Pharmaunternehmen und das Coronavirus Was die Impfstoffherstellung so schwierig macht

Im Kampf gegen das Coronavirus hofft die Welt auf einen Impfstoff. Welche Kandidaten sind aussichtsreich? Wer zahlt dafür? Und warum dauert die Entwicklung so lange? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
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Arnd Wiegmann/ REUTERS

Wie viele potenzielle Impfstoffe werden derzeit geprüft?

Die WHO listet - Stand 11. Mai 2020 – 110 Impfstoffkandidaten gegen Sars-CoV-2 , die unterschiedliche Pharmafirmen rund um den Globus erforschen und erproben. Auch Ansätze von Universitäten sind darunter, die selbst noch nie einen Impfstoff hergestellt haben. Zehn davon befinden sich bereits in der Phase I oder II der sogenannten klinischen Prüfung. Das heißt: Sie werden bereits am Menschen getestet.

Welche Voraussetzungen gibt es für eine Impfstoffzulassung?

Damit das in Deutschland zuständige Paul-Ehrlich-Institut einen potenziellen Impfstoff für eine klinische Studie am Menschen zulässt, muss ein Hersteller zunächst Daten vorlegen, dass der Stoff bereits ausreichend präklinisch getestet wurde - etwa in Tierversuchen. Dann muss das Vakzin in drei Phasen klinisch geprüft werden:

Phase I: Der Impfstoff wird einer kleinen Gruppe von freiwilligen Gesunden verabreicht. Es wird beobachtet, ob das Mittel den Zielbereich im Körper erreicht und dabei keine akuten Nebenwirkungen auftreten.

Phase II: Erst wenn die Phase I erfolgreich war, kann der Impfstoff in Phase II einer größeren Teilnehmerzahl verabreicht werden, die der Risikogruppe entstammen. Im Fall von Covid-19 wären das ältere Personen oder Menschen mit Vorerkrankungen. In dieser Phase wird geprüft, ob der Impfstoff wirkt, also die Krankheit verhindert und welche Dosierung geeignet ist.

Phase III: Danach kann der Impfstoff an einer repräsentativen Gruppe von Freiwilligen getestet werden - bis zu zehntausend Probanden werden dabei geimpft. In Phase III werden die Wirksamkeit, die Sicherheit sowie die Dosierung der Impfung bestätigt. Unerwünschte Ereignisse, wie etwa ein besonders schwerer Krankheitsverlauf durch die Gabe des Impfstoffs, können so beobachtet und ausgeschlossen werden.

Welche Ansätze befinden sich in der klinischen Prüfung?

mRNA-Impfstoffe:

Zwei der zehn Unternehmen, deren Impfstoffkandidaten sich bereits in der klinischen Prüfung befinden - die deutsche Pharmafirma Biontech und das US-amerikanische Moderna -, forschen an sogenannten mRNA-Impfstoffen. Messenger-RNA sind Boten im menschlichen Körper, die Informationen über den Bauplan von Proteinen zur Zellmaschinerie transportieren, wo die Proteine gebaut werden.

Bei einem mRNA-Impfstoff gegen Sars-CoV-2 werden die Baupläne für ein Hüllprotein des Virus in den menschlichen Körper gespritzt, sodass die Zellen diese herstellen. In der Folge erkennt der Körper diese als fremd an und produziert in einem passgenau zugeschnittenen Abwehrprozess unter anderem Antikörper. Beim Kontakt mit dem echten Virus kann das Immunsystem diese Schutzpatrouille schnell aktivieren und die Erreger eliminieren.

Bislang ist kein einziger mRNA-Impfstoff zugelassen, es mangelt weltweit an Erfahrung. "Dass RNA-Impfstoffe bisher noch nicht zugelassen wurden, liegt nicht unbedingt daran, dass die Technologie schlecht ist, sondern hängt von unterschiedlichen Faktoren ab", sagte der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, im SPIEGEL-Interview. Es sei auch eine Frage des Geldes, denn die Erforschung neuer Technologien müsse finanziert werden.

