Gefälschte Umfragen Die Macht der Marktforscher

Vor dem Haarshampoo-Regal eines Drogerie-Markts fällt die Auswahl schwer. Da gibt es Kraft&Glanz-Shampoo, Repair&Balance-Shampoo, Bio-Shampoo und welches mit Kokosöl, für gefärbtes, fettiges, trockenes Haar. Welches also kaufen? Und wie sieht es mit Duschgel, Waschmittel, Nagellack und Babynahrung aus? Jeder Kunde trifft beim Einkaufen Dutzende Entscheidungen, oft in kurzer Zeit. Überall ist die Auswahl riesig.
"Die Produkte sind so komplex, dass sie gar nicht objektiv bewertet werden können", sagt der Psychologe Peter Bak von der privaten Hochschule Fresenius in Köln. Wer liest sich schon die Inhaltsangaben auf einer Shampoo-Flasche durch, vergleicht sie mit wissenschaftlichen Studien zur Haarpflege und hat dann noch seine eigene Kopfhaut analysieren lassen?
"Einer der stärksten Einflüsse, die es gibt"
In einer solchen Situation kann eine Umfrage den entscheidenden Kaufanreiz geben - denn sie transportiert vermeintlich, was andere Menschen über ein Produkt denken. "Menschen orientieren sich an anderen Menschen", sagt Arnd Florack, der an der Universität Wien Konsumentenverhalten erforscht. "Der soziale Einfluss ist einer der stärksten Einflüsse, die es gibt", so Florack.
Und diejenigen, die zu wissen vorgeben, was andere Menschen über Produkte, Ideen, Themen denken, nennen sich Marktforscher. Sie arbeiten im Stillen - doch ihr Einfluss ist groß. Einige Zahlen, ein Prozentzeichen, schon greifen Kunden zu der vermeintlich beliebteren Ware. Auch in Unternehmen werden strategische Entscheidungen mit Zahlen aus der Marktforschung untermauert. Wichtige Investitionen hängen mitunter an den Ergebnissen der Umfrageinstitute.
Das wäre nicht weiter schlimm - wenn die Zahlen denn stimmten. Doch eine umfangreiche SPIEGEL-Recherche zeigt, dass in vielen Studien betrogen wird. Statt Menschen am Telefon zu befragen, werden die Ergebnisse teilweise frei erfunden. Große Namen der Branche, bekannte Institute wie die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) und Kantar TNS, sind mittelbar betroffen, es geht um alle möglichen Studien, über Autoglasscheiben, Haarwuchsmittel bis hin zu Krebsmedikamenten.

Dieser Artikel ist Teil der Serie "Die Akte Marktforschung". Tricksen, täuschen, manipulieren: Bei Umfragen in Deutschland wird geschummelt. Eine SPIEGEL-Recherche deckt Betrug in der Branche auf. Lesen Sie alle Texte dazu auf unserer Themenseite.
Wie groß der Einfluss von Umfragen auf Menschen ist, haben US-Forscher um Robert Cialdini von der Arizona State University in mehreren Experimenten untersucht. Besonders eindrücklich: die Handtuch-Studie. Dabei wollten die Wissenschaftler herausfinden, wie man möglichst viele Hotelgäste dazu bringen kann, ihre Handtücher mehrfach zu benutzen. Oft hängt in Hotelzimmern ein Schild, auf dem sinngemäß steht: "Bitte schützen Sie die Umwelt und verwenden Sie ihr Handtuch mehr als einmal." Cialdini und Kollegen entwarfen nun ein zweites Schild mit der Aufschrift: "Fast 75 Prozent aller Gäste benutzen ihr Handtuch mehr als einmal." Diese Alternative platzierten sie in einigen Zimmern eines Hotels im Südwesten der USA.
Das Ergebnis: In Zimmern mit dem Umwelt-Appell verwendeten 35 Prozent der Gäste ihr Handtuch mehrfach, in Zimmern mit dem Hinweis auf andere Gäste waren es 44 Prozent - der Hinweis darauf, was andere Menschen tun, war also wirkungsvoll. Der Effekt ließ sich sogar noch steigern. Dazu druckten die Forscher die Botschaft "Fast 75 Prozent aller Gäste in diesem Zimmer benutzen ihr Handtuch mehr als einmal" auf die Zettel. Damit stieg die Recycling-Rate auf 49 Prozent.
