Coronavirus in Schlachthöfen Das unsichtbare Leiden der Niedriglöhner

In einer Fleischfabrik in Coesfeld wächst die Zahl der mit dem Coronavirus infizierten Arbeiter rasant. Auch in anderen deutschen Schlachthöfen häufen sich die Infektionen. Wird jetzt überall getestet?
Pastor Peter Kossen (links) bei einer Mahnwache vor dem Schlachthof der Firma Westfleisch

Pastor Peter Kossen (links) bei einer Mahnwache vor dem Schlachthof der Firma Westfleisch

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Bischöfliche Pressestelle / Gudrun Niewöhner.

"Moderne Sklaverei beenden!", hat der Pastor mit roter Farbe auf das Holzschild geschrieben. Jetzt hält er es hoch vor dem Schlachthof.

Samstagmorgen in Coesfeld/Westfalen: Peter Kossen, 51, kurzgeschorenes graues Haar, hellblaue Mund-Nase-Maske, schwarze Soutane, steht vor dem Westfleisch-Werk: der Fleischfabrik, unter deren 1200 Beschäftigten schon mehr 200 Coronavirus-Infektionen festgestellt wurden. Neben Kossen zeigt ein Mitstreiter ein zweites Schild: "Würde und Gerechtigkeit statt Ausbeutung".

Kossen ist zu einer Mahnwache hergekommen. Seit Jahren setzt sich der katholische Sozialpfarrer aus dem nahe gelegenen Ort Lengerich für Arbeitsmigranten in der Fleischindustrie ein. Wie "Wegwerfmenschen" würden diese Leiharbeiter von vielen Großschlachtereien behandelt, sagt Kossen später im Gespräch mit dem SPIEGEL. "Sie werden verschlissen und beliebig ausgetauscht. Was wir jetzt hier in Coesfeld oder in Oer-Erkenschwick oder in Schleswig-Holstein erleben, ist eine Katastrophe mit Ansage."

Corona deckt eine dunkle Seite der Branche auf

Kaum eine Branche ist so skandalumwittert wie die Fleischindustrie. Ob BSE, Gammel- und Pferdefleisch oder Listerien in der Wilke-Wurst - all das haben die Unternehmen ausgesessen und ihre Produkte weiter an die Verbraucher gebracht. Doch nun deckt das Virus eine zweite, dunkle Seite des Sektors auf, über die Politiker, Behörden und Konsumenten großzügig hinweggesehen haben: die Behandlung der Arbeitsmigranten aus Rumänien oder Bulgarien.

Ohne die geht seit der EU-Osterweiterung nichts mehr in vielen deutschen Schlachthöfen. Mehr als 600 Beschäftigte in der Fleischindustrie sind nach SPIEGEL-Recherchen bereits positiv auf das Coronavirus  getestet worden. In beengten Unterkünften und beim Transport in Bullis zur Arbeit können sich die Niedriglöhner kaum schützen vor dem Virus.

Am Freitag ist die vorerst letzte Schicht bei Westfleisch Coesfeld zu Ende gegangen. Nun steht die Schlachtfabrik erst einmal still: So hat es der Landrat des Kreises Coesfeld angeordnet. Christian Schulze Pellengahr (CDU) musste die Notbremse ziehen. Noch am Donnerstag hatte es geheißen, der Betrieb, in dem jährlich mehr als 2,5 Millionen Schweine zerlegt werden, sei "systemrelevant".

20.000 Schlachthofarbeiter werden auf das Virus getestet

Aber tags darauf, als der Kreis den Corona-Grenzwert von mehr als 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner riss und bundesweit in die Schlagzeilen geriet, startet Nordrhein-Westfalens Landesregierung  die Kehrtwende. Sie gab bekannt: Das Werk wird geschlossen.

"Das Infektionsgeschehen im Betrieb beschränkt sich nach meinem Kenntnisstand nicht mehr nur auf einen Teilbereich des Unternehmens, sondern geht darüber hinaus", erklärt Schulze Pellengahr gegenüber dem SPIEGEL. "Wir haben die Schließung verfügt, um das Infektionsgeschehen zu unterbinden."  Der Kreis Coesfeld muss das Gros der für diesen Montag geplanten Corona-Lockerungsmaßnahmen nun um mindestens eine Woche aufschieben.

