
Detroit: Eine Stadt erneuert sich selbst
Detroit als Gesellschaftlabor Willkommen in Reformmotor City!
Der einfachste Weg, ein Holzhaus abzureißen: eine schwere Kette an die Stoßfänger eines 350 PS starken Dodge Ram 2500 hängen, am Hausdach einhaken, Musik laut aufdrehen - Gas geben. Dreimal, viermal, zehnmal. Zuerst wackelt das Dach, dann kippeln die Stützbalken, bis schließlich mit einem Ruck und lautem Getöse alles in sich zusammensinkt. John George, Gründer und Kopf der Non-Profit-Organisation "Motor City Blight Busters", hat das schon zigmal gemacht: abreißen für den Neuanfang. Jetzt steht der kompakte Mittfünfziger breitbeinig vor einem frischen Schutthaufen und verkündet mit Blick auf sechs weitere leerstehende Häuser: "Hämmer, Äxte, Ketten und Peoplepower. So nehmen wir die hier auseinander. Wir entfernen die negative Energie und verwandeln sie in etwas Positives - einen schönen Gemeinschaftsgarten für die Nachbarn. Rise, Farmcity!"
Der geplante Gemeinschaftsgarten ist das aktuellste einer Reihe handfester Projekte, mit denen sich die Motor City Blight Busters dem Verfall Detroits entgegenstemmen. Seit 25 Jahren organisieren sie Hundertschaften von Freiwilligen, die in Hauruckaktionen Grundstücke entrümpeln, leerstehende Häuser abreißen und versiegeln oder in Zusammenarbeit mit Nachbarn und Geschäftsleuten renovieren. Über 120.000 Freiwillige aus dem ganzen Land haben so in Detroit 4000 Grundstücke bereinigt und 1500 Häuser verschönert.
Besonders sichtbar ist ihre Arbeit in John Georges Heimatstadtteil Brightmoor, einer von einstöckigen Holzhäusern geprägten Arbeitersiedlung im Nordwesten Detroits. Blightmoor nennen sie den Stadtteil heute zynisch. Blight bedeutet Fäulnis, gemeint ist der Verfall, der auf den Leerstand folgt. Die Siedlung entstand vor rund 100 Jahren, kurz nachdem einige Kilometer von hier Henry Ford die Fließbandarbeit erfand, die Autoproduktion revolutionierte und Detroits "Big Three" - Ford, General Motors und Chrysler - Arbeitsplätze und Eigenheime für hunderttausende Ungelernte schufen. Das war vor den Rezessionen, der Konkurrenz durch japanische Autos, der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland. Über 200.000 Arbeiter aus der Autoindustrie verloren allein zwischen 1980 und 1990 ihren Job. Und in den letzten zehn Jahren verließen 12.000 seiner 36.000 Einwohner Brightmoor.
"Aufräumen, verschönern und die Leute ins Boot holen"
Wer sich heute in den abgelegenen Seitenstraßen des Viertels verliert, erschrickt über die Verwahrlosung: Ganze Straßenzüge sind kniehoch mit Gras überwuchert, zugerümpelt mit ausrangierten Möbeln und Autoreifen. Manche der leerstehenden Häuser sind zu Ruinen ausgebrannt, andere haben eingeschlagene Scheiben und mit Sperrholz verrammelte Türen. Ein Milieu für Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution. Allein im Stadtteil wurden in den letzten sieben Jahren 15 Menschen ermordet. Nirgendwo sonst im Rustbelt, Amerikas schwerindustrieller Region an der Grenze zu Kanada, scheiterte der amerikanische Traum so drastisch wie in Detroit. Auch deshalb wurden seine Ruinen seit der letzten Finanzkrise 2008 zum Symbol für das postindustrielle, krisengeschüttelte Amerika.
Menschen wie John George geben deswegen auch den Landsleuten Hoffnung, wenn sie nun uramerikanische Werte aktivieren, um aus der Krise zu kommen: große Visionen gepaart mit hemdsärmeligem Do-it-yourself-Geist und Gemeinschaftssinn. John George läuft jetzt mit strammem Schritt vorbei an der Kreuzung, wo vor wenigen Jahren junge Männer Crack und Kokain vor verrammelten Geschäften dealten. Neben einem Süßkartoffelbäcker funkeln auch die Auslagen eines Radkappenhändlers. Das Angebot der Blight Busters, mit 150 Mann an einem Wochenende kostenlos Berge von Schrott aus dem Gebäude zu holen, bedeutete für seinen Besitzer eine Ersparnis von 50.000 Dollar - die er in das Geschäft und damit die Aufwertung des Stadtteils steckte. Vierzehn neue Geschäfte haben in den letzten Jahren in Brightmoor eröffnet.
