Rücktritt von Dennis Muilenburg Das wahre Drama hinter dem Chefabgang bei Boeing

Ex-Boeing-CEO Dennis Muilenburg: 23,3 Millionen Dollar Verdienst im Jahr 2018
Foto: REUTERS/Shannon StapletonNoch Ende Oktober versuchte Boeing-Chef Dennis Muilenburg seinen Kopf zu retten. Rücktrittsforderungen machten bereits die Runde, als Boeing in der "Financial Times" eine ganzseitige Anzeige schaltete. "Es tut uns wirklich leid", stand da geschrieben. "Sicherheit, Rechtschaffenheit und Qualität" seien die Werte von Boeing. Man wolle aus der 737 Max, von deren Baureihe zwei Maschinen abstürzten und dabei mehr als 300 Menschen starben, "eines der sichersten Flugzeuge" machen, das je geflogen ist.
Es klang damals schon wie eine billige PR-Aktion. Immerhin fehlte die vertrauensvoll anmutende persönliche Unterschrift des Boeing-Chefs, die noch unter einer ähnlichen Anzeige im März in Handschrift gedruckt stand: Dennis.
Seit diesem Montag ist Dennis Muilenburg bei Boeing Geschichte; er trat mit sofortiger Wirkung von seinem Amt zurück. Nachfolger soll David Calhoun werden, der derzeit Chef des Verwaltungsrats ist.
Zerrüttetes Verhältnis zur Luftfahrtbehörde
Wird mit der Demission von Muilenburg sich nun alles zum Guten wenden beim einst selbstbewussten US-Flugzeugbauer, immerhin 103 Jahre alt? Reicht eine simple Personalentscheidung und ein bisschen Reklame-Trompeterei aus, um das Unternehmen aus seiner "Jahrhundertkrise" ("FAZ") zu führen?
Oberflächlich betrachtet, ist Muilenburg über das Desaster der Boeing 737 Max gestolpert, ein technisch problematisches Flugzeug, das so nie hätte in den Linienbetrieb gehen dürfen. Muilenburgs Verhältnis zur US-Luftfahrtbehörde FAA galt zuletzt als zerrüttet - er soll bei der Behörde gedrängelt haben, den mit einem Flugverbot belegten Unglücksflieger möglichst schnell wieder abheben zu lassen. Bei den Verantwortlichen hatte er kein Glück und blitzte ab.
Mitarbeiterparkplätze wurden zur Abstellfläche für nicht ausgelieferte Max-Flieger umfunktioniert. Dann kam auch noch Pech dazu: Am vergangenen Freitag funktionierte eine von Boeing für die NASA entworfene Weltraumkapsel nicht wie geplant, der Börsenkurs sackte ab, die Presse reagierte mit hämischen Kommentaren. All das konnte ein so angeschlagener Spitzenmanager kaum auf dem Chefsessel überleben.
Jahrelange Fehlentscheidungen
Doch auf dem zweiten Blick liegen die Ursachen des Boeing-Dramas tiefer - und vor allem länger zurück. Sie haben Managergenerationen vor Muilenburg begonnen, der erst seit Juli 2015 an der Spitze des Konzerns stand. Bis Ende der Neunzigerjahre war Boeing eher ein von Ingenieuren getriebenes Unternehmen. Das änderte sich nach der Übernahme des US-Konkurrenten McDonnell Douglas 1997 und dem Umzug der Firmenzentrale nach Chicago fünf Jahre später.
Der damalige Konzernchef Harry Stonecipher und sein Nachfolger Philip Condit fanden, dass der Flugzeugbau im Vergleich zu anderen Branchen viel zu wenig abwirft. Beide versuchten verstärkt ins Dienstleistungsgeschäft vorzustoßen, wo sie sich höhere Umsätze und Gewinne versprachen. "Als Anleger investieren Sie doch lieber in Unternehmen, die bis zu 20 Prozent statt vier bis sechs Prozent pro Jahr wachsen", bekannte Stonecipher 2001 gegenüber dem SPIEGEL.
