Fachkräfte-Debatte Mangelware Mensch

Ingenieure: Mittelständler haben eher Nachwuchsprobleme als Großkonzerne
Foto: Jens Wolf/ dpaHamburg - Kaum hat Deutschland die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten überwunden, scheint es für Politik und Wirtschaft nur noch ein Thema zu geben: Es droht der ökonomische Exodus - weil in vielen Branchen Fachkräfte fehlen.
Die These: Deutschland entwickelt sich in den kommenden Jahren zur Schrumpfrepublik - und das ist ein Problem für den Arbeitsmarkt. Immer mehr gut Ausgebildete gehen in Rente, immer weniger qualifizierte Jüngere kommen nach.
An diesem Dienstag dagegen hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Studie mit dem Titel "Fata Morgana Fachkräftemangel" veröffentlicht. In ihr schreibt Autor Karl Brenke, in wachstumsstarken Gebieten in Süddeutschland könnten zwar Arbeitskräfte fehlen - aber insgesamt sei in der Bundesrepublik kein knappes Angebot zu belegen. Denn Löhne für Fachkräfte sind kaum gestiegen, wie es bei Engpässen üblich wäre, es gibt mehr Arbeitslose mit Qualifizierung als offene Stellen und mehr Studienabsolventen in Technik und Naturwissenschaften.
Der Forscher nennt die IT-Industrie als Beispiel: Der Branchenverband Bitkom habe rund 28.000 offene Stellen registriert - rund drei Prozent von 850.000 Jobs insgesamt. Brenke: "Echten Mangel sehe ich da nicht." Bei der Bundesagentur für Arbeit waren im Oktober 2010 gut 30.000 IT-Fachkräfte arbeitslos gemeldet.
Wer hat Recht? Gibt es einen Mangel oder nicht? Beide Positionen klingen erst mal überzeugend. SPIEGEL ONLINE hat nachgefragt, wie es wirklich aussieht:
Andere Ökonomen - Ingenieure fehlen schon jetzt
Die Forscherkonkurrenz zeigt sich von den Ergebnissen der DIW-Studie überrascht. Zwar sei die Datengrundlage nicht ausreichend, um einen Fachkräftemangel empirisch eindeutig nachzuweisen, sagt Thomas Bauer, Vizepräsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI). "Es gibt aber sehr starke Indizien, die auf einen Fachkräftemangel hindeuten." Unternehmen hätten in der Rezession kaum Mitarbeiter entlassen und massive Einbrüche in der Arbeitsproduktivität hingenommen, um im erwarteten Aufschwung nicht qualifizierte Arbeitskräfte suchen zu müssen.
Auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht einen Fachkräftemangel, vor allem bei Ingenieuren. Experte Axel Plünnecke rechnet vor, dass pro Jahr fast 36.000 Ingenieure die Altersgrenze erreichen und aus dem Arbeitsmarkt fallen. Zusätzlich werden Zehntausende Stellen jährlich geschaffen. So ergibt sich ein Bedarf von mehr als 70.000 neuen Ingenieuren pro Jahr. An den Universitäten machen derzeit aber nur rund 47.000 ihren Abschluss. Von diesen Menschen kommt wiederum jeder Zehnte aus dem Ausland - und kehrt nach dem Studium in seine Heimat zurück. Deutschland verliert also netto Fachkräfte.
Außerdem fällt es im internationalen Wettbewerb um Hochqualifizierte zurück. Laut einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsentwicklung haben seit 2005 pro Jahr etwa 1500 Führungskräfte und Wissenschaftler mehr das Land verlassen, als ähnlich gut ausgebildete Menschen zugewandert sind.