In Zusammenarbeit mit einem stadtbekannten Künstler renovierten die Blight Busters auch das gut besuchte Nachbarschafts-Café auf der anderen Straßenseite. In den angeschlossenen Veranstaltungsräumen verbauten sie recycelte Materialien aus den Abrisshäusern der Nachbarschaft. Heute treffen sich hier die Nachbarn zu Mal- und Schachkursen, Poetry Slams und Jazzabenden. Dabei entstehen neue, unkomplizierte Kollaborationen zwischen Unternehmern, den Non-Profit-Organisationen des Stadtteils, freiwilligen Helfern, Spendern und Nachbarn. "Aufräumen, stabilisieren, verschönern und die Leute ins Boot holen. Das ist der einzige uns bekannte Weg, wie man eine Stadt neu erfinden kann", fasst John George zusammen.
Wer das große Geld verdienen will, hat die Stadt längst verlassen
Nur nebenbei erzählt George noch vom Besuch von Präsident Obama im neuen, mit 1,25 Millionen Dollar Spendengeldern renovierten Community Centre. Bei seinem letzten Detroitbesuch wollte Obama mit eigenen Augen sehen, wie die Blight Busters ihren Beitrag zum Wiederaufbau der Stadt leisten. "Ich denke, dass wir eine kritische Masse erreicht haben", sagt John George. "Wir sind jetzt in einer einzigartigen Situation, die viele Chancen auf einen Neuanfang bieten: Wir haben den günstigsten Wohnraum des Landes und viele Möglichkeiten für Menschen mit wenig Geld und viel Zeit, die in ihrer Nachbarschaft zu Stakeholdern werden und Reichtum schaffen."
Reichtum - dieser Begriff wird in Detroit dieser Tage neu definiert. Wer das große Geld verdienen will, hat die Stadt längst verlassen und ist in den Speckgürtel gezogen. Von den 700.000 Menschen in der Stadt Detroit - 85 Prozent von ihnen Afroamerikaner - leben ein Drittel der Erwachsenen und über die Hälfte der Kinder an der Armutsgrenze, abhängig von staatlichen Lebensmittelmarken. Noch mehr sind arbeitslos, in einigen Blocks sind es bis zu 70 Prozent, viele haben Probleme mit Alkohol und Drogen. Durch den Verlust von Steuern hatte die Stadt 2011 ein Haushaltsdefizit von 196 Millionen Dollar, musste Schulen und Polizeistationen schließen, Buslinien kappen und Obdachlosenheime schließen. "Es gibt so viele Probleme und wir sind sehr frustriert. Aber diese Frustration inspiriert gleichzeitig viele Menschen, selbst aktiv zu werden und soziale Unternehmen zu gründen", sagt Veronica Scott, Gründerin der Firma Empowerment Plan. Die studierte Designerin läuft mit baumelndem Pferdeschwanz durch den ersten Stock eines 3000 Quadratmeter großen Industriegebäudes im Stadtteil Corktown, etwa eine halbe Stunde Autofahrt von Brightmoor entfernt. Acht Afroamerikanerinnen sitzen hintereinander an Nähmaschinen und lassen die Nadeln über weißrote Stoffteile rattern.
"Wir sind der wilde Westen der Kreativität"
Scott bleibt bei Annis Maxwell stehen und begutachtet deren Arbeit. "Nobody should freeze to death in America" steht auf dem T-Shirt ihrer Angestellten. Das passt: Maxwell, 60 Jahre alt, näht gerade Klettverschlüsse an einen Wintermantel, den Scott entworfen hat. Der wasserabweisende, wärmeisolierende Mantel kann zu einem Schlafsack umfunktioniert werden. Ein Produkt für die 20.000 Obdachlosen, die durch Detroit streifen.
Maxwell war bis vor einem Jahr eine von ihnen. Jetzt schneidet sie bedächtig den Faden durch, legt das fertige Kleidungsstück auf einen Stapel und sagt: "Dieser Mantel soll Leben retten. Meins hat er schon gerettet."
