Brexit-Folgen Doppelschlag gegen Deutschlands Firmen

Ein ungeordneter EU-Austritt Großbritanniens rückt näher, das würde auch Tausende deutsche Firmen treffen. Welche Probleme drohen? Wie schlimm wären die Folgen? Und welche Lösungen gibt es? Der Überblick.
Fahne der Europäischen Union in London

Fahne der Europäischen Union in London

Foto: Dominic Lipinski/ dpa

Der Autohersteller BMW zieht in einem britischen Werk die Sommerpause auf den Brexit-Termin vor. Der Logistikkonzern Dachser aus Kempten vergrößert schon mal sein Team für Zoll-Bürokratie. Und BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang schimpft, dass in Großbritannien "die Hysterie gewonnen" habe.

Seit das britische Unterhaus den Brexit-Plan von Premierministerin Theresa May abgeschmettert hat, steigt die Unruhe in deutschen Unternehmen. Konzernstrategen versuchen immer wieder, dieselbe große Frage zu beantworten.

Sie lautet: Kommt es am 29. März zum sogenannten harten Brexit, der viele Personal-, Logistik- und Finanzierungsstrukturen durcheinanderwirbelt? Oder entwickeln die EU und Großbritannien doch noch irgendeinen Ressourcen schonenderen Deal? Und was heißt das dann für die Unternehmen? Ist ein Notbetrieb nötig?

Solche Fragen dürften sich gerade viele Unternehmer stellen - unter anderem all jene Firmen mit Sitz in Deutschland, deren Produktionsabläufe, Exporte oder Finanzierungen mit dem Vereinigten Königreich verflochten sind. Ihre Zahl lässt sich seriös kaum beziffern, sie dürfte aber in die Tausende gehen. Hinzu kommen die etwa 2500 deutschen Firmen oder Firmenableger, die in Großbritannien Produkte herstellen.

Das Problem ist, es auf die Frage, wie der Brexit ausgeht, noch immer keine belastbare Antwort gibt. Firmenstrategen können nur die Problemfelder umreißen, die sich aus einem harten Brexit für ihr Unternehmen ergeben würden. Im Kern sind es zwei: die Angebots- und die Nachfrageseite.

1. Angebot

Fährterminal in Dover

Fährterminal in Dover

Foto: Dan Kitwood/ Getty Images

Den Chemie- und Pharmakonzern Bayer treibt ein Schreckensszenario für den ungeordneten Brexit um: Endlose Kolonnen von Lastwagen stauen sich vor den Fährhäfen am Ärmelkanal und vor dem Eurotunnel. Die Fahrer haben teils verderbliche Waren in ihren Kühlcontainern, aber vor dem Schlagbaum geht nichts mehr.

In langen Schlangen warten die Lkw vor den kleinen Abfertigungshäuschen des Zolls. Darunter auch die Lastwagen von Bayer, die Kontrastmittel für die Diagnose von Krankheiten beim Röntgen auf die Insel schaffen sollen. Da Kontrastmittel nur begrenzt haltbar ist, drohen die Lieferketten des Unternehmens durcheinander zu geraten.

Störfaktoren: Das Beispiel Bayer zeigt, wie neue Zollkontrollen die Lieferketten deutscher Firmen belasten könnten. Betroffen wären sowohl jene Firmen, die Produkte ins Vereinigte Königreich einführen, als auch deutsche Unternehmen, die Waren auf der Insel produzieren und diese auf dem EU-Festland verkaufen.

Zudem gibt es noch einen zweiten Störfaktor für die Lieferketten. Manche Produkte wie Chemikalien und Rüstungsgüter unterliegen, wenn sie in die EU eingeführt werden, strengen Zulassungsbeschränkungen. Deutsche Unternehmen, die auf der Insel solch sensible Waren produzieren, sorgen sich, dass ihre Exporte nach dem Brexit von einem Tag auf den anderen ihre Zulassung verlieren.

Folgen: Was das konkret bedeutet, unterscheidet sich von Unternehmen zu Unternehmen stark - je nachdem, wie wichtig Großbritannien im Einzelfall ist. Wenn es hart kommt, stoppt die komplette Produktion.

