Insider-Verdacht an der Wall Street "Wie ein Raubüberfall"

Demonstranten in New York (Archivbild): Der Wall Street droht ihr größter Insider-Skandal
Foto: Mario Tama/ Getty ImagesJohn Kinnucan saß auf der Veranda seines Hauses in Maine bei einem gemütlichen Wein. Plötzlich fuhr ein grauer Wagen vor. Zwei Männer in Anzügen sprangen heraus - FBI-Agenten, wie sich schnell herausstellte.
Binnen Minuten fand sich Kinnucan, 53, ein erfolgreicher Wall-Street-Firmenberater, im Kreuzverhör. Die Beamten - "milchgesichtige Streber", wie er sie später abfällig nannte - hätten ihn des Insider-Handels beschuldigt. Sie hätten ihm mit Festnahme gedroht, würde er nicht als Informant kooperieren und heimlich Telefonate mit seinen Klienten aufzeichnen. Er habe sich empört geweigert.
Die filmreife Szene Ende Oktober, die Kinnucan jetzt dem "Wall Street Journal" schilderte, bietet einen ersten Einblick in den womöglich größten Insider-Fall der Börsengeschichte. Nach Informationen des "WSJ" und anderer Medien bereitet die US-Justiz eine Flut konzertierter Anklagen gegen Dutzende Wall-Street-Akteure vor, darunter prominente Hedgefonds-Manager und Firmenberater. Erste Festnahmen könnten noch dieses Jahr erfolgen, jedenfalls "in den nächsten Wochen".
Am Montag bestätigte das FBI Razzien bei zwei Hedgefonds, Diamondback Capital Management und Level Global Investors. Level bestätigte die Durchsuchungen. Weitere offizielle Informationen gab es aber nicht.
Das Ausmaß der dräuenden Klagewelle beunruhigt selbst die Wall Street, für die Insider-Handel kaum ein neues Phänomen ist. Die Straf- und Zivilverfahren, die vom FBI, der New Yorker Staatsanwaltschaft und der US-Börsenaufsicht SEC gemeinsam geführt würden, seien das Ergebnis dreijähriger Ermittlungen, heißt es. Sie beträfen Firmenberater, Investmentbanker, Hedgefonds- und Investmentfonds-Manager sowie Börsenanalysten "im ganzen Land". Auch die Wall-Street-Bank Goldman Sachs und die Deutsche Bank werden genannt, jedoch ohne konkretere Angaben.
"Illegaler Insider-Handel grassiert"
Den Recherchen zufolge zielen die Anklagen auf ein gigantisches, weitverzweigtes Netzwerk aus "mehreren Insider-Handel-Ringen", die Millionensummen erschwindelt hätten - zu Lasten von Laien-Investoren. Im Mittelpunkt dieses Netzwerks stehe die 1,7 Billionen Dollar schwere Hegdefonds-Branche. "Falls sich die Ermittlungen bestätigen, könnten sie eine Kultur des tiefgreifenden Insider-Handels an den US-Finanzmärkten enthüllen", so das "WSJ".
Wie ernst die Sache ist, das bekam auch John Kinnucan an jenem Tag zu spüren, als er in Maine ungebetenen Besuch vom FBI bekam. Kinnucans Firma Broadband Research versorgt Wall-Street-Unternehmen mit Informationen über die Tech-Industrie. Das FBI habe verlangt, dass er seinen Hedgefonds-Klienten SAC Capital Advisors ausspioniere - im Gegenzug für Strafmilderung. Die SAC-Gruppe, die von dem legendären Milliardär und Kunstsammler Steve Cohen geführt wird, managt rund 16 Milliarden Dollar und steht wohl mit im Fadenkreuz der Fahnder.
"Es fühlte sich an wie ein Raubüberfall auf der Straße", klagte Kinnucan im "WSJ". "Sie prügelten von beiden Seiten auf mich ein." Wenn er nicht mitmache, werde er "Ärger bekommen". Kinnucan stritt aber jegliches Fehlverhalten ab. Sein Job sei kein Insider-Handel, sondern bestehe aus "harter Arbeit und Sachkenntnis". Noch in der Nacht habe er seine Klienten per E-Mail über den Vorfall informiert.
Kinnucans Unschuldsbeteuerung offenbart, wie umstritten das Thema Insider-Handel an der Wall Street ist. Hunderte Beraterfirmen wie Broadband Research haben sich darauf spezialisiert, Branchentipps und Industriewissen zu sammeln und zu verkaufen, damit ihre Kunden rechtzeitig von Fusionen, Firmenübernahmen oder anderen kursbewegenden Aktivitäten erfahren. Doch wo liegt die Grenze zwischen legaler Fachkenntnis und illegalem Insider-Handel?
Die US-Justiz zieht diese Grenze inzwischen sehr klar. Preet Bharara, seit 2009 Oberstaatsanwalt für New York, hat Insider-Handel zu seiner "Top-Priorität" gemacht. "Illegaler Insider-Handel grassiert und nimmt sogar noch zu", sagte er bereits voriges Jahr. "Nichtöffentliche Informationen ähneln leistungssteigernden Drogen, die illegal einen Vorsprung liefern, damit man so Rivalen überholt und noch mehr Geld machen kann."
Alte Kontakte, sorgfältig weitergepflegt
Viele Wall-Street-Akteure kritisieren diese Darstellung jedoch: Sie halten Insider-Informationen für lebenswichtig und wenig schädlich für den regulären Investor. "Es ist noch nicht mal klar, weshalb sie überhaupt verboten werden sollten", schreibt John Carney, leitender Redakteur beim US-Wirtschaftssender CNBC.
Einer der ersten Insider-Fälle, den Bharara im Oktober 2009 zur