Reuters

Zinssenkung der EZB Draghis Drahtseilakt

Die Europäische Zentralbank senkt den Leitzins, mit billigem Geld will sie die Wirtschaft in den Krisenländern vor dem Totalabsturz schützen. Doch die Niedrigzinspolitik hat erhebliche Nebenwirkungen: Sie ist ein Alptraum für die deutschen Sparer - und mehrt das Risiko neuer Spekulationsblasen.

Hamburg/Bratislava - Mario Draghi gab sich keine große Mühe, das Bild zu beschönigen. "Die Wirtschaft ist in der Tat schwach", sagte der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) nach der EZB-Ratssitzung im slowakischen Bratislava. "Die Lage am Arbeitsmarkt ist schlecht." Mit dieser pessimistischen Einschätzung begründete der oberste Notenbanker eine Entscheidung von historischen Ausmaß: Die EZB senkt den Leitzins, zu dem sie Geld an Geschäftsbanken verleiht, von 0,75 auf 0,5 Prozent - so billig war das Geld in der Euro-Zone noch nie.

"Die Zinssenkung soll die Erholung im weiteren Jahresverlauf unterstützen", hofft Draghi. Viele Experten kritisieren die Entscheidung. "Die heutige Zinssenkung ist das falsche Signal", sagte der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer. Die Wirtschaft im Euro-Raum leide nicht an zu hohen Zinsen, sondern an zu wenig Fortschritten bei Reformen. Mit dem billigen Geld nehme die EZB den Reformdruck von den Krisenländern.

Dabei ist die Zinssenkung formal betrachtet nur konsequent. Der EZB blieb kaum etwas anderes übrig als das Geld weiter zu verbilligen. Laut ihrer Satzung  ist ihr vorrangiges Ziel die Preisstabilität im Euro-Raum. Darunter verstehen die Notenbanker eine Inflationsrate von knapp unter zwei Prozent. Zudem soll die EZB auch "die allgemeine Wirtschaftspolitik" in der EU unterstützen, "soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist".

Die Inflationsrate in der Euro-Zone ist zuletzt drastisch gefallen. Im April lag sie bei gerade mal 1,2 Prozent - so niedrig wie seit drei Jahren nicht mehr. Zugleich stecken große Teile des Euro-Raums in der Rezession. In 13 von 17 Ländern steigt die Arbeitslosigkeit, in Griechenland und Spanien liegt sie bei mehr als 27 Prozent. Die EZB kann da nur schwer untätig bleiben.

Mit der Zinssenkung verfolgt die Notenbank vor allem zwei Ziele:

  • Sie will die Kreditklemme in den südeuropäischen Krisenstaaten beheben. Obwohl die Leitzinsen schon jetzt niedrig sind, kommen vor allem kleine und mittelständische Unternehmen in Ländern wie Spanien, Portugal oder Griechenland kaum an Kredit. Selbst für kurzfristige Darlehen sind dort bis zu sechs Prozent Zinsen fällig. Das liegt vor allem an der anhaltenden Wirtschaftskrise: Die Banken leihen sich zwar Geld von der EZB, zögern aber, es an die Unternehmen weiterzugeben, weil sie nicht wissen, ob sie ihr Geld auch wiederbekommen. Zudem bauen sie als Folge der Finanzkrise lieber Kreditrisiken ab, als neue einzugehen.
  • Niedrigere Zinsen könnten auch den Wechselkurs des Euro drücken - und somit Exporte aus der Währungsunion günstiger machen. Das wäre vor allem für Unternehmen aus Krisenländern wie Spanien oder Italien eine Erleichterung. Auch Frankreich sehnt seit langem günstigere Wechselkurse herbei.

Ob die nun erfolgte Zinssenkung ausreicht, um diese Effekte zu erzielen, ist allerdings fraglich. Viele Experten bezweifeln, dass die Banken in Südeuropa großzügiger bei den Krediten werden, nur weil sie 0,25 Prozentpunkte weniger für das Geld zahlen müssen, dass sie selbst bei der Zentralbank aufnehmen. Denn schließlich lag der Leitzins mit 0,75 Prozent bereits historisch niedrig - geholfen hat es wenig.

