichten hält."

Zudem habe man "Prozesse etabliert, um das Verkäuferkonto zu überprüfen und geeignete Maßnahmen gegen den Verkäufer zu ergreifen". Allerdings habe Amazon zurzeit "weder rechtlich noch technisch die Möglichkeit, eine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer zu überprüfen, und wir können auch nicht feststellen, ob ein Verkäufer seinen Umsatzsteuerpflichten nachkommt".

Sind Wish-Käufer selbst verantwortlich?

Ein noch speziellerer Fall ist Wish: Die Shopping-App schickte uns über ihren Zahlungsdienstleister Klarna einen "Rechnungsbeleg" für zwei Produkte. Hier war weder die deutsche Umsatzsteuer noch eine deutsche Umsatzsteuernummer aufgeführt.

Als wir dies über die Kundenhotlines beider Unternehmen reklamierten, erklärten Wish und Klarna immer wieder, man möge sich an die jeweils andere Firma wenden. Ein Pressesprecher von Wish äußert sich auf Anfrage nicht zum konkreten Fall, sondern erklärt in einem allgemeinen Statement: "Wish empfiehlt seinen Händlern, dass sie sich mit Steuerexperten beraten, und verpflichtet sie, alle Gesetze einzuhalten, inklusive Bezahlung aller Umsatzsteuern. In Ländern, wo es das Gesetz verlangt, erhebt Wish Umsatzsteuer und führt sie ab."

Aber der Verdacht liegt nahe, dass Wish und seine Händler hierzulande keine Umsatzsteuer abführen. Dies zeigt die Rechnung - und auch der genaue Blick ins Kleingedruckte. In den Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die jeder Wish-Kunde unmittelbar vor dem Kauf als gelesen markieren muss, steht weit unten dieser Satz: "Ihre Einkäufe können spezifischen Verkaufssteuern, Zöllen oder Mehrwertsteuern unterliegen, und die Lieferzeit und die damit einhergehenden Kosten können dadurch steigen." Dies hieße nichts anderes, als dass die Wish-Kunden selbst für die Entrichtung der Umsatzsteuer und der Zölle verantwortlich sind.

Das kann kostspielig werden. Denn wenn der Zoll eine Sendung abfängt, auf die nicht die entsprechenden Abgaben gezahlt wurden, wird der Empfänger in der Regel zum Zollpostamt einbestellt. Dort wird dann die Sendung geöffnet, der Abnehmer muss die Rechnung vorlegen. Und bezahlen: Einfuhrumsatzsteuer ab 22 Euro Warenwert, ab 150 Euro obendrauf auch Zoll. "Wenn der Empfänger sich weigert, wird die Ware zurückgeschickt oder vernichtet", sagt der Zollrechtsexperte Wolffgang. Und dann kann der Wish-Kunde seinem vorab gezahlten Geld hinterherlaufen.

Es gibt noch viel zu tun für Olaf Scholz und seine Leute.


Zusammengefasst: Viele ausländische Händler, die auf Amazon und Wish ihre Waren anbieten, führen noch immer keine Umsatzsteuer ab. Auch wenn die Plattformen demnächst für die Umsatzsteuer ihrer Händler in Haftung genommen werden, werden jetzt noch viele Produkte ganz ohne oder mit falschen Angaben zur Steuernummer verkauft. So entstehen für den Fiskus Schäden in Höhe von Hunderten Millionen Euro. Doch auch für die Kunden kann es teuer werden, denn wenn der Zoll eine Sendung abfängt, auf die nicht die entsprechenden Abgaben gezahlt wurden, werden vom Empfänger nachträglich Steuerzahlungen verlangt.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes war die Höhe, ab der eine Abgabe an den Zoll bei Waren aus Drittländern zu zahlen ist, falsch. Wir haben den Fehler korrigiert. Ebenso war von einer Umsatzsteuernummer die Rede; gemeint war die Steuernummer, nicht die Umsatzsteuer-ID. Das war in der ersten Version nicht eindeutig formuliert, wir haben das geändert. Außerdem haben wir ergänzt, dass die Haftbarkeit von Marktplätzen am 1. März beginnt.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten