
Boomland Brasilien Die neue Weltmacht wackelt
Hamburg - Wie sich die Zeiten in Brasilien geändert haben. Vor wenigen Jahren musste der Internationale Währungsfonds (IWF) dem Land helfen - heute besitzt der größte Staat Südamerikas Devisenreserven im Wert von 200 Milliarden Dollar. Und unterstützt den IWF, damit dieser anderen Krisenstaaten helfen kann.
Den Aufstieg vom Underdog zum Superstar der Weltbühne verdankt Brasilien einem kräftigen Wirtschaftswachstum seit 2002. Allein in diesem Jahr liegt das Plus bei rund sieben Prozent. Und die Zukunft sieht hervorragend aus: 2014 kommt die Fußball-WM nach Brasilien, 2016 finden die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro statt. Bis dahin dürfte das Land laut Prognosen der Weltbank in die Liga der fünf größten Wirtschaftsmächte aufgestiegen sein.
Brasiliens Boom wird oft dem seit acht Jahren amtierenden Präsidenten Lula zugerechnet, dessen zweite Amtszeit nun zu Ende geht und der nicht wiedergewählt werden kann. Dabei hat nicht er die Grundlagen geschaffen, sondern sein Vorgänger Henrique Cardoso.
Er besiegte die Hyperinflation. Er sanierte den Haushalt. Er entwarf eines der weltweit größten Sozialprogramme, um Millionen Menschen aus der Armut zu befreien. Die Ernte dieser Saat fuhr Lula ein. Heute ist Cardoso einer der letzten Politiker, die den Präsidenten noch kritisieren. "Lula hat das Land betäubt", sagte er kürzlich. Brasilien befinde sich auf dem Weg in den Staatskapitalismus.
Doch nur wenige wollen solche Sätze hören. Vier von fünf Brasilianern unterstützen Lula, der sein Amt zum 1. Januar 2011 abgibt. Seine wahrscheinliche Nachfolgerin , die an diesem Sonntag aller Voraussicht nach gewählt wird, wäre ohne Lulas Unterstützung chancenlos gewesen.
Seiner Wunschkandidatin hinterlässt der Förderer allerdings kein leichtes Erbe. Lula ist so beliebt, weil er die schönen Reformen machte. Die wichtigen, schmerzhaften aber unterließ er. Die Wirtschaft mag trotzdem gewachsen sein. Aber Brasilien könnte schon viel weiter sein, sagt ein deutscher Unternehmer, der lange in dem Land gearbeitet hat - und mit seiner Meinung nicht alleine steht.
Rohstoffexporte statt Industrieaufbau
Brasiliens Exportsektor etwa profitiert vor allem von steigenden Rohstoffpreisen. Unter Lula ist das Land zu einem der wichtigsten Agrarexporteure der Welt aufgestiegen. Im Land erstrecken sich Zuckerrohrplantagen auf einer Fläche von gut 70.000 Quadratkilometern, 200 Millionen Rinder grasen auf Weiden. Unter Brasiliens Bergen schlummern gewaltige Eisenerzvorräte.
Der Aufbau des Industriesektors kommt dagegen nur in einigen Branchen voran. So ist das Unternehmen Embraer inzwischen nach Boeing und Airbus der drittgrößte Flugzeugbauer der Welt. In anderen Sektoren aber exportiert das Land oft einfach den Rohstoff, anstatt ihn weiterzuverarbeiten und Produkte mit Mehrwert zu verkaufen. Brasiliens Handelsbilanz ist entsprechend schlecht: Die Exporte machen nur etwas mehr als zehn Prozent der Wirtschaftsleistung aus.
Der Ausbau der heimischen Industrie ist eine der großen Aufgaben für Lulas mutmaßliche Nachfolgerin. Ein Monsterprojekt steht schon an: In der Tiefsee vor Brasiliens Küsten liegen Quellen mit geschätzt 8000 bis 12.000 Milliarden Liter Öl, die der Staat anzapfen will. So soll der Energiekonzern zum viertgrößten Ölproduzenten der Welt aufsteigen.