Auch für die Massenproduktion von mRNA-Impfstoffen fehlt es an erprobten Vorbildern. Allerdings bauen Experten darauf, dass mRNAs relativ einfach hergestellt werden könnten, weil es sich dabei nicht um komplexe Biomoleküle handelt.

Inaktiviertes Virus (Totimpfstoff)

Die chinesischen Firmen Sinovac und Sinopharm prüfen in drei Instituten die Sicherheit und Wirksamkeit von sogenannten Totimpfstoffen im Kampf gegen Covid-19. Dabei werden die Viren Sars-CoV-2 aus Infizierten isoliert und in Zellkulturen vermehrt, die für die Herstellung von Impfstoffen zugelassen sind. Dann werden sie chemisch und physikalisch inaktiviert, sodass sie sich nicht mehr vermehren können, und dem Menschen gespritzt. Das Immunsystem erkennt die inaktivierten Viren als fremd an und produziert Antikörper. Viele wichtige Impfstoffe basieren auf diesem Prinzip, beispielsweise gegen Tetanus oder Hepatitis B.

Vektorimpfstoffe

Forscher können mithilfe von Gentechnik harmlose Viren als das neuartige Coronavirus "verkleiden". Dafür tauschen sie bestimmte Eiweiße an deren Oberfläche gegen typische Bestandteile des Krankmachers aus. Diese sogenannten Vektorviren gaukeln dem Körper eine Infektion vor, machen aber nicht krank. Die Idee: Wer mit solchen Vektorviren geimpft ist, bildet Antikörper, die auch vor einer echten Infektion schützen. Der erste zugelassene Impfstoff gegen Ebola funktioniert so.

Allerdings handelt es sich bei Vektorimpfstoffen "regulatorisch um gentechnisch veränderte Arzneimittel, was mit erheblichem Zulassungsaufwand verbunden ist", schreibt das "Science Media Center" (SMC). "Vor allem muss das Risikopotenzial des verwendeten Vektors ergründet werden."

Im Kampf gegen Sars-CoV-2 testen die University of Oxford und das chinesische Unternehmen Cansino Biological ihre Impfstoffkandidaten bereits in den ersten beiden klinischen Phasen am Menschen.

DNA-Impfstoffe

Bei einem weiteren Ansatz, den das US-amerikanische Unternehmen Inovio bereits am Menschen untersucht, wird ein DNA-Abschnitt mithilfe eines bakteriellen Plasmids in die menschlichen Zellen eingeschleust. Diese DNA-Sequenz soll das Immunsystem anregen, Antikörper zu produzieren. Allerdings sind dafür meist Wirkverstärker notwendig, die unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringen können. "Bislang sind DNA-Impfstoffe nur in der Tiermedizin zugelassen", schreibt das SMC.

Warum dauert das so lange?

Bislang dauerte es mehr als ein Jahrzehnt, bis ein neuer Impfstoff Marktreife erlangte. Weil er später gesunden Menschen verabreicht werden soll, muss er besonders hohe Sicherheitsprüfungen durchlaufen. Selbst unter der sehr optimistischen Annahme, dass ein oder mehrere Impfstoffkandidaten den Zulassungsprozess bis zum Ende des Jahres erfolgreich durchlaufen haben, wird es voraussichtlich Probleme geben, die Menschen flächendeckend zu versorgen. Denn die Impfstoffe müssen in Massenproduktionen hergestellt werden. Dafür fehlen allerdings die Kapazitäten .

Angenommen, Menschen würden zwei Dosen benötigen, geht es um einen Bedarf von fast acht Milliarden Impfstoff-Dosen, wenn die Hälfte der Weltbevölkerung geimpft werden soll. Experten sprechen von der größten Herausforderungen in der Geschichte der Impfstoffherstellung. Riesige Konzerne wie Sanofi schaffen es derzeit, eine Milliarde Dosen pro Jahr herzustellen - über alle ihre Impfstoffgruppen hinweg. Die anderen Impfstoffe müssten auch weiterhin hergestellt werden - dabei waren Engpässe selbst bei Standardimpfstoffen  in der Vergangenheit branchenweit immer wieder ein Problem.                        

Wer bezahlt die Impfstoffentwicklung?

Das Geschäft mit Impfstoffen wird seit Jahren von vier Herstellern dominiert: GlaxoSmithKline, Merck & Co., Pfizer und Sanofi. Anders als bei Arzneimitteln ist Europa bei der Impfstoffforschung führend; 80 Prozent der Produktion erfolgt ebenfalls in Europa. Mit vielen neuen Anbietern ist nicht zu rechnen, weil die Markteintrittshürden sehr hoch sind. Dafür sind etwa die hohen Investitionskosten bei der Errichtung von Produktionsanlagen verantwortlich. Für die verbliebenen Anbieter ist das Geschäft mit Impfstoffen lukrativ: Viele haben angekündigt, ihre Produktionskapazitäten so stark zu erhöhen, wie es geht.

Das Problem aktuell ist, dass bereits Vorbereitungen für die Herstellung getroffen werden müssen, ohne genau zu wissen, auf welchen Impfstoff es hinauslaufen wird. Die Pharmaindustrie fordert deshalb eine Kostenteilung und verlangt Zusagen von der Politik, bestimmte Abnahmemengen zu garantieren.

Die Impfstoffentwicklung wird derzeit auch über sogenannte Product Development Partnerships vorangetrieben; das sind Allianzen, die gemeinsame Projekte von Stiftungen, Regierungs- und Hilfsorganisationen sowie Forschungsgruppen und Unternehmen organisieren. So können Wirkstoffe entwickelt werden, die für ein einzelnes Unternehmen wirtschaftlich nicht umzusetzen wären. Deutschland ist über das Bundesforschungsministerium am Projekt CEPI  beteiligt.

Und wer bekommt dann zuerst den Impfstoff?

Um das Virus auszurotten, müssten möglichst viele der 7,8 Milliarden Menschen weltweit geimpft werden. Bei früheren Seuchen wie der Schweinegrippe wurden immer zuerst reichere Länder mit Impfstoffen versorgt, während die ärmeren Länder erst mit erheblicher Verspätung an die Reihe kamen. Das müsse diesmal verhindert werden, fordern Politiker, die Weltgesundheitsorganisation und Pharmaexperten. "Zuerst die Bevölkerung in einem Land komplett zu impfen und in anderen Ländern gar nicht, das ist im Sinne der globalen Solidarität nicht vorstellbar", sagte der Chef des Paul-Ehrlich-Instituts, Klaus Cichutek, Anfang Mai zum SPIEGEL.

Kritisiert wird eine Zusage des französischen Pharmaherstellers Sanofi an die US-Regierung, den Vereinigten Staaten Sonderrechte bei der Bestellung von Impfstoffen gegen das neuartige Coronavirus einzuräumen. Sanofi begründet die Ausnahme damit, dass die Amerikaner bereit gewesen seien, finanzielle Risiken bei der Impfstoffentwicklung mitzutragen.

Denkbar könnte sein, dass es zu weiteren geopolitischen Auseinandersetzungen kommt: Länder, die bei der Finanzierung stark mitgewirkt haben, könnten verlangen, dass sie ein Vorrecht auf die erste Welle der Impfstoffauslieferung haben. In jedem Fall ist zu erwarten, dass nicht alle Menschen sofort geimpft werden können, wenn ein Impfstoff verfügbar ist, weil die Kapazitäten nicht ausreichen werden.

Pandemiepläne sehen vor, dass zuerst medizinisches Personal und Risikogruppen geimpft werden. Aber auch andere systemrelevante Berufe wie Polizisten oder Standesbeamte (sie müssen bei einer Pandemie auch weiterhin den Tod von Menschen bescheinigen können) könnten zu den ersten Empfängern gehören.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version war der Vorname von Klaus Cichutek, Chef des Paul-Ehrlich-Instituts nicht korrekt. Wir haben die Passage geändert.

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