Auch der Euro-Kurs lässt sich nicht so einfach nach unten drücken. Schließlich fahren die anderen großen Zentralbanken der Welt einen deutlich radikaleren Kurs als die EZB. Die US-Notenbank Fed hält den Leitzins für Banken schon seit geraumer Zeit bei 0 bis 0,25 Prozent und hat zudem ein gewaltiges Kaufprogramm für Staatsanleihen und Immobilienpapiere aufgelegt, um auch die Marktzinsen für die Wirtschaft niedrig zu halten. Noch heftiger arbeitet Japans Notenbank daran, die Konjunktur des Landes zu stimulieren - und die eigene Währung zu schwächen. Der Leitzins liegt bei Null bis 0,1 Prozent. Der neue Chef der Bank of Japan, Haruhiko Kuroda, will die Geldmenge bis Ende 2014 verdoppeln.

Die gefährlichen Nebenwirkungen des billigen Geldes

Die dauerhaften Niedrigzinsen rund um die Welt sollen die Wirtschaft vor dem Abrutschen in eine Dauerrezession schützen. Doch diese Therapie birgt auch gefährliche Nebenwirkungen.

  • Spekulationsblasen: Das billige Geld, das die Notenbanken in die Märkte pumpen, kommt zwar nicht in der Wirtschaft an, wohl aber an den Finanzmärkten. Dort fließt es vor allem in die Anlagen, die trotz der niedrigen Zinsen noch ordentliche Renditen versprechen - zum Beispiel Aktien. Obwohl die Euro-Wirtschaft in der Rezession steckt, steigen die Börsenkurse seit Monaten kräftig an. Mit fundamentalen Wirtschaftsdaten hat das nur noch wenig zu tun. Es besteht die Gefahr von Spekulationsblasen - und wenn diese irgendwann platzen, kann das gesamte Finanzsystem ins Taumeln geraten. So wie 2008 geschehen - damals löste der Crash am US-Immobilienmarkt jene Krise aus, deren Folgen Draghi nun erneut mit billigem Geld zu bekämpfen versucht.
  • Fehlsteuerung von Investitionen: Auch in der Realwirtschaft können die Niedrigzinsen Unheil anrichten. Unternehmen mit guter Bonität kommen derzeit so leicht und billig an Geld, dass sie zuweilen Entscheidungen treffen, die unter normalen Umständen kaum sinnvoll wären. Der Computer-Konzern Apple   etwa sitzt zwar auf einem Vermögen von 145 Milliarden Dollar, lieh sich diese Woche aber trotzdem 17 Milliarden Dollar bei Investoren - es ist ja so schön günstig. Das gepumpte Geld fließt in den Rückkauf eigener Aktien. Kurskosmetik statt Zukunftsinvestition.
  • Enteignung der Sparer: Die niedrigen Zinsen machen die Sparer seit Monaten ratlos - vor allem in Deutschland. Nach der neuerlichen Zinssenkung dürfte es für Tagesgeld, Sparbuch und Festgeld künftig noch weniger Rendite geben als bisher. Rechnet man die Inflation mit ein, verlieren die Anleger oft sogar Geld. In ihrer Verzweiflung kaufen viele von ihnen deshalb Wohnungen, Einfamilienhäuser oder Gold - und zahlen dafür oft überhöhte Preise. Ähnlich schwer haben es die Lebensversicherer. Sie haben ihren Kunden teilweise hohe Zinsen in Aussicht gestellt - und bekommen nun zunehmend Probleme, diese auch zu liefern.

Draghi und seine Kollegen wissen um diese Risiken. Doch sie gehen sie ein, um einen Totalabsturz der Wirtschaft in Südeuropa zu vermeiden. Auch eine weitere Zinssenkung schloss der EZB-Chef am Donnerstag nicht aus. Die EZB schaue sich alle Daten und Entwicklungen genau an - und falls nötig werde sie auch wieder handeln.

Viel weiter runter geht es beim Leitzins zwar nicht. Doch eine wichtige Waffe hat die EZB bisher noch nicht gezogen. Der Zinssatz für Einlagen der Geschäftsbanken bei der Notenbank bleibt zunächst bei null Prozent. Sollte die EZB diesen Satz unter die Nulllinie senken, müssten die Finanzinstitute eine Art "Strafgebühr" zahlen, wenn sie ihr Geld bei der Notenbank parken statt es an die Wirtschaft weiterzureichen. Das könnte die Kreditvergabe anregen - und zugleich den Kurs des Euro drücken.

Draghi deutete am Donnerstag an, dass er vor diesem Schritt nicht zurückschreckt. Die Notenbank sei hier "unvoreingenommen", sagte er. "Wir sind technisch darauf vorbereitet." Schon diese kleine Machtdemonstration reichte aus, um den Euro-Kurs abstürzen zu lassen: Binnen weniger Minuten fiel er von 1,32 Dollar auf 1,30 Dollar.

Mit Material von dpa-AFX
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