Coronakrise
Deutscher Wirtschaft droht Insolvenzwelle
Der Handel hat in der Krise zu kämpfen. Die Frage sei nicht, ob eine Welle an Unternehmensinsolvenzen kommt – sondern wann, warnen Wirtschaftsexperten.
Essener Innenstadt: Einkaufszentrum Limbecker Platz (Archivbild)
Foto: Olaf Döring / imago images/Olaf Döring
Der Handel rechnet nicht mit einem raschen Ende der Corona-bedingten Ladenschließungen in Deutschland. »Ich fürchte, dass die Läden am 10. Januar noch nicht wieder öffnen dürfen. Denn das Ziel, die Sieben-Tage-Inzidenz bundesweit auf unter 50 zu senken, wird bis dahin wohl nicht zu erreichen sein«, sagte der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE), Stefan Genth, der Nachrichtenagentur dpa.
Der Handel fühlt sich in der Krise alleingelassen. »Die Lage ist wirklich sehr ernst«, erklärte Genth. »Bundesfinanzminister Olaf Scholz kündigt zwar immer Milliardenhilfen an, tatsächlich kommen die Hilfen aber nicht zur Auszahlung, weil die Zugangshürden viel zu hoch sind.« Dadurch habe der Einzelhandel keinen ausreichenden Zugang zu Staatshilfen.
In den nächsten Monaten drohe eine Insolvenzwelle im Einzelhandel, warnte Genth. Viele Handelsunternehmen, die von dem zweimaligen Shutdown betroffen seien, hätten ihr Eigenkapital weitgehend aufgezehrt und benötigten jetzt wirtschaftliche Unterstützung. Andernfalls drohe das Aus »für bis zu 50.000 Geschäfte«.
DER SPIEGEL 1/2021
Die Heilsbringer
Die beiden Biontech-Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin haben der Welt zum Ende dieses Jahres ein Stück Hoffnung geschenkt: Dass die Pandemie zu Ende geht, eine Rückkehr zu einem normalen Leben in Sicht ist. Der von ihnen entwickelte Impfstoff war der erste, der in klinischen Tests eine Wirksamkeit von 95 Prozent aufwies. Millionen Dosen sind nun auf dem Weg in die ganze Welt. Mit dem SPIEGEL sprachen die beiden über ihren Forschungserfolg, über die Frage, ob genug Impfstoff für alle da sein wird – und darüber, wie sie mit dem Rummel um ihre Person zurechtkommen.
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Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, erwartet in Folge der Krise ebenfalls eine Zunahme der Unternehmenspleiten. »Die zweite Welle wird härter«, sagte Fratzscher der »Augsburger Allgemeinen«. »Je länger es dauert, desto mehr Unternehmen kommen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, desto mehr werden pleitegehen.« Die Frage sei nicht, »ob eine Welle an Unternehmensinsolvenzen kommen wird, sondern wann.«
Nach Einschätzung des DIW-Präsidenten droht eine Welle von Unternehmenspleiten, gekoppelt mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit. Dennoch sei es richtig, den Lockdown zu verlängern. Auch für die Wirtschaft müsse es oberste Priorität haben, dass die zweite Infektionswelle möglichst schnell begrenzt werde: »Wirtschaftliche Lockerungen jetzt mögen kurzfristig manchen nutzen, langfristig würden sie jedoch allen schaden.«
Luftfahrt besonders betroffen
Der DIW-Chef warf der Politik Versäumnisse beim Krisenmanagement vor: Deutschland habe sich nicht ausreichend auf die zweite Corona-Welle vorbereitet. So sei beispielsweise bei Schulen das digitale Angebot nicht ausreichend erweitert worden. Zudem habe die Politik zu spät auf die zweite Welle reagiert: »Wenn Bundes- und Landesregierungen auf die zweite Welle frühzeitig Mitte Oktober reagiert hätten, hätte man sicherlich Menschenleben retten und Schaden von der Wirtschaft fernhalten können«, sagte Fratzscher.