Vor einem solchen Risiko hat etwa die Firma BMW gewarnt, weil eines ihrer Motorenwerke in Großbritannien stark auf Teile aus EU-Ländern angewiesen ist. Fehlen diese Teile, dann können letztlich auch manche von den Autos in deutschen BMW-Fabriken nicht mehr fertiggestellt werden.

Nach Einschätzung von Michael Hüther, dem Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts IW Köln, wird es aber vielen Firmen mittelfristig gelingen, Störungen in den Lieferketten zu reduzieren oder ganz zu beheben. "Die meisten Firmen sind flexibel genug, sich umzustellen", sagt er.

Lösungen: Ein großer Teil der deutschen Firmen hat längst Pläne entwickelt, um Störungen im Produktionsablauf zu minimieren. BMW etwa will im Fall eines harten Brexits rasch die eigenen IT-Systeme und die dazugehörige Logistik anpassen. Viele Firmen werden zudem ihre Lieferketten umstellen und wichtige Teile, wo es geht, aus anderen EU-Ländern importieren. Manche haben damit bereits begonnen .

In der Umstellung der eigenen Logistik liegt auch eine Chance. Manche Unternehmen könnten durch den Brexit dazu bewegt werden, die eigenen Lieferketten grundsätzlich zu überdenken und sie moderner und effizienter zu machen. Sie könnten dadurch insgesamt stärker und konkurrenzfähiger werden.

Firmen, die von bestimmten Zulassungen abhängig sind, hoffen zudem auf Ausnahmegenehmigungen, damit sie ihre Produkte auch künftig in die EU einführen können.

Auch Bayer hat für den Fall eines harten Brexits bereits Vorsorge getroffen: Der Chemie- und Pharmakonzern hat größere Lagerflächen für Medikamente eingerichtet, sowohl in Großbritannien als auch diesseits des Kanals. "Die Vorräte in Großbritannien müssen aufgestockt werden", sagt ein Sprecher. Nur für die wenig haltbaren Kontrastmittel gibt es noch keine wirklich gute Lösung.

2. Nachfrage

Frankfurter Börse

Frankfurter Börse

Foto: Thomas Lohnes/ Getty Images

Waschbecken und Badewanne aus weißer Emaille, die Dusche mit viel Glas und Armaturen aus Stahl: Der Fertigbadhersteller Deba bietet einen Komplettservice von der Toilette über die Heizung bis zu den Kacheln für Fußböden, Wände und Decken an.

Das mittelständische Unternehmen beliefert Hotels, Krankenhäuser und Wohnanlagen in hoher Stückzahl. Vor allem in Großbritannien: Dort macht die Firma Deba 70 Prozent ihres Umsatzes. Gerade fertige man für 1300 Wohnquartiere in London Fertigbäder, sagt Geschäftsführer Dietrich von Gruben.

Unpassend also, dass nun der ungeordnete Brexit droht. "Grob geschätzt rechnen wir mit Anpassungskosten von einer Million Euro", sagt von Gruben. Dann müssten alle Kapazitäten heruntergefahren werden.

Bleiben Warenlieferungen an der Grenze hängen, wird es womöglich noch drastischer: "Im schlimmsten Fall können wir bestehende Aufträge nicht mehr erfüllen", sagt der Unternehmenschef. Bei Verzug auf der Baustelle drohten hohe Kosten, bei Lieferschwierigkeiten würden Kunden abspringen.

Die Firma Deba ist ein Extremfall, doch er zeigt, was auch viele andere deutsche Firmen fürchten. Sie sorgen sich, dass ihr fünftwichtigster Absatzmarkt einbricht.

Störfaktoren: Drei Faktoren spielen dabei eine zentrale Rolle. Erstens würden auf deutsche Exporte in Richtung Großbritannien bald Zölle erhoben. Laut IW Köln dürften für deutsche Firmen zusätzliche Kosten von rund drei Milliarden Euro entstehen, allein 60 Prozent davon müssten die deutschen Autobauer tragen.

Zweitens dürfte der Wert des britischen Pfunds gegenüber dem Euro sinken. Produkte aus der Eurozone würden dadurch für britische Verbraucher teurer. Produkte deutscher Hersteller mit Sitz in Großbritannien, die in die EU exportieren, würden dagegen billiger.

Viele Ökonomen fürchten drittens, dass die britische Wirtschaft nach dem Brexit in eine Rezession rutscht. Die Kunden deutscher Exporteure würden in der Folge weniger Geld ausgeben.