Veronica Scott bildet in ihrer Non-Profit-Firma obdachlose Mütter zu Näherinnen aus und stellt sie nach drei Monaten zum Stundenlohn von zehn Dollar an. Die Firma hilft den ehemaligen Heimbewohnern auch, eigene Häuser zu mieten und organisiert mit Hilfe von befreundeten NGOs die komplette Einrichtung. Schon nach dem ersten Jahr lebten die ersten drei Frauen wieder mit ihren Familien zusammen. Die 150 Mäntel, die die Frauen im Monat produzieren, verschenkt Scott an Obdachlosenorganisationen. Noch finanziert sich das Unternehmen durch Geld- und Sachspenden - unter anderem stammt das Futtermaterial aus recycelten Abfällen der Autoproduktion von General Motors.
Doch bald sollen nach einem "Buy one, give one"-Modell hippe Großstädter ihre Wintermäntel kaufen und damit je einen Obdachlosenmantel mitfinanzieren.
Soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit im Vordergrund
Scott profitiert wie viele andere Sozialunternehmer von den günstigen Räumen in Detroit. Ein bezugsfähiges Haus gibt es hier schon für 5000 US-Dollar zu kaufen, erzählt sie. Während Absolventen in Metropolen wie New York oder San Francisco unter horrenden Mieten leiden, können es sich junge Detroiter leisten, mit sozialen Geschäftsmodellen zu experimentieren: "Wir sind der wilde Westen der Kreativität. Wir nehmen uns die verfallenen Gebäude und das vernachlässigte Land und machen es zu dem, was wir wollen. Das Einzigartige: Woanders gründen Uniabsolventen Tech-Startups - wir in Detroit gründen Nonprofits und soziale Unternehmen. Es gibt Hunderte, die das so machen."
Mit Statements wie diesen schaffte es Scott als Gesicht einer neuen Gründerbewegung im sozialen Sektor Detroits bereits ins Programm von CNN, ins Forbes-Magazin und in die "New York Times". Die Medien interessieren sich dafür, wie die jungen Detroiter - das abschreckende Beispiel der maroden Autokonzerne vor Augen - nach einem Gegenentwurf zum Big Capitalism suchen. Die ersten handeln Detroit bereits als Modellstadt, in der die alternative Wirtschaft für das 21. Jahrhundert entworfen wird. "Eine andere Welt ist möglich - ein anderes Amerika ist notwendig - ein anderes Detroit passiert" lautete auch der Slogan des US Social Forums im Jahr 2010, für das 15.000 Aktivisten aus dem ganzen Land in die Motor-City kamen, um neue amerikanische Werte zu diskutieren.
"Wer heute in Detroit ein Unternehmen gründet, will mehr als nur Geld verdienen", sagt Phil Cooley. Früher arbeitete er als Model in Paris, London und New York. Mit dem Geld seiner wohlhabenden Familie kaufte der 36-Jährige nach der Finanzkrise 2008 für nur 100.000 Dollar ein leerstehendes Industriegebäude und verwandelte es mit Hilfe von vielen Freiwilligen in den sozialen Inkubator Ponyride. "Ich kenne kaum einen Gründer, der keine soziale Komponente oder die Förderung der Community in sein Geschäftsmodell integriert hat. Für viele Leute hier ist die Triple Bottom Line, also die soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit, bereits selbstverständlich. Und während Städte wie New York vertikal sind und alle auf der Karriereleiter nach oben steigen, ist Detroit eher eine horizontale Stadt, in der jeder jeden kennt. Hier dreht sich alles um Kollaboration. Das will ich mit Ponyride fördern."
Eine Stadt voller Innovation
Weniger als ein Dollar pro Quadratmeter, ein Fünftel des üblichen Marktpreises, kostet die Miete im Ponyride. Veronica Scott gehört genauso zu den insgesamt 50 Mietern wie eine Möbelfirma, die nur solches Holz verarbeitet, das ehemalige Sträflinge aus abgerissenen Häusern ausgebaut haben; eine Fechtschule, die kostenlose Kurse für unterprivilegierte Jugendliche anbietet und diese über Firmenworkshops querfinanziert; und etliche Künstler und Kreative, die an Community- und Stadtentwicklungsprojekten arbeiten. Als Gegenleistung für die niedrigen Mieten muss jeder Mieter mindestens einmal im Monat Nachbarn und Jugendliche unterrichten - so regt Phil Cooley mit seinem Investment auch die Nachbarschaftshilfe an. "Es ist wichtig, dass wir uns alle gegenseitig helfen und voneinander lernen", sagt er. "Detroit ist voll von Hoffnung und Innovation. Jetzt beginnen wir uns auszutauschen und die besten Ideen in anderen Nachbarschaften auszuprobieren."