Mit den Exportgewinnen sollen andere Bereiche der Wirtschaft angekurbelt werden - die Petrochemie, die Werften und zahlreiche auf die Ölindustrie ausgerichtete Dienstleister. Zehntausende neue Jobs verspricht sich die Regierung davon.
Brasilien muss nicht nur Firmen aufpäppeln, sondern seine marode Infrastruktur modernisieren. Häfen, Straßen und Stromleitungen brauchen fast überall im Land eine Generalüberholung. Doch dafür fehlen oft Investoren. Was nicht zuletzt an grotesken Genehmigungsprozessen und dem verworrenen Steuersystem liegt. Bürokratieabbau - auch dieses Projekt muss der neue Präsident verfolgen. Und das Bildungssystem verbessern, um den wachsenden Fachkräftebedarf zu decken. Derzeit gehen die meisten Brasilianer gerade mal sieben Jahre zur Schule. In der Pisa-Studie belegte das Land im Fach Mathematik nur den 54. Platz unter 57 Ländern.
Subventionierte Binnenmarktblüte
Ähnliche Impulse braucht die Binnenkonjunktur. Denn der Aufschwung trägt sich nicht selbst - obwohl die Entwicklung der vergangenen Jahre beeindruckend ist. In Metropolen wie São Paulo werden überall Einkaufszentren gebaut; an den Flughäfen besteigen viele Brasilianer zum ersten Mal ein Flugzeug - die Zahl der Inlandspassagiere nahm zwischen Februar 2009 und Februar 2010 um mehr als 40 Prozent zu. Mehr als 21 Millionen Menschen entkamen in den Lula-Jahren der Armut. Sie wurden zu Konsumenten und lebten ihre neu gewonnene Kauffreiheit begeistert aus.
Doch der Boom wird stark vom Staat subventioniert. So weitete Lula die Sozialreform seines Vorgängers Cardoso noch deutlich aus. Eltern, die nachweisen, dass ihre Kinder zur Schule gehen, bekommen jeden Monat umgerechnet gut hundert Euro vom Staat. Zwölf Millionen Haushalte profitieren von dem Programm, insgesamt erhält gut ein Viertel der Bevölkerung in der einen oder anderen Form Sozialhilfe. "Die Schere zwischen Arm und Reich schließt sich", sagte der Armutsforscher Ricardo Paes des Barros kürzlich dem SPIEGEL.
Andere Ökonomen sind kritischer. Sie bezweifeln, dass ein Staat Armut per Gesetz abschaffen kann, indem er den Bedürftigen Geld gibt. Denn so kurbelt die Regierung dauerhaft den Konsum an. Immerhin aber befeuert dieser künstliche Boom den Einzelhandel. Doch sobald die gigantischen Sozialprogramme zurückgefahren werden, platzt die Konsumblase.
Aufbruch in die Privatisierung?
Lula selbst präsentierte sich oft als Schöpfer einer neuen sozialen Ordnung. Doch der von ihm angestoßene Staatskapitalismus hat Schattenseiten. Gegen rund 150 Abgeordnete und gut 20 Senatoren wird derzeit ermittelt, meist wegen Korruption.
In seinen Reden sprach Lula oft von autoestima, von einem neuen Selbstwertgefühl, das Brasilien dringend braucht, wenn es sich zur Supermacht aufschwingen will. Zu viel Selbstbewusstsein allerdings macht den Menschen blind gegenüber Problemen - und taub gegenüber Kritikern, die auf die Probleme hinweisen. Schon jetzt rächt sich, dass Lula manche Probleme nicht angegangenen hat. "Die brasilianische Wirtschaft wird in den kommenden Jahren nur noch um vier bis fünf Prozent wachsen", prognostizierte etwa Ilan Goldfajn, Chefökonom beim Finanzkonzern Itau Unibanc, kürzlich in der "Financial Times Deutschland".
Vielleicht ist es gut, dass der Boom abflaut. Brasiliens nächster Staatschef hat so eine Chance, die verschobenen Reformen von "Lula Superstar" anzugehen.