Die NRW-Landesregierung versucht indes, das Virus einzudämmen: indem sie alle Schlachthöfe checkt. Nicht nur die rund 1200 Mitarbeiter von Westfleisch Coesfeld und die des Schwesterbetriebes in Oer-Erkenschwick werden getestet. Sondern alle bis zu 20.000 Beschäftigten sämtlicher Schlachthöfe in Nordrhein-Westfalen.

"Die anderen Bundesländer dürfen nicht länger warten."

Peter Kossen, Pastor aus Lengerich

Schleswig-Holstein hat mittlerweile ebenso umfassende Tests angekündigt. Hier sind in einem Schlachthof in Bad Bramstedt (Kreis Bad Segeberg) mindestens 119 Mitarbeiter Sars-CoV2-positiv. Niedersachen will laut Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) gezielt bestimmte Betriebe überprüfen, die Mitarbeiter unternehmensintern über Landesgrenzen hinweg hin- und herschieben. Diese Praxis werde so nicht weitergehen, sagte Weil dem NDR. Und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat die Bundesländer "eindringlich" aufgefordert, angesichts der neuen Corona-Fälle den Arbeitsschutz für Saisonarbeiter in Landwirtschaft und Fleischindustrie streng zu kontrollieren.

"Die anderen Bundesländer dürfen nicht länger warten", sagt Pfarrer Kossen. "Sie müssen bundesweit alle Mitarbeiter der Schlachthöfe auf das Coronavirus testen. Und sie müssen die Arbeitsbedingungen überprüfen. Denn die Strukturen sind überall ähnlich."

Vielerorts hausen die Arbeitsmigranten in Unterkünften, in denen sie die derzeitigen Corona-Hygieneregeln gar nicht einhalten können. Oft teilen sich drei bis sechs Menschen einen Raum; zu den Fabriken werden sie in Kleinbussen oder Bullis transportiert. Abstand halten ist da fast unmöglich. Und im Betrieb leisten die Arbeitsmigranten dann stundenlang körperliche Schwerstarbeit. "Sie sind oft völlig erschöpft und haben keinen Platz, wo sie sich zwischen den Schichten regenerieren können", sagt Kossen. "Das macht diese ausgelaugten Menschen anfällig für solche Erreger."

Ein Westfleisch-Sprecher erklärte auf Anfrage des SPIEGEL: "Unserer Verantwortung sind wir uns vollkommen bewusst." Man stehe mit den Beschäftigten "in engem Austausch", berate und helfe ihnen. Die Produktionsmitarbeiter seien "mehrheitlich in Wohnungen mit drei, vier oder fünf Personen" untergebracht; Schutzmaßnahmen würden streng nach den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts angepasst. Dazu zählten unter anderem "das Tragen eines Mund- und Nasenschutzes bereits beim Betreten des Betriebsgeländes, die Arbeit in klar abgegrenzten Kleingruppen, erweiterte Schutzbekleidungsbestimmungen, zusätzliche Hygienestationen und wiederkehrende und mehrsprachige Hinweise auf die Bedeutung von Hygiene- und Verhaltensmaßnahmen - im betrieblichen und privaten Umfeld".

Eilantrag gegen die Schließung abgelehnt

Tatsache ist: Zumindest im Coesfelder Westfleisch-Werk wurde auch in der Produktion der Mindestabstand nicht gewahrt. Wie das Amt für Arbeitsschutz der Bezirksregierung Münster bei einer Überprüfung herausfand, gab es sowohl im Bereich des Zerlegebandes als auch in den Umkleiden Probleme, die 1,50 Meter Abstand einzuhalten. Zudem sei der bereitgestellte Mund- und Nasenschutz am Zerlegeband nicht korrekt getragen worden.

Westfleisch ist unterdessen vor Gericht gezogen - und hat einen Eilantrag gegen die Schließung eingereicht. Den aber hat das Verwaltungsgericht Münster am Samstag abgelehnt. Die Coesfelder Fleischfabrik ist dicht; in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein werden jetzt alle Schlachthöfe getestet. Und die Regierungschefs der 14 übrigen Bundesländer geraten immer mehr unter Druck nachzuziehen. "Es wäre höchste Zeit", sagt Pfarrer Kossen.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version war Bad Bramstedt versehentlich dem Kreis Steinburg zugeordnet, die Stadt gehört aber zum Kreis Segeberg. Wir haben die Stelle geändert.

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