Debatte über steigende Preise Inflation? Kein Grund zur Panik

Europäische Zentralbank in Frankfurt: Vier statt zwei Prozent Inflation?
Foto: Marius Becker/ dpaKaum ein Wirtschaftsthema polarisiert in Deutschland so wie die Inflation. Als die Volkswirte des Internationalen Währungsfonds vor wenigen Tagen erklärten, eine etwas höhere Inflation sei besser als eine niedrige, da brachen Stürme der Entrüstung los.
Europäischen Zentralbank (EZB)
Bundesbank-Chef verteidigte sofort das Inflationsziel der von "unter, aber nahe zwei Prozent". In den Medien wurden Schreckensbilder von zerfallenden Gesellschaften wie der Weimarer Republik gemalt. Wenn die EZB künftig statt zwei Prozent die vom IWF ins Gespräch gebrachten vier Prozent Inflation anpeile, werde damit das Fundament der Wirtschaftsordnung untergraben, die Mittelschicht enteignet und die Gesellschaft drohe zu explodieren.
Doch bei genauerem Hinsehen ist es grotesk, was derzeit zu der Frage geschrieben wird. Zuerst einmal kann eine etwas höhere Inflationsrate von vier statt zwei Prozent kaum als Einstieg in die Hyperinflation gewertet werden. Angesichts der gängigen Messfehler bei der Inflationsbestimmung ist es ohnehin schwierig, die Teuerung auf einen oder zwei Prozentpunkte genau zu taxieren.
Vermieter oder Unternehmer könnten einen regelmäßigen Preisanstieg von vier Prozent leicht mit einer jährlichen Preisanpassung abfangen, ohne dass gravierende Verluste entstünden. Auch für Sparer ist eine solche Inflation kaum dramatisch - mit verzinsten Tagesgeldkonten ist eine Vernichtung des Vermögens leicht zu umgehen.
Selbst die Bundesbank ließ früher eine höhere Inflation zu
Die Bundesrepublik hatte jahrelang Inflationsraten von deutlich über zwei Prozent. In den sechziger Jahren gab es gerade drei Jahre mit Inflationsraten unter zwei Prozent, zeitweise stiegen die Verbraucherpreise um knapp vier Prozent. Die Wirtschaft wuchs trotzdem, der Wohlstand legte so rapide zu wie selten später. In den siebziger Jahren lag die durchschnittliche Inflation in Deutschland bei fast fünf Prozent pro Jahr, in der ersten Hälfte der achtziger Jahre immer noch bei 3,8 Prozent.
Auch im Zuge der Wiedervereinigung Anfang der neunziger Jahre stieg die Inflation zeitweise über vier Prozent - alles, ohne dass es zu einer Zerrüttung der Wirtschaftsordnung gekommen wäre. Die Bundesbank akzeptierte damals ganz offiziell Teuerungsraten von mehr als zwei Prozent.
In den USA lag die Inflation ebenfalls lange und nachhaltig höher als zwei Prozent. Anfang der neunziger Jahre wurden sogar sechs Prozent erreicht - ebenfalls ohne sichtbare Schäden für die marktwirtschaftliche Ordnung.
Manche Kommentatoren führen als Einwand gegen ein höheres Inflationsziel das Grundgesetz an. Weil das Bundesverfassungsgericht geurteilt hat, dass die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes unter einer auf jeden Fall gewahrt werden müsse, sei eine "europäische Inflationsgemeinschaft" nicht zulässig. Auch dieses Argument dürfte nicht greifen, wenn die EZB ihr Inflationsziel auf vier Prozent erhöhen würde - schließlich war auch das jahrzehntelange Verhalten der Bundesbank vor Einführung des Euro nicht verfassungswidrig.