Wegen der Corona-Pandemie werden nach Ansicht des Ökonomen Gabriel Felbermayr in Deutschland rund 600.000 Arbeitsplätze verloren gehen. Am härtesten treffe es Bereiche, die bereits vorher einem strukturellen Wandel unterlagen wie die Luftfahrt- und die Tourismusbranche, sagte der Chef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. »Die Luftfahrt müsste in einer dekarbonisierten Welt ohnehin schrumpfen. Da wird durch Corona vieles vorweggenommen, und das nachhaltig.«
So hat etwa Airbus den Abbau von weltweit 15.000 der mehr als 130.000 Stellen angekündigt, 5100 davon in Deutschland. »Wir haben jetzt erst einmal freiwillige Maßnahmen gestartet bis einschließlich März. Bis dahin wird es keine betriebsbedingten Kündigungen geben«, sagte der Deutschlandchef der Airbus Zivilflugzeugsparte, André Walter. Danach könne er Entlassungen jedoch nicht ausschließen.
»Nachhaltig wird die Pandemie den Einzelhandel verändern.«
Gabriel Felbermayr, Chef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft
Bleibende Folgen sieht Ökonom Felbermayr im Tourismus. »Dort wird auch nicht alles wieder gut«, sagte er. »Im privaten Tourismus wird der Rückprall zwar sehr deutlich ausfallen: Die Menschen wollen an die Küsten und in die Berge.« Im Geschäftstourismus gebe es aber einen deutlichen Strukturwandel. »Es wird weniger geflogen und weniger Kongresstourismus stattfinden.« Das treffe vor allem Stadthotels. Stattdessen werde die Onlinekommunikation wichtiger.
»Nachhaltig wird die Pandemie den Einzelhandel verändern«, sagte Felbermayr. Im Zuge der Digitalisierung kauften einige Bevölkerungsschichten erstmals im Internet ein. Die sähen gerade, dass Zahlungen mit Kreditkarte nicht zwangsläufig in einem Betrug endeten und Waren unbeschädigt einträfen. »Manche dieser Vorbehalte werden wahrscheinlich verschwinden. Für den Einzelhandel in den Innenstädten und in Einkaufszentren ist die Krise deshalb auch dann nicht vorbei, wenn das Infektionsgeschehen eigentlich die Rückkehr in die Innenstädte erlaubt.«
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier will Handel und Kommunen mit einem Hilfsprogramm unterstützen, damit Innenstädte angesichts des Onlinebooms attraktiver werden. »Es muss darum gehen, attraktiven, zeitgemäßen Einzelhandel in der Innenstadt zu ermöglichen«, sagte der CDU-Politiker.
Vorbild NRW?
Vorrangiges Ziel müsse es sein, die Geschäfte wieder zu öffnen, sobald dies aus Sicht der Virologen wieder möglich sei, und sie dann auch geöffnet zu halten, sagte HDE-Chef Genth. Fest steht für den Branchenkenner, dass das Einkaufen künftig digitaler wird. Für den stationären Handel sei der stürmische Wandel aber nicht so einfach zu bewältigen.
»Viele Händler versuchen zur Zeit, im Internet ein zweites Standbein aufzubauen, aber das ist enorm schwierig«, betonte Genth. Die größte Schwierigkeit für einen Händler sei es, im Internet gefunden zu werden. »In der Innenstadt geht es um Lage, Lage, Lage. Nicht anders ist es im Internet. Man muss gefunden und wahrgenommen werden.« Für einen Mittelständler sei es jedoch eine große Herausforderung, im Wettlauf mit großen Anbietern überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden. Ein anderes großes Problem sei der harte Preiswettbewerb, der im Internet alles dominiere.
Die Unternehmen benötigten deshalb staatliche Unterstützung. Vorbild dafür könne Nordrhein-Westfalen mit seinen Digital-Coaches sein – Beratern, die zu Unternehmen gehen und sie passgenau bei der Digitalisierung unterstützen. »Das könnten wir uns als bundesweites Modell mit Unterstützung des schon bestehenden Kompetenzzentrums Handel vorstellen«, sagte Genth.
Mit Blick auf die von der Politik angekündigten Hilfen sagte Ökonom Felbermayr, den Umsatzausfall zu ersetzen, sei vielleicht für die Gastronomie geeignet. »Aber wenn Sie im Handel Umsatz ersetzen, dann entsteht die Gefahr einer massiven Überkompensation. Denn der Einzelhandel wird ja Waren, die er im Lockdown nicht verkaufen kann, gar nicht erst einkaufen.« Für diese Unternehmen seien die Hilfen zu großzügig, jedenfalls langfristig.