
Tabuzone Schlachthof Eiweißporno in der Schmuddelecke der Gesellschaft


Protest von Tierschützern in Rheda-Wiedenbrück, 19. Juni 2020
Foto: Noah Wedel/ imago images/Noah WedelDie Firma Tönnies, der größte deutsche Schlachthof, ist zum Corona-Hotspot geworden. Zwei von drei getesteten Mitarbeitern, mehr als 700, sind infiziert. Der Schlachthof ist dicht, ebenso Kitas und Schulen im Kreis Gütersloh.
Die deutschen Schlachthöfe als Pfeiler der Billigfleischindustrie stehen damit erneut im Feuer. Profitgier und Menschenverachtung haben sie zu schaurigen Orten der Ausbeutung von Arbeitern und Tieren gemacht. Sichtbar wird ein verschachteltes System aus Sub-Sub-Subunternehmen mit dubiosen Werkverträgen, sichtbar wird die Sklavenhaltung osteuropäischer und anderer migrantischer Arbeiter.
Die Schattenarmee der Hilfskräfte, die auch unseren Spargel sticht, unsere Weintrauben erntet und auf den Industrieschiffen Fische für uns fängt, steht erneut im Fokus: miese Bezahlung trotz Knochenjobs, unwürdige Unterbringung in containerartigen Verschlägen, dazu schlechte hygienische Verhältnisse und unzureichende medizinische Betreuung. So sind die Arbeiter dem Virus fast schutzlos ausgeliefert.
Jahrelang hat die Politik weggesehen. Erst jetzt, da sich die Schlachthöfe zu Superspreadern der Corona-Epidemie entwickelt haben, handelt sie endlich. Nicht, weil ihr die osteuropäischen Hilfsarbeiter so sehr am Herzen liegen, sondern weil die Schlachthöfe ganze Landstriche gefährden. Rheda-Wiedenbrück, Coesfeld, Birkenfeld, Dissen, Bad Bramstedt, Oer-Erkenschwick, Straubing-Bogen heißen die virusverseuchten Brennpunkte. Abgelegene Orte, die keiner besucht. Schlachthöfe sind gesellschaftliches No-Go, beunruhigende Orte außerhalb unserer Wahrnehmung.
Jetzt zerrt sie das Virus ans Tageslicht. Die Empörung ist groß. Und es kann keine Ausreden mehr geben. Auch keine hehren Selbstverpflichtungen der Schlachthofbetreiber wie noch 2017, die dann doch nicht eingehalten werden: Jetzt braucht es neben dem Verbot von Werkverträgen glasklare Regeln und Gesetze.
Die Schlachthofbetreiber müssen selbst ihre Mitarbeitenden anstellen, bezahlen, unterbringen, befördern - und sie müssen für sie die Verantwortung tragen. Unterkünfte und Bezahlung müssen menschenwürdig sein und der gefährlichen, auch psychisch belastenden Arbeit angemessen sein. Eigentlich Selbstverständlichkeiten.
Doch eine echte Reform muss weiterreichen. Es kann nicht sein, dass die Orte unserer Fleischerzeugung Tabuzonen der Gesellschaft bleiben, im Grunde verbotenes Terrain – gut getarnt, in strukturschwachen Räumen errichtet, teilweise von Stacheldraht und Hundepatrouillen geschützt. Schlachthöfe haben sich zu Un-Orten entwickelt, deren Image am ehesten mit Bordellen oder Gefängnissen vergleichbar ist.
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Wir brauchen nicht nur ein Ende der Sklavenhaltung, sondern auch regelmäßige unangemeldete Kontrollen, schmerzhafte Bußgelder bei Verstößen und eine Öffnung dieser abgeschotteten Einrichtungen. Gesellschaft und Medien dürfen nicht länger wegsehen und müssen sich ihrer Wächterfunktion und der Realität in unseren Schlachthöfen stellen. Hier werden schließlich keine Ziegelsteine, hier werden Lebensmittel produziert, das kann und darf nicht im Verborgenen, unter dem gesellschaftlichen Radar geschehen. Der transparente, der gläserne Schlachthof muss das Ziel sein.
Bislang verweigert die Fleischindustrie den Blick über die Schulter, sie will uns die immer schnellere Taktung des Tötens ersparen. So ist das Fleisch – abgekoppelt von Blut, Schweiß und Knochensplittern – zum appetitlich sauber abgepackten Eiweißporno mutiert, Augen- und Gaumenschmaus fernab vom Bolzenschuss.
Abschottung und Verdrängung heißen die eigentlichen Ursachen für die Schlachthofskandale, für Sklavenhaltung und Billigfleisch - und für die Corona-Ausbrüche an immer mehr Standorten der Fleischindustrie. 90 Prozent aller Deutschen essen Fleisch. Zu diesem Fleischgenuss gehört auch die gesellschaftliche Verantwortung für dessen Herstellung.
Früher war das Schlachten ein Fest, in den Dörfern war es ein besonderer Höhepunkt. Im Mittelalter konnte man den Schlachtern bei der Arbeit zusehen. Es war suspekt, wenn der Metzger im abgeschlossenen Raum arbeitete, weil dann keine Möglichkeit bestand, sich von der Qualität und Gesundheit des Schlachtviehs zu überzeugen.
Womöglich wurde im finsteren Mittelalter besser, demokratischer und transparenter geschlachtet als im Jahr 2020.