Fehlende Fahrdienstleiter Was wurde aus dem Bahn-Chaos in Mainz?

Im August 2013 gingen der Deutschen Bahn die Fahrdienstleiter für den Bahnhof Mainz aus - ein peinlich kleiner Grund für das größte Chaos der Firmengeschichte. Die Bahn gelobte Besserung und die Schaffung neuer Stellen. Was wurde daraus?
Anfang August 2013: Aufgrund von vier Krankmeldungen von Fahrdienstleitern läuft nichts mehr im Bahn-Netz in und um Mainz

Anfang August 2013: Aufgrund von vier Krankmeldungen von Fahrdienstleitern läuft nichts mehr im Bahn-Netz in und um Mainz

Foto: Fredrik Von Erichsen/ dpa

Anfang August 2013 meldeten sich am Bahn-Standort Mainz vier Fahrdienstleiter krank. Fahrdienstleiter sind die Herren der Stellwerke, die Wächter über den geregelten Ablauf des Verkehrs. Es ist ein wichtiger Job, aber normalerweise ist so etwas allenfalls Stoff für eine Notiz am Schwarzen Brett: "Wer springt ein?"

Doch in diesem Fall sollten die Krankmeldungen internationale Schlagzeilen produzieren. In Mainz gab es niemanden mehr, der hätte einspringen können. Die "Randnotiz" sollte in den Folgewochen ein beispielloses Verkehrschaos verursachen und Zehntausende frustrierte Kunden zurücklassen. Die bittere Realsatire entwickelte sich für die Deutsche Bahn zum Fiasko, die sogar einen Bahn-Vorstand den Posten kostete.

Symptom eines grundsätzlichen Problems

Der Anlass der Krise hätte kaum profaner ausfallen können. Von den 15 für die Aufgabe qualifizierten Mitarbeitern waren durch die Krankmeldungen sieben nicht dienstbereit, schließlich war auch Urlaubszeit. Selbst den schoben die Fahrdienstleiter oft lange vor sich her, erfuhr man nun. In den Personaldatenbanken der Bahn schwelten etliche Millionen Überstunden und alte Urlaubstage. Der Frust darüber war groß, Mainz brachte ihn zum Überkochen: So ließen sich die Urlauber unter den Fahrdienstleitern nicht einmal durch Anrufe des Bahn-Chefs zum Abbruch bewegen.

So kam es, dass die Bahn in Mainz nicht mehr alle Schichten besetzen konnte. Zunächst stellte sie den Betrieb nur nachts ein. Doch im vernetzten System des Bahnverkehrs pflanzen sich Störungen fort, eine bedingt die nächste. Die Ausfälle betrafen schließlich auch die Tage. Das Chaos war perfekt.

Stellwerk Mainz: Diese profanen Zweckbauten sind so etwas wie der "Tower" eines Bahnhofs. Fehlt es hier an Personal, bleiben die Züge stehen

Stellwerk Mainz: Diese profanen Zweckbauten sind so etwas wie der "Tower" eines Bahnhofs. Fehlt es hier an Personal, bleiben die Züge stehen

Foto: Fredrik Von Erichsen/ dpa

Nun erfuhr auch die Öffentlichkeit von den "systemrelevanten" Fahrdienstleitern und dem generellen Personalproblem der Bahn. Ein hausgemachtes. Denn Mainz war kein Einzelfall. Jetzt wurde bundesweit auch über Störungen berichtet, die vorher allenfalls in der Lokalpresse registriert worden waren. Im hessischen Bebra (13.789 Einwohner) war der Betrieb wegen Fahrdienstleitermangel gleich mehrere Monate ausgefallen. Auf manchen Strecken, erfuhr man nun, hielten voll besetzte Züge, weil die Fahrdienstleiter ihre Pausen einhalten mussten - also gab es niemanden, der die Weichen hätte stellen können.

Zum ersten Mal wurden diese vielen kleinen Meldungen zu einer Gesamtschau verbunden. Der damalige Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) forderte lautstark Besserung ein.

Die Achillesferse des Systems Bahnverkehr: Fahrdienstleiter verantworten unter anderem, dass die Weichen richtig stehen. Ohne sie wäre Bahnfahrt lebensgefährlich

Die Achillesferse des Systems Bahnverkehr: Fahrdienstleiter verantworten unter anderem, dass die Weichen richtig stehen. Ohne sie wäre Bahnfahrt lebensgefährlich

Foto: Julian Stratenschulte/ dpa

Doch der Personalmangel war ja auch das Produkt einer von diversen Regierungen forcierten Rationalisierungswelle. Vor allem Ex-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn hatte den seit 1994 privatrechtlich organisierten Staatsbetrieb mit der Sense saniert. Bis 2009 trennte sich die Bahn von 150.000 Mitarbeitern. Die Netzsparte, zu der die Fahrdienstleiter gehören, schrumpfte von 54.000 Stellen im Jahr 2001 auf rund 35.000 im Jahr 2012.

Im Sommer 2013 erreichte der Tiefstand den Punkt der Unterdeckung. Als Schuldigen benannte man Netzvorstand Hansjörg Hess, der knapp eine Woche nach Beginn des Mainzer Chaos gehen musste. Mehdorn-Nachfolger Rüdiger Grube leistete derweil öffentliche Abbitte und versprach die Anwerbung neuer Mitarbeiter noch im laufenden Jahr und 1700 zusätzliche Stellen für das folgende. Noch vor Jahresende, so Grube Mitte August 2013, werde die Bahn 600 neue Fahrdienstleiter einstellen.

Tatsächlich begann die Bahn umgehend, sogar einst gefeuerte Ex-Mitarbeiter zu umwerben. Parallel lief eine breit angelegte, schicke Rekrutierungskampagne an. Doch der wirkten auch Informationen aus der Arbeitsrealität der Bahn entgegen, die nun an die Öffentlichkeit drangen.

Bahnhof außer Funktion: Der profane Anlass führte zum Vollstillstand, die personelle Fehlplanung der Bahn wurde öffentlich sichtbar

Bahnhof außer Funktion: Der profane Anlass führte zum Vollstillstand, die personelle Fehlplanung der Bahn wurde öffentlich sichtbar

Foto: Fredrik von Erichsen/ dpa

Denn das Einzige, was sich in der Welt der Bahner seit den Achtzigerjahren kaum verändert hatte, waren die Verdienstmöglichkeiten. Fahrdienstleiter klagten über unregelmäßige Arbeitszeiten durch zu viele Vertretungsschichten, regelmäßig hohe Überstundenmengen, Stress, Pausenmangel und ein Gehaltsgefüge, das Bahn-Mitarbeiter in einem offenen Brief an den Vorstand "Schmerzensgeld" statt Lohn nannten. Damit meinten sie die 1979 Euro brutto Einstiegsgehalt, das nach mehr als 25 Jahren höchstens 3.108,53 Euro erreichen konnte - allerdings nur in der höchsten Verantwortungsstufe.

Konnte die Bahn trotzdem ihr Personalproblem lösen?

Tariflich hat die Bahn seit ihrer Mainz-Krise zugelegt. Die Gehälter der in fünf verschiedenen Qualifikations- und Verantwortungsstufen eingruppierten Fahrdienstleiter liegen heute jeweils um rund 200 Euro höher (siehe Tabelle). Das ist nicht üppig, aber besser als zuvor. Neben dem herkömmlichen Ausbildungsprogramm wirbt die Bahn weiterhin mit einem Seiteneinsteigerangebot vornehmlich um handwerklich ausgebildete Kandidaten. Aber hat das gereicht?

Die Gehalts-Tarife der Fahrdienstleiter der Deutschen Bahn

Tarifgruppe 0 -5 5 -10 10 -15 15 -20 20 -25 Über 25 Jahre
309 (einf. Tätigkeit) 2.118,56 2.155,40 2.192,25 2.229,11 2.265,96 2.302,82
307 (einf. Tätigkeit) 2.384,06 2.426,98 2.469,89 2.512,78 2.555,72 2.598,63
306 (einf. Tätigkeit) 2.574,79 2.621,28 2.667,76 2.714,26 2.760,74 2.806,05
305 (mittl. Verantw.) 2.789,36 2.839,41 2.889,48 2.939,53 2.989,61 3.040,87
355 (hohe Verantw.) 3.039,68 3.094,51 3.149,35 3.204,17 3.259,01 3.313,85
Quelle: EVG Tarifabschluss Einkommensrunde DB AG 2014/2015

Wiederholt hat sich das Chaos von Mainz jedenfalls nicht, und die Bahn behauptet, dafür habe sie auch einiges getan. Das Versprechen, 600 neue Fahrdienstleiter noch im Krisenjahr anzustellen, will sie sogar übertroffen haben: "2013 hat die DB Netz AG insgesamt über 800 neue Fahrdienstleiter unter Vertrag genommen, in 2014 rund 880. Darüber hinaus haben in 2014 rund 390 junge Menschen ihre Ausbildung zum Fahrdienstleiter begonnen. In 2015 sind es wiederum über 390 neue Azubis, die ihre Fahrdienstleiterausbildung bei der DB Netz begonnen haben."

Insgesamt zieht die Bahn darum ein positives Fazit: "Die Rekrutierungs- und Qualifizierungsaktivitäten der letzten Jahre haben erfolgreich gewirkt. Mittlerweile haben wir eine stabile Personalsituation. Darüber hinaus konnten wir durch zusätzliches Personal die Situation bei den Fahrdienstleitern u.a. beim Mehrleistungsabbau und in der Urlaubsabwicklung deutlich verbessern."

Auch die Bahngewerkschaft EVG scheint nichts mehr auszusetzen zu haben. Anfragen von SPIEGEL ONLINE haben die Gewerkschafter nicht beantwortet. Zuletzt zog Gewerkschaftschef Alexander Kirchner im August 2014 ein verhalten positives Fazit.

"Mainz", ließ sich Kirchner da vernehmen, habe ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass die Personalplanung bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen insgesamt neu ausgerichtet werden müsse: Erste Veränderungen seien erkennbar, sagte er damals, "über den Berg" seien die Bahnen "aber noch lange nicht".

Seitdem herrscht Ruhe.

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Foto: LAURENT REBOURS/ AP

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