Bundesagentur für Arbeit - dringend Potential nutzen
Die Bundesagentur für Arbeit sieht in Deutschland schon heute einen Mangel an Fachkräften. "Das war angesichts der demografischen Entwicklung auch nur eine Frage der Zeit", sagt Vorstandsmitglied Heinrich Alt. Ihm zufolge fehlen nicht nur in der Produktion qualifizierte Fachkräfte, sondern zum Beispiel auch in der Altenpflege. "Dort gibt es zahlreiche unbesetzte Stellen. Das liegt aber daran, dass die Mitarbeiter im Durchschnitt nur fünf Jahre in diesem Job bleiben." Um diese Arbeit attraktiver zu gestalten, müssten sich die Arbeitsbedingungen verbessern - zum Beispiel durch bessere Rahmenbedingungen.
Der Mangel an qualifizierten Arbeitnehmern werde bis 2030 noch deutlicher zu spüren sein, sagt Alt: "Derzeit sind elf Millionen Fachkräfte älter als 45 Jahre. Das heißt, wir brauchen jedes Jahr 550.000 Menschen, um diese Leute zu ersetzen." Dieser Bedarf werde nicht gedeckt angesichts immer weniger Schulabgängern.
Das Anwerben qualifizierter Ausländer könne nicht allein die Lösung sein, sagt Alt. "Aufgabe der Bundesagentur ist es, das Potential der in Deutschland lebenden Menschen in den Fokus zu rücken" - vor allem der folgenden vier Gruppen:
- 1,2 Millionen junge Menschen zwischen 18 und 30 haben keine Ausbildung - und nur die Hälfte einen sozialversicherungspflichtigen Job.
- Mehr als die Hälfte der 640.000 Alleinerziehenden haben zwar eine Ausbildung, gehen aber ihrem Beruf nicht nach, weil sie unter anderem keine befriedigende Betreuung für ihre Kinder finden.
- Bei Zehntausenden Migranten werden Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt, sie müssen deshalb Prüfungen wiederholen.
- Tausende Fachkräfte arbeiten in fachfremden Branchen - etwa Bäcker in Wolfsburg bei Volkswagen am Band.
Dax-Konzerne - Mangel droht in absehbarer Zeit
Für die meisten Dax-Konzerne ist der Fachkräftemangel mehr potentielle Gefahr als Realität. SPIEGEL ONLINE hat alle 30 Unternehmen angefragt, 27 haben geantwortet - und zwei Drittel von ihnen haben derzeit keinen erhöhten Bedarf an Fachkräften. Einzige Ausnahme: die Telekom. Der Konzern kann mehr als 100 Arbeitsplätze für Hochqualifizierte nicht besetzen. Sie sind seit mehr als einem Jahr frei.
12 von 27 Unternehmen - darunter Daimler und Adidas - erwarten langfristig keinen nennenswerten Mangel an Personal. "Der Markt wird enger, aber wir können alle Stellen besetzen", teilt RWE mit. Der Stahlkonzern ThyssenKrupp weist allerdings darauf hin, dass ein bekannter Großkonzern es in einem enger werdenden Markt leichter habe als mittelständische Unternehmen.
Viele Unternehmen erwarten in Zukunft einen größeren Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitnehmern. Zahlreiche Dax-Konzerne geben an, dass sie schon jetzt verstärkt um Top-Talente werben müssen. Der Kampf um die "besten Köpfe" verschärfe sich, teilt die Allianz mit. Der Bedarf an qualifizierten Nachwuchskräften werde "eher zu- als abnehmen", stellt auch Siemens fest. Die Dax-Konzerne bemerken außerdem, dass sich weniger Bewerber als früher um Ausbildungsplätze bemühen. Auch deshalb sieht rund die Hälfte der befragten Firmen Handlungsbedarf für die Politik in Sachen Fachkräftemangel.
Den Unternehmen geht es vor allem um erleichterte Zuwanderung. "Es wären unkomplizierte Regelungen zu begrüßen, um die Arbeitsmigration flexibel und bedarfsgerecht zu steuern", teilt Bayer mit. Alles sei dringlich willkommen, was die Politik für eine erleichterte Anwerbung tun könne, ist von Adidas zu hören - vor allem bei interessanten Kandidaten außerhalb der EU, ergänzt Munich Re.