"Einfach nur noch Betrug"
"Je ähnlicher die befragte Gruppe einem selbst ist, desto größer ist der Effekt", sagt der Psychologe Florack. Also werden Mütter zu Babynahrung befragt, Frauen über 40 zu Antifaltencremes und Männer mit kreisrundem Haarausfall zu Haarwuchsmitteln. Und die Ergebnisse werden gerne im Marketing eingesetzt. Da ist dann von dem "beliebtesten Waschmittel Deutschlands" die Rede oder von der besonders hohen Kundenzufriedenheit.
Natürlich sind Umfragen nicht der alleinige Grund, ein Produkt zu wählen, Kaufentscheidungen sind komplex. Aber man dürfe ihre Wirkung auch nicht unterschätzen, sagen Psychologen. Marktforscher haben also eine große Verantwortung, auch weil Verbraucher Manipulationen selbst nicht entdecken können. "Studien werden von Konsumenten selten kritisch hinterfragt", sagt Florack. Und wenn die Ergebnisse gefälscht sind? "Schon ohne Fälschung ist fraglich, ob Umfragen wirklich die Behauptungen stützen, die Unternehmen in ihre Werbung schreiben", so der Kölner Forscher Bak. "Aber wenn nicht mal die Daten dahinter stimmen, ist es einfach nur noch Betrug."
Es ist eine kleine Branche, die die deutschen Verbraucher vermisst - oder das zu tun behauptet. Der Umsatz stagniert seit einigen Jahren bei rund 2,5 Milliarden Euro, berichtet das Branchenmagazin "Research & Results". Zum Vergleich: Die deutsche Baubranche etwa setzt rund 240 Milliarden Euro um, wie das Statistische Bundesamt ermittelt hat.
50.000 Interviews pro Tag - angeblich
Nach Angaben von Research & Results gab es im Jahr 2016 in Deutschland insgesamt 113 Marktforschungsinstitute. Das Geschäft wird dominiert von wenigen großen Instituten. Die GfK ist der unangefochtene Marktführer mit einem Umsatz von rund 1,5 Milliarden Euro. Auf den Plätzen zwei bis vier folgen Kantar TNS, Nielsen und Ipsos.
Die meisten von ihnen sind im Branchenverband ADM organisiert. Deren Mitglieder führten im Jahr 2016 nach Verbandsangaben 18,2 Millionen quantitative Interviews durch, das sind rund 50.000 Interviews pro Tag. 36 Prozent davon wurden am Telefon gemacht - angeblich. Denn wie Abertausende Dokumente zeigen, die ein SPIEGEL-Team ausgewertet hat, wird bei vielen Telefonumfragen betrogen. In diesen Fällen wird nur eine kleine Anzahl Bürger tatsächlich befragt, die restlichen Antworten sind häufig frei erfunden.
Umfrage bestimmt Gehalt
Über eine Kette von Sub- und Subsubunternehmern landen diese Ergebnisse schließlich wieder beim Auftraggeber. Die Unternehmen nutzen sie nicht nur, um Kunden zu überzeugen. Auch Manager gründen ihre Entscheidungen zum Teil auf Marktforschungsergebnisse: Gibt es einen Markt für ein neues Produkt? Wie bekannt und wie beliebt ist eine Marke? "Marktforschung ist von essentieller Bedeutung", sagt Manfred Schwaiger, Professor am Institut für Marktorientierte Unternehmensführung der LMU München. Zum Beispiel, um die Kundenzufriedenheit im Laufe der Zeit zu messen. "Das ist nur mit Marktforschung möglich", sagt Schwaiger.
Wie Marktforschung funktioniert - theoretisch
Auch ein interner Vermerk der Firma Carglass zeigt die Relevanz: "Die Marktbefragung ist nötig, um Informationen über den Autoglasmarkt in Deutschland zu erhalten und um aktuelle Entwicklungen kontinuierlich zu messen. Diese Umfrage ist ausgesprochen wichtig - und wird immer wichtiger - für CARGLASS, da die Ergebnisse als Grundlage für strategische Entscheidungen dienen!"
Bei einigen Dax-Konzernen hängen sogar Bonuszahlungen des Vorstands davon ab, wie zufrieden Kunden mit den Unternehmen sind. Ermittelt wird das übrigens mit Hilfe von Umfragen.