Inflation lässt die Schulden schrumpfen
Auch das Argument, dass Rentner, Arbeitslosenhilfeempfänger und Arbeiter in die Armut getrieben würden, wenn die etwas höher wäre, ist falsch. Dies wäre einzig der Fall, wenn der Staat die Notenpresse benutzt, um seine Staatsausgaben zu finanzieren. Wenn aber einfach die normale Inflation etwas höher liegt, steigen auch die Löhne etwas stärker. Und solange die Sozialleistungen an die Löhne gekoppelt sind, müssen auch die sozial Schwachen nicht abgehängt werden. In den siebziger Jahren und zur Wiedervereinigung stiegen nicht nur die Preise, sondern auch die Löhne kräftig. Von Verarmung durch die Inflation konnte keine Rede sein.
Im Gegenteil: Eine etwas höhere Inflation brächte eine Reihe von Vorteilen mit sich. Da ist zuerst das Argument des selbst. Die Experten der Organisation erklären, dass in Krisenzeiten starke Zinssenkungen zur Stabilisierung der Wirtschaft notwendig sind. Da bei einem Inflationsziel von vier Prozent die Zinsen höher liegen als bei einem Ziel von zwei Prozent, gibt es mehr Spielraum nach unten. Mit anderen Worten: Die Zentralbank kann auf Krisen stärker reagieren.
Wichtiger als die akute Krisenbekämpfung ist allerdings eine andere Frage: Wie kommen wir von unserem hohen Schuldenberg herunter?
Dabei geht es nicht nur um die Schulden der öffentlichen Hand. Auch die Privathaushalte sind in vielen Ländern extrem verschuldet - oder sogar überschuldet. Eine etwas höhere Inflation bietet die Chance, diese Schuldenlast zu mindern und so schnell die Voraussetzungen für neues Wirtschaftswachstum zu schaffen. Natürlich bedeutet das im Gegenzug eine gewisse Umverteilung von Sparern zu Schuldnern. Angesichts der Alternative, einer möglicherweise lange stagnierenden Wirtschaft, kann dies aber durchaus akzeptabel sein.
Keine Experimente in Krisenzeiten
Dennoch: Trotz all dieser guten Argumente für eine höhere Inflation hat Bundesbank-Präsident Recht, wenn er sich dagegen ausspricht. Das Problem wäre nämlich die Übergangszeit. Es ist alles andere als klar, wie eine Notenbank aus dem Stand eine höhere Inflation produzieren kann.
Inflation entsteht nicht per Dekret, sondern durch ein komplexes Zusammenspiel von Arbeitgebern, Unternehmen, Banken, Anlegern und dem Staat. Veränderungen im Inflationsziel müssen sich erst langsam in das Verhalten der Wirtschaftsakteure, vor allem der Unternehmen und Tarifparteien, einbetten. In der Übergangszeit ist es durchaus möglich, dass die Preise stärker steigen als die Löhne - und somit die Kaufkraft verringert wird. Gut möglich auch, dass sich der Anstieg der Teuerung nur sehr allmählich und über mehrere Jahre vollzieht.
Eines wäre aber klar: Die Anleger an den Bondsmärkten für langfristige Staatsanleihen würden sofort höhere Zinsen als Ausgleich für die zu erwartende höhere Inflation verlangen. Derzeit haben fast alle europäischen Staaten enorme Defizite, die sie mit neuen Schulden decken müssen. Würde das Inflationsziel jetzt angehoben, müssten auf diese neuen Schulden sofort und unmittelbar höhere Zinsen gezahlt werden. Für einzelne Staaten könnte so die Schuldenlast nicht mehr tragbar werden.
Auch für Unternehmen dürfte die Finanzierung sofort teurer werden, weil die Geldgeber unmittelbar höhere Zinsen verlangen. Die Realzinsen würden steigen und Investitionen in Maschinen und Anlagen möglicherweise abwürgen. Gleichzeitig wäre die Entwicklung der Absatzpreise unsicher - für die Unternehmen keine angenehme Situation.
Gerade in der aktuellen labilen Wirtschaftslage sollte man die Finger von solchen Experimenten lassen. Europa sollte die Idee eines anderen Inflationsziels erst einmal zu den Akten legen.