Schleppende Energiewende Leopoldina-Präsident warnt vor Ende der chemischen Industrie in Deutschland

Anlagen von BASF in Ludwigshafen: Warnung vor Abhängigkeiten
Foto: Uwe Anspach / dpaDer Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Gerald Haug, hat deutlich mehr Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien, aber auch beim Ausstieg aus der Kohle gefordert. Der Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie warnt angesichts der Energiekrise vor dem Ende der Grundstoffindustrie, insbesondere der chemischen Industrie in Deutschland.
»Ich mache mir große Sorgen, dass wir, wenn wir jetzt nicht handeln, ganze Industriestränge verlieren – gerade in der Grundstoffindustrie«, mahnte der Leopoldina-Präsident. »Das würde eine noch viel höhere Abhängigkeit von Asien und vor allem China bedeuten.« Die Chemieindustrie etwa komplett aus Deutschland und Europa auszulagern, hielte er für einen »fundamentalen Fehler« – gerade mit Blick auf das Ziel der Klimaneutralität bis 2045.
Die Überregulierung führe bei der Industrie zu »unglaublichen Unsicherheiten.« Haug sprach sich für antizyklische Investitionen etwa in Forschung, Innovation und Wissenschaft sowie für Steuererleichterungen für solche Investitionen aus. Sonst drohten ebenso große Abhängigkeiten, wie sie gerade bei der Energie und Halbleiterindustrie beklagt würden, auch in der Grundstoffindustrie.
»Wir sind überall am Aussteigen, ohne einzusteigen«
Die Lösung liege in einer radikalen Beschleunigung der Energiewende. »Wir müssen massiv in Erneuerbare investieren. Das war viel zu langsam«, sagte der Klimaforscher der Nachrichtenagentur dpa. »Wir sind überall am Aussteigen ohne einzusteigen«, kritisierte er.
»Wenn die Süddächer mit Fotovoltaik bedeckt wären, hätten wir schon mal einen Ausbau um den Faktor vier.« Hilfreich seien Investitionsprogramme, steuerliche Förderung und Mietmodelle für Menschen mit weniger Geld, regte Haug an. »Wenn die EEG-Umlage wegfällt und man das mit marktwirtschaftlichen Werkzeugen angeht, kann sehr schnell sehr viel passieren.«
»Wir müssen den Kohleausstieg forcieren – auch wenn wir jetzt diesen und nächsten Winter etwas mehr brauchen«, sagte Haug mit Blick auf Unsicherheiten bei der Energieversorgung. Für die Klimaziele sei es wichtig, den Kohleausstieg wirklich bis 2030 zu schaffen. Dafür brauche Deutschland viel mehr erneuerbare Energien, aber auch mehr Gas- und Wasserstoffkraftwerke.
»Wir brauchen mehr Gaskraftwerke, die müssen »Wasserstoff-ready« sein«, sagte der Forscher. »Wir brauchen aber auch neue Infrastrukturen für Wasserstoff und gebundene Formen von Wasserstoff«, sagte der Leopoldina-Präsident. »Wir benötigen eine moderne Wasserstoff-Infrastruktur. Deutschland muss dabei eine Führungsrolle spielen.«
Einen schnellen Verzicht auf Erdgas könne sich Deutschland trotz Energiewende nicht leisten. »Wir werden noch mindestens die nächsten 20 Jahre weiterhin Erdgas brauchen«, sagte Haug. Derzeit würden etwa fünf Milliarden Kubikmeter Erdgas in Deutschland gefördert. Durch den Einsatz moderner Bohrtechnik könne in den nächsten zwei Jahren die Fördermenge vervierfacht werden. Damit könne ein Viertel des Gesamtbedarfs in Deutschland gedeckt werden. Gemeinsam mit den von Januar an verfügbaren LNG-Terminals »kann damit der deutsche Gasbedarf zeitnah über den Weltmarkt gedeckt werden«, prognostizierte Haug. »Irgendwann wird Erdgas zu schade sein, um es zu verbrennen, aber wir brauchen es in der Grundstoffindustrie, zum Beispiel um Düngemittel oder Kunststoffe herzustellen.«
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina bündele Wissen und bringe wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse ein, erläuterte Haug die Aufgabe von ihm und anderen Wissenschaftlern. »Entscheiden müssen immer unsere gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertreter.« Die Wissenschaft könne aber durch Stellungnahmen ihren Teil dazu beitragen, wissenschaftliche Perspektiven in die politische Abwägung einzubringen.