Rentabilität und ein möglichst hoher Börsenkurs wurden fortan zum Maß aller Dinge. Beim neuen Langstreckenjet Boeing 787 ("Dreamliner") etwa wurde zunächst ein Großteil der Produktion an Zulieferer ausgelagert, um Geld zu sparen und das Aktionärsvermögen zu schonen. Das Experiment schlug fehl, die Kunden mussten monatelang auf ihre bestellten Maschinen warten und die Arbeiten wieder ins Stammhaus zurückverlegt werden. Trotzdem wurde auch weiterhin bei den Entwicklungskosten für neue Flugzeuge geknapst.
Üppige Dividenden
Boeing bunkerte die Mittel lieber und verwendete sie für üppige Dividendenzahlungen sowie den Rückkauf eigener Aktien, auch aus Eigeninteresse. Schließlich besaßen Spitzenmanager selbst Boeing-Aktien und bekamen Optionen auf Anteilsscheine im Rahmen ihres Gehalts. Allein zwischen Anfang 2013 und Frühjahr 2019 gaben sie dafür mehr als 60 Milliarden Dollar aus. Das trieb den Börsenkurs in ungeahnte Höhen, weil sich die Ausschüttungen auf immer weniger Aktien verteilten. Als Folge hoben auch die Vorstandsgehälter ab. Muilenburg etwa erhielt im Jahr 2018 stolze 23,3 Millionen Dollar. Allein 13 Millionen davon stammen aus Boni, die sich unter anderem nach dem Gewinn pro Aktie richten.
Um den Ertrag möglichst stabil zu halten und Ausreißer nach unten zu vermeiden, was auf die Vergütung hätte durchschlagen können, nutzte der US-Konzern zudem ein raffiniertes Rechnungslegungssystem, das sogenannte "Program Accounting". Es erlaubt Boeing bis heute - anders als dem Konkurrenten Airbus -, die Anlaufkosten eines Flugzeugprogramms gleichmäßig auf die gesamte Laufzeit und die zu erwartende Zahl der verkauften Maschinen zu verteilen. Selbst für die ersten, in der Regel noch nicht rentablen Jets einer Serie, darf das Unternehmen einen fiktiven Gewinn ansetzen, bei den letzten ausgelieferten Exemplaren eines Flugzeugtyps bleibt dann etwas weniger hängen.
Fallen unerwartete Zusatzausgaben an, läßt sich einfach die erwartete Gesamtzahl der Verkäufe nach oben setzen, auf die sich die Kosten beziehen. So lassen sich lästige Abschreibungen vermeiden, die den Gewinn drücken könnten. Die US-Börsenaufsicht SEC hatte bereits Anfang 2016 Ermittlungen aufgenommen, ob Boeing seinen Gestaltungsspielraum im Rahmen des Program Accounting überstrapaziert und die Märkte getäuscht hat. Die Untersuchungen verliefen im Sande.
Der Lebenslauf des Neuen lässt keine Kehrtwende erwarten
Das schnelle Durchpeitschen der Markteinführung der Boeing 737 Max ist nur ein weiteres Symptom für die Hybris eines Konzerns, dem die Rendite über vieles geht. Kurzfristig ging das Konzept auf: Während Boeing 2018 beim Umsatz erstmals die Marke von 100 Milliarden Dollar durchbrach, brachte es Airbus "nur" auf 75 Milliarden. Beim Gewinn und Börsenwert lag Boeing noch 2018 ebenfalls deutlich vor Airbus. Rund 5000 Bestellungen sollen für die Boeing 737 Max vorliegen. Bislang ist kaum eine davon bezahlt, weil die vollständige Rechnung normalerweise erst beglichen wird, wenn die Maschinen ausgeliefert sind. Das Geld fehlt nun in der Kasse.
Muilenburgs Nachfolger Dave Calhoun hat einen Abschluss im Rechnungswesen. Zumindest seine Vita deutet nicht darauf hin, dass er grundlegend mit der Orientierung am Kapitalmarkt bei Boeing brechen könnte und das Unternehmen wieder zu einer Firma macht, bei der die Ingenieurskunst im Zentrum allen Strebens steht. Er ist noch Mitglied des Managements von Blackstone, jener milliardenschweren Beteiligungsfirma, die einst als Sinnbild für das stand, was der damalige SPD-Chef Franz Müntefering mit dem Begriff "Heuschrecke" schmähte.