Bestellboom bei Amazon Packen am laufenden Band - trotz Corona

Amazon-Sortierzentrum in Garbsen (Archivbild): Gespräche mit einem guten halben Dutzend Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen
Foto: Peter Steffen/ picture alliance/dpaEs ist ein sonniger Montagnachmittag in Winsen, doch auf den Straßen ist kaum jemand zu sehen. Auf dem Bahnhofsvorplatz stehen zwei Frauen und warten auf einen Bus, getrennt und mit großem Abstand zueinander. Der Platz ist fast völlig still. Plötzlich rauschen mehrere Busse heran, für Corona-Zeiten auffallend dicht besetzt, wenn auch nicht brechend voll. Manche der Mitfahrenden haben sich einen Schal oder ihren Pullover über Mund und Nase gezogen, einige wenige tragen auch eine Atemschutzmaske. Bei Amazon ist wieder eine Schicht vorbei.
Sobald die Busse halten und ihre Türen öffnen, springen einige der insgesamt mehr als 100 Fahrgäste raus und rennen los, um den Zug in Richtung Uelzen zu erwischen, der vom etwas weiter entfernten Gleis fährt. Die anderen bewegen sich gemächlich als große Gruppe zum Bahnsteig. Gleich werden sie in den Regionalzug nach Hamburg steigen.
Amazon betreibt im niedersächsischen Winsen (Luhe) ein riesiges Logistikzentrum. Es dient laut dem Onlinehändler "als Verkehrs- und wirtschaftlicher Knotenpunkt für Nordeuropa", rund 1800 Mitarbeiter arbeiten dort, viele gehen täglich ein und aus - auch und gerade jetzt, in der Coronakrise. Man könnte sagen: Sie sind systemrelevant.
Die Pandemie führt dazu, dass viele Menschen ihre Ware fast nur noch online bestellen. Und viele der Abertausenden Pakete, die momentan in die norddeutschen Haushalte gebracht werden, kommen aus Winsen. Noch nie waren Onlinehändler wie Amazon für die Gesellschaft so wichtig wie heute, da derzeit Social Distancing betrieben werden und Abstand gewahrt werden muss, um sich selbst und andere vor dem Virus zu schützen. Aber wie gut sind die Amazon-Mitarbeiter selbst geschützt?
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 90 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Das 64.000 Quadratmeter große Amazon-Zentrum von Winsen steht am Rande eines Gewerbegebiets außerhalb des Städtchens. Shuttle-Busse holen die Mitarbeiter vom Bahnhof und bringen sie nach der Schicht wieder zurück. Derzeit sind die Amazon-Mitarbeiter manchmal die einzigen Menschen auf den Straßen – in großen Gruppen, wie man sie sonst überhaupt nicht mehr sieht. Etwa am späten Sonntagabend, kurz vor 23 Uhr, als sich der fast gespenstisch leere Bahnhofsvorplatz plötzlich für kurze Zeit füllt, bevor wenige Minuten später alle in zwei Bussen verschwinden und zum Logistikzentrum fahren.
Wie die Arbeitsbedingungen dort genau aussehen, lässt sich von außen kaum sagen. Klar ist aber: Auch bei Amazon hat sich durch die Coronakrise der Alltag verändert.
Der SPIEGEL hat mit gut einem halben Dutzend Amazon-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in verschiedenen deutschen Amazon-Zentren gesprochen. Fast alle Befragten haben Sorge, sich selbst anzustecken. Mehrere Winsener Mitarbeiter berichten unabhängig voneinander, es habe im Betrieb bereits mindestens drei Corona-Fälle gegeben. Amazons Pressestelle äußert sich dazu nicht. Mehrere Mitarbeiter berichten aber auch, dass Amazon sich zunehmend bemüht, Ansteckungen zu verhindern und die Angestellten zu schützen, etwa durch strikte räumliche Trennung.
Umstritten ist derweil die Prämie, die Amazon eingeführt hat: Zwei Euro pro gearbeiteter Stunde will der Konzern bis Ende April zusätzlich zum regulären Lohn zahlen, "um den Beitrag der Versandmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in Deutschland und Österreich zu würdigen", wie die Pressestelle erklärt. Mehrere befragte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fürchten, dies könne ein Anreiz für Kranke sein, sich "doch zur Arbeit zu schleppen" - und dort womöglich Kollegen anzustecken. Andere freuen sich über das zusätzliche Geld.
Wenn Mitarbeiter Krankheitssymptome am Arbeitsplatz zeigen, werden sie oft nach Hause geschickt, berichten mehrere. Sie kriegen dann ihren Lohn ebenso weitergezahlt wie Kollegen, die in Risikogebieten waren und denen deshalb vom Unternehmen eine Quarantäne auferlegt wurde.
Amazon warnt seine Leute nicht nur mit Schildern, Abstand voneinander zu halten, sondern versucht auch, mehr räumliche Trennung am Arbeitsplatz zu schaffen. Unter anderem verzichtet der Konzern auf Team-Meetings, auf dem Fußboden sind Markierungen zur Trennung angebracht. In den Kantinen sind Stühle und Tische auseinandergestellt, Essen wird nicht mehr ausgegeben – und an den Ausgangsschleusen wird auf die Kontrollen verzichtet, um keine Menschenstaus zu verursachen. Zudem hat das Unternehmen die Start- und Pausenzeiten der Schichten gestaffelt. Problemzonen gibt es dennoch, berichten Mitarbeiter übereinstimmend. So komme man sich in den Umkleideräumen oft sehr nahe, wo die Spinde eng bei- und übereinander stehen. An der Stempeluhr gebe es Warteschlangen. Und in den Kantinen rückten manche Kollegen ihre Stühle doch eng zusammen, der Geselligkeit halber.
Über die Hygiene am Arbeitsplatz äußerten mehrere Befragte Sorgen. Das Desinfektionsmittel, welches das Unternehmen bereitstelle, töte womöglich keine Viren, wird befürchtet. Nach Recherchen des SPIEGEL ist zumindest das im Werk Leipzig eingesetzte Mittel aber laut Herstellerangaben geeignet für den Einsatz gegen Covid-19. Mangel an Desinfektionsmittel gibt es offenbar ohnehin keinen. Ein Mitarbeiter schnuppert nach der Schicht an seinen Händen: "Ich rieche jetzt noch überall danach." Amazon selbst erklärt, die Mitarbeiter seien angewiesen, oft und mindestens 20 Sekunden lang ihre Hände zu waschen. Zudem würden die Räume häufiger als bisher gesäubert; alle Türgriffe, Treppengeländer, Aufzugtasten, Schließfächer und Touchscreens würden desinfiziert.
Ein Problem sind gerade in Winsen die Busse zwischen Bahnhof und Werk. Die waren Mitarbeitern zufolge bis in die vergangene Woche hinein oft rappelvoll, und auch am Montagnachmittag konnten nicht alle Passagiere die anderthalb Meter Mindestabstand einhalten. Von Amazon heißt es dazu, man setze bereits mehr Fahrzeuge ein und habe die maximale Auslastung von 110 Personen auf 50 reduziert. Von Mittwoch an sollen es noch mal mehr Busse werden, damit nicht mehr als 20 Mitarbeiter gleichzeitig in einem Bus fahren müssen.
Auch sonst verändert sich in den Versandhäusern gerade einiges – wegen der Nachfrage. "Kleidung wird gerade kaum bestellt", erzählt ein Beschäftigter aus Bad Hersfeld. Umso gefragter sind Lebensmittel: "Wir kommissionieren gerade sehr viele Fünf-Minuten-Terrinen, Haferflocken und Toilettenpapier", heißt es aus dem Leipziger Logistikzentrum. "Amazon kauft all das ein, was in den letzten Tagen aus den Supermärkten weggehamstert wurde."
Ebendiese Güter schickt der Konzern dann auch zuerst heraus. Man priorisiere "den Eingang und Versand von Waren, die Kunden aktuell am dringendsten brauchen", sagt ein Sprecher. Es handele sich dabei um "Artikel für den täglichen Bedarf, medizinische Verbrauchsgüter und andere Produkte mit hoher Nachfrage". In Italien und Frankreich liefert der Onlineriese bereits nur noch lebensnotwendige Produkte. Ob das in Deutschland in den nächsten Tagen auch so kommen wird, vermag die Pressestelle nicht zu sagen. Klar wird aber, dass Amazon in diesen Tagen den Grundstein dafür legt, dauerhaft systemrelevant zu werden.