Ein wichtiges Forum dafür ist auch die von der Knight Foundation geförderte Webseite "Urban Innovation Exchange". In Kooperation mit der Online-Zeitung Huffington Post und lokalen Medien stellt die Foundation, die viele Community-Projekte in den Bereichen Medien, Kultur und Demokratie unterstützt, die Sozialunternehmer der Stadt vor. Rund 50 Personen und Projekte aus den Bereichen Bildung, Soziales, Essen, Design, Community Organizing, Arbeit und Finanzierung wurden bereits porträtiert. Etwa die Detroit Bus Company, die erste private Buslinie der Stadt, die touristisch interessante Ziele rund um Downtown abfährt. Die Touristen finanzieren mit ihrem 5-Dollar-Ticket den kostenlosen Transport für Arme mit. Oder das Restaurant Colors, das ehemalige Sträflinge zu Unternehmern ausbildet und alle Mitarbeiter vom Tellerwäscher bis zum Chefkoch genossenschaftlich beteiligt. Das Gemüse stammt von den urbanen Gärtnern der Stadt, die auf dem gemeinnützigen Eastern Market ihre auf Brachen angebauten Salatköpfe verkaufen.
"Detroit hat zu lange auf große Lösungen gesetzt"
Die Stadt quillt über vor kreativen Machern, die ihre Community stärken wollen. "Ich kenne keinen anderen Ort mit soviel geballtem Potenzial", sagt Rishi Jaitly. Der Ex-Leiter der Knight Foundation steht im kuppelüberwölbten Saal einer Bibliothek. Etwa 50 Detroiter, darunter viele afroamerikanische Schüler, sitzen an runden Tischen zusammen und diskutieren. Mehrere Wochen lang konnten Bürger auf der interaktiven Community-Plattform 24/7 ihre Ideen für eine bessere, lebenswertere Stadt einbringen. Nun wird ausgewertet.
Dass die Stadtentwicklungsbehörde mit Unterstützung der Stiftung mit neuen Formen der Bürgerbeteiligung experimentiert, ist ein Paradigmenwechsel. "Detroit hat zu lange auf große Lösungen gesetzt", sagt Jaitly. Daran erinnern Großprojekte wie das Renaissance Centre mit der Weltzentrale von General Motors; die als Konkurrenz zur New Yorker Fifth Avenue angelegte Prachtstraße Washington Boulevard, die mit Leerstand zu kämpfen hat; oder die drei Kasinos, die neue Steuergelder nach Detroit bringen sollten - in denen stattdessen spielsüchtige Detroiter ihre letzten Dollar verzocken. "
Noch hat die Stadt Detroit selbst keine offiziellen Förderprogramme für Sozialunternehmer entwickelt. Zwar unterstützt die Verwaltung Entrepreneurs über die Non-Profit-Agentur Detroit Economic Growth Corporation, die auch Sozialunternehmer fördert. Doch es fehlt weiterhin an Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten. Deswegen betätigt sich der ehemalige Google-Angestellte und Princeton-Absolvent Jaitly mittlerweile auch selbst als Sozialunternehmer.
Begeisterung für alles, was klein und lokal ist
Seinem Engagement ist es zu verdanken, dass Detroit als erste amerikanische Stadt eine regionale Plattform des Mikrokreditportals Kiva besitzt. Die Gelder aus der Crowd, ursprünglich nur für Entwicklungsländer gedacht, förderten in Detroit bereits die Gründung einer Obdachlosenzeitung und mehrere Dienstleistungsunternehmen. Und sie trugen zu einem Boom weiterer lokaler Crowdfunding-Plattformen bei, mit der andere Detroiter die heimische Wirtschaft ankurbeln wollen. "Es gibt hier eine tiefe Begeisterung für alles, was klein und lokal ist", sagt Jaitly. "Es gibt den Leuten ein Gefühl der Macht, die Dinge selbst beeinflussen zu können. Und schaut man sich die wirklich erfolgreichen Geschichten gesellschaftlichen Wandels an, dann beginnen sie immer mit dem Engagement Einzelner. So hat Silicon Valley auch angefangen: mit Menschen, die durch glückliche Zufälle aufeinandergestoßen sind, um etwas zu bauen, was heute unausweichlich erscheint."
Dass aus der Initiative Einzelner eine ganze Bewegung werden kann, zeigt sich am deutlichsten in der Urban-Gardening-Bewegung der Stadt: Überall in Detroit haben Privatpersonen, Kirchen, Schulen und Organisationen wie die Blight Busters Brachland in kleine Gemüsebeete und Gemeinschaftsgärten verwandelt. Mit geschätzten 1500 Anbauflächen und 185 Organisationen in diesem Bereich ist die Stadt nationaler Vorreiter. Gegen eine einmalige Gebühr von 200 Dollar kann jeder auf der Brache neben seinem Haus Gemüse anpflanzen. So macht es inzwischen auch Dinah Brandage. Gerade steht die 46-Jährige breitbeinig über ein zwei Quadratmeter kleines Beet am Rande eines Parkplatzes gebeugt. "Urban Gardening ist eine echte Bewegung in Detroit", sagt sie und lockert die Erde rund um ihre Tomatensetzlinge an. "Aus toten Räumen werden lebendige. Wir bauen etwas an, das nützlich ist und die Gärten sehen schön aus. Und Urban Gardening demonstriert allen, dass man selbst etwas tun kann."
Stadtgärten schließen eine wichtige Versorgungslücke
Dinah Brandage hat die heilende Wirkung des Gärtnerns am eigenen Leib erfahren. Wie viele hier im Osten der Stadt lebte auch sie von Lebensmittelmarken und kam als Drogenabhängige in die Suppenküche der Kapuzinermönche. Die von den Mönchen finanzierte Non-Profit-Organisation Earth Works ist eine der größten urbanen Farmen Detroits. In der ganzen Nachbarschaft betreibt die Organisation Gewächshäuser, Beete und Bienenstöcke. Inzwischen stammt das komplette Gemüse für die täglich 2000 ausgeteilten Mahlzeiten der Suppenküche aus eigenem Anbau.
Die Mönche halfen Brandage clean zu werden. "Das Gärtnern hilft mir es zu bleiben", sagt sie. Seit zwei Jahren gärtnert sie jeden Tag an der frischen Luft, ernährt sich von ihrem selbst angebauten Gemüse und arbeitet als Stipendiatin des Urban Farming Trainee-Programms von Earth Works an ihrer Zukunft. Wie die anderen elf Stipendiaten lernte Brandage zunächst, welche Setzlinge zu welcher Saison rausmüssen, wie man kompostiert, düngt, mit Restaurantbesitzern verhandelt und einen landwirtschaftlichen Betrieb mitten in Detroit gründet. Jetzt entwickelt sie ihr eigenes Geschäftskonzept. "Alles was ich lerne, will ich an meine Community weitergeben", sagt sie und lächelt. "Ich will meine eigene Farm haben, mein Gemüse verkaufen. Und was am Abend überbleibt, will ich an die alten Leute in der Nachbarschaft verschenken."
Schon jetzt schließen die Gärten eine wichtige Versorgungslücke in der Stadt. Weil zahlungskräftige Kunden fehlten, hatte 2006 die letzte große Supermarktkette die Stadt verlassen. 500.000 Menschen gelten seitdem als Bewohner einer sogenannten Food Desert, haben kaum Zugang zu frischem Obst und Gemüse und sind deswegen auf das Fertignahrungsangebot in den Liquor Stores angewiesen. In diese Lücke stoßen jetzt die rund 50 Marktgärten, die ihr Gemüse auf Detroits Frischemärkten unter dem Label "Grown in Detroit" verkaufen. Insgesamt 170 Tonnen Lebensmittel produzieren sie im Jahr - mit einem Wert von einer halben Million Dollar. Laut einer Studie der Michigan State University könnte die Stadt im Bestfall drei Viertel des städtischen Bedarfs an Gemüse und 40 Prozent an Früchten decken. Die Stadt will nun gemeinsam mit der Universität das wirtschaftliche Potenzial der ungenutzten Brachen und Gebäude für Farmen untersuchen. Bürgermeister Dave Bing gab den Plan mit den Worten bekannt, die Stadt wolle "demonstrieren, dass die Innovation der städtischen Nahrungsmittelproduktion neue Jobs und Unternehmen hervorbringen könne" und beschwor die Zukunft "einer nachhaltigeren und wirtschaftlich lebendigeren Stadt".
Brennans organische Wachstumsphilosophie
Das ist auch die Vision der Green Garage. Das flache Backsteingebäude am Cass Corridor im Stadtteil Midtown war in den 1920er Jahren ein Showroom für den Ford Model T, das erste Auto vom Fließband. Ein symbolischer Ort also, um einen Treffpunkt für die boomende Nachhaltigkeitsszene Detroits einzurichten. Die Besitzer, der ehemalige Unternehmensberater Tom Brennan und seine Frau Peggy, wollen ein Exempel statuieren und ein postindustrielles Wirtschaftsmodell für das 21. Jahrhundert entwickeln. Dafür braucht es neue Metaphern. "Wenn die Leute sagen, eine Firma laufe wie eine gut geölte Maschine, dann meinen sie das als Kompliment", sagt Tom Brennan, grauhaarig und mit wässrig blauen Augen, zur Begrüßung. "Bei uns steht diese Metapher für Zerstörung. Denn das industrielle Modell behandelt Menschen und Umwelt, als seien sie Teil einer Maschine. Wir müssen aber lebendige Systeme schaffen."
Tom Brennan führt in die Green Garage hinein. Der hohe Raum ist mit Holz ausgekleidet, rechts befinden sich durch niedrige Stellwände separierte Arbeitsplätze. Davor stehen locker gruppierte Tische. Eine kleine Bibliothek lädt Besucher zum Verweilen ein. Unter dem Oberthema "Urbane Nachhaltigkeit" stehen darin Titel wie Eco-Economy, Fair Food oder Recovering America. Das erste Exempel hat Peggy Brennan mit dem Umbau statuiert. Der gesamte Prozess hat nur eine Mulde Schutt produziert, die Einrichtung ist komplett recycelt. Der Strom stammt aus Solarpanels, Tageslicht dringt durch Solartubes von oben herein, das Gebäude wird natürlich gekühlt. Das zweite Exempel will Tom Brennan mit seiner Beratung für angehende Unternehmer aufstellen. Die Green Garage vergibt Arbeitsplatz-Stipendien an momentan 23 Startups, die gemeinsam einen ungewöhnlichen Weg zur Marktreife gehen. Wer im Coworking-Büro der Green Garage einen Platz bekommt, muss die Triple Bottom Line anstreben. Und sich mit Brennans organischer Wachstumsphilosophie auseinandersetzen.
So geht Erfolg
Normale Startup-Programme führen Gründer in einem festen Zeitrahmen von der Geschäftsidee über den Businessplan zur Kreditaufnahme und Markteinführung. Dagegen vergleichen sie in der Green Garage Firmen und Organisationen mit Pflanzen, die natürlich wachsen müssen. Und dies gelinge nur, wenn sich die neuen Unternehmen in ein bestehendes Ökosystem einfügten. Brennan nennt als Beispiel ein Unternehmen, das mit der Idee startete, abgeladene Autoreifen von Privatgrundstücken einzusammeln und zu recyceln. In regelmäßigen Gruppensessions mit anderen Unternehmern entwickelte die Gründerin dann ein systemisches Geschäftsmodell, das zusätzlich betroffene Nachbarn, Transportunternehmen, die Politik, die CSR-Abteilung von Ford und lokale Designer ins Boot holte, um am Ende mit Hilfe von freiwilligen Helfern die Reifen einzusammeln und für Ford Designprodukte aus recycelten Autoreifen herzustellen. Eine für Detroit typische Mischung aus Startup und Community-Organizing. "Wenn alle Seiten von der Existenz eines Unternehmens profitieren, dann hat auch jeder ein eigenes Interesse daran, das Unternehmen wachsen zu lassen", erklärt Brennan mit ruhiger Stimme. "Also werden sie das Unternehmen fördern, die Idee weitererzählen, mit ihm kooperieren. Das ist Erfolg."
Tom Brennan zeigt auf die Wand, die das Treppenhaus stützt. Der Designer, selbst Mieter in der Green Garage, hat sie aus den Fundstücken bei der Renovierung zusammengebaut, aus weißen, grau gestrichenen und schwarz verkohlten Holzlatten. Für den 59-Jährigen ist diese Wand ein Gleichnis für das Ökosystem, das ihm für Detroits Wirtschaft der Zukunft vorschwebt: "Jeder Baustein dieser Wand ist einzigartig. Ich glaube, dass Detroit als Stadt so werden wird. Wir machen kleine Dinge sehr gut, warum können wir nicht tausende dieser kleinen Dinge sehr gut machen? Zusammen werden sie dennoch ein Ganzes ergeben."
Dieser Text stammt aus dem Magazin "enorm - Wirtschaft für den Menschen ".