Folgen: Die Hauptangst der betroffenen deutschen Firmen ist, dass ihre Kunden weniger oder gar keine Waren mehr kaufen, weil diese ihnen zu teuer sind oder weil sie sich insgesamt weniger leisten können.

Aber wie groß ist das Ausmaß des möglichen Schadens? Im Jahr 2017 exportierten deutsche Firmen Waren im Wert von fast 85 Milliarden Euro ins Vereinte Königreich. Das entsprach etwa 6,6 Prozent aller deutschen Ausfuhren. Nach Berechnungen des IW Köln  könnten sich die Ausfuhren im allerschlimmsten Fall halbieren.

Die Belastung jeder einzelnen Firma hängt davon ab, wie stark ihr Engagement in Großbritannien ist. Und davon, wie gefragt ihre Produkte in anderen Ländern sind. Viele dürften den Brexit überstehen.

Lösungen: Im Falle neuer Zölle dürften einige Firmen die Preise erhöhen, um die höheren Produktionskosten auf ihre Kunden abzuwälzen. Zudem werden viele wohl ihre Warenströme nach und nach in andere Absatzmärkte lenken.

Einige Unternehmen haben damit längst begonnen: Seit dem Brexit-Votum im Juni 2016 sind die deutschen Ausfuhren nach Großbritannien gesunken. 2017 gingen sie im Vergleich zum Vorjahr um knapp zwei Prozent zurück, während die Ausfuhren in den Rest der Welt um knapp fünf Prozent zunahmen.

Selbst die Firma Deba, die der Brexit besonders hart träfe, zeigt sich optimistisch, bald andere Märkte zu beliefern: "Wir sind als Unternehmer beweglich", sagt Firmenchef von Gruben, "und werden eine Lösung finden."

Fazit: Damit müssen die Unternehmen beim Brexit rechnen

Demonstranten in London

Demonstranten in London

Foto: Frank Augstein/ dpa

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass ein harter Brexit sowohl Auswirkungen auf das Angebot deutscher Unternehmen haben dürfte als auch auf die Nachfrage am britischen Absatzmarkt. Und dass sich diese beiden Bereiche wiederum wechselseitig beeinflussen.

Denn wenn deutsche Produkte plötzlich teurer würden oder nicht mehr pünktlich einträfen, dann könnte das dazu führen, dass sich britische Kunden vermehrt nach Konkurrenzangeboten umsehen. Und falls die Einnahmen deutscher Firmen wegen einer sinkenden Nachfrage zurückgehen, hätten sie womöglich weniger Geld, um die Qualität ihrer Waren zu verbessern und die Produktion auszubauen.

Klar ist allerdings auch: Die vielen Tausend betroffenen deutschen Unternehmen würden sehr unterschiedlich unter einem harten Brexit leiden. Für manche dürfte die Umstellung eine ernsthafte Bedrohung sein. Andere könnten den Brexit gar als Chance begreifen, um langfristig sogar stärker zu wachsen als jetzt.

Für die meisten Unternehmen dürfte der Brexit in die Kategorie "Ärgernis" fallen. Insgesamt dürfte das deutsche Bruttoinlandsprodukt nach Berechnungen mehrerer Forschungsinstitute und Wirtschaftsverbände nur um einige wenige Zehntel Prozentpunkte sinken.

"Es gibt zwar keine konkreten Zahlen dazu", sagt IW-Köln-Chef Hüther. "Aber es ist davon auszugehen, dass die Anpassungskosten für die meisten Firmen zu stemmen sind." Es sei nur ärgerlich, dass den Unternehmen dieses Geld für sinnvollere Investitionen fehle.

Die wirtschaftlichen Folgen des Brexits sind also für Deutschland überschaubar. Dasselbe dürfte für die meisten anderen EU-Länder gelten. Das einzige Land, dem durch den Brexit eine Rezession droht, ist Großbritannien selbst.

Mit Schadenfreude sollten sich die Europäer zurückhalten. Denn der Brexit hat nicht nur wirtschaftliche Folgen. Die politischen und gesellschaftlichen Probleme, die durch ihn entstehen, sind gravierender, deren langfristige Wirkung noch kaum abzusehen. Und das könnte auf lange Sicht ebenfalls negative Folgen für die Wirtschaft haben.

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