Umstrittene Zigaretten-Richtlinie EU-Parlament blamiert sich mit Tabak-Imitate-Verbot

Verbietet die EU jetzt Schoko-Zigaretten? Darauf deutet ein Punkt der neuen Tabakrichtlinie hin. Im EU-Parlament herrscht Konfusion. Sicher ist nur: Bei Produkten mit echtem Nikotin und Teer ist Straßburg weit liberaler.

Vielleicht haben Europas Volksvertreter nicht so genau auf Änderungsantrag 73 geschaut. Vielleicht waren sie unaufmerksam, kurz vor Ende ihres Abstimmungsmarathons zur EU-Tabakrichtlinie, nach Dutzenden hart umkämpften Voten über umstritte Paragrafen. Oder vielleicht wollten sie einfach nur ihren Handlungswillen beweisen, indem sie Schoko-Zigaretten, Lakritzpfeifchen und Spielzeugzigarren verbieten. Denn das deutet Änderungsantrag 73 an: "Imitierte Tabakerzeugnisse, die für Minderjährige attraktiv sein können und einen potentiellen Einstieg in den Konsum von Tabakerzeugnissen bieten können, werden verboten."

Das Europaparlament stimmte mit Ja. Zwar votierte das Parlament zugleich gegen eine Liste, die genau festgelegt hätte, welche Imitate erfasst werden. Verbotsbefürworter und -gegner sind sich jedoch einig, dass Schoko-Zigaretten und ähnliche Süßigkeiten unter den Bann fallen.

Das Verbot der Naschereien verblüfft fast alle im Parlament. Zweieinhalb Stunden haben sie sich hitzige Wortgefechte über die Brüsseler Regulierungspläne geliefert, am Ende hat das Parlament den Entwurf von EU-Gesundheitskommissar Tonio Borg an vielen Schlüsselstellen zugunsten der Tabakindustrie aufgeweicht. "Wollen wir hier Leben retten oder Arbeitsplätze?", hat Borg noch in den Plenarsaal gerufen, um seine Reform zu retten. Aber in den meisten Punkten haben die Abgeordneten den Positionen der Lobbyisten recht gegeben, die Gefahren für Industrie, Landwirtschaft und Staatshaushalte beschworen haben. Und so wurden erhebliche Abmilderungen beschlossen:

  • E-Zigarette: Elektronische Zigaretten dürfen auch künftig im Tabakhandel verkauft werden - und zwar in allen möglichen Geschmacksrichtungen, von Kirsche über wilde Minze bis hin zu Tiramisu. Die Kommission wollte ursprünglich die Apparate, die Nikotin verdampfen, statt Tabak zu verbrennen, als Arzneimittel einstufen, in die Apotheke verbannen und Aromen verbieten. Dagegen votierten die Abgeordneten. Dass es Werbebeschränkungen für E-Zigaretten geben soll (zuletzt zeigten die Hersteller sogar im deutschen Fernsehen ihre Spots), scheint die E-Zigarettenbranche nicht zu stören: Ihre Anhänger fielen sich auf den Zuschauerrängen des Parlaments jubelnd in die Arme.
  • Größe der Warnhinweise: Das Europaparlament will Verpackungen von Tabakprodukten künftig zu 65 Prozent mit Schockbildern und Warnhinweisen bedecken. Damit bleibt es hinter dem Entwurf der Kommission zurück, die 75 Prozent wollte. Bisher machen die Warnhinweise je nach Mitgliedstaat zwischen 50 und 65 Prozent aus. Immerhin schloss sich das Parlament Borgs Forderung an, die Warnungen und Fotos am oberen Rand der Schachtel anzubringen. Die Tabakkonzerne wollen das unbedingt verhindern, weil ihre Marke so beim Händler vom Regal verdeckt wird. Wie es aus Branchenkreisen heißt, wollen die Konzerne den Händlern nun aber neue Displays stellen.
  • Menthol: Der Stoff, der den Hustenreiz mindern und das Rauchen erleichtern kann, darf noch acht Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie den Zigaretten beigemischt werden. So hat es das Parlament auf Betreiben der größten Fraktion beschlossen: der konservativen EVP, der auch die CDU/CSU-Abgeordneten angehören. Die Kommission wollte Menthol und andere Zusatzstoffe verbieten. Immerhin soll es künftig eine Liste für Chemikalien geben, die nur auf Antrag der Hersteller beigemischt werden dürfen. Altkanzler Helmut Schmidt kann damit mindestens bis zu seinem 103. Geburtstag seine geliebten Menthol-Zigaretten qualmen.
  • Slims: Die ultradünnen Zigaretten in den schmalen, etuiähnlichen Verpackungen, von denen sich besonders Mädchen und junge Frauen angesprochen fühlen, bleiben erlaubt; sie müssen nur künftig in anderen Schachteln angeboten werden. Die EU-Kommission wollte die schlanken Zigarettchen komplett verbieten.

Dass echte Tabakzigaretten speziell für junge Raucherinnen erlaubt bleiben, Schoko-Zigaretten für Kinder hingegen verboten werden sollen, sorgt für Kopfschütteln im Parlament - bei Tabakgegnern wie -befürwortern. "Vielleicht ist das ein Kompromiss zwischen den großen Fraktionen", mutmaßt ein Parlamentarier. Und ein anderer Insider sagt hinter vorgehaltener Hand: "Das geht in Richtung Olivenölkännchen." Soll heißen: in Richtung kleinliche Brüsseler Bevormundungsbürokratie. Im Frühjahr wollte die EU-Kommission aus Hygienegründen Europas Restaurants verbieten, Kännchen mit Olivenöl auf die Tische zu stellen, kassierte den Vorschlag nach Protesten aber schnell wieder.

Das Verbot der Schoko-Zigaretten sei eine "unnötige Gängelung", sagt der FDP-Parlamentarier Jürgen Creutzmann, der sich für weniger Regulierung starkgemacht hat. Insgesamt aber werde "der mündige Bürger von diesem Abstimmungsergebnis nicht zu sehr eingeschränkt." Die Tabakgegner hingegen sind unzufrieden. "Philip Morris und die anderen Konzerne haben sich weitgehend gegen die EU-Kommission durchgesetzt", sagt die Grünen-Fraktionschefin Rebecca Harms. Und die SPD-Gesundheitsexpertin Dagmar Roth-Behrendt fordert: "Jetzt sollen die Abgeordneten, die im Sinne der Konzerne gestimmt haben, nach Hause gehen und ihren Wählern offen sagen: 'Wir sind der verlängerte Arm der Tabakindustrie.'" Die Branche hatte Hunderte Lobbyisten ins Feld geschickt, um die Abgeordneten umzustimmen. Die Schoko-Zigarettenindustrie konnte offenbar nicht annähernd so viele Interessenvertreter in die Schlacht führen.

Gültig wird der Beschluss des Parlaments allerdings erst, wenn auch die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten zugestimmt haben. Womöglich endeckt ja der Gesundheitsminister des einen oder anderen Mitgliedstaats noch sein Herz für die Schoko-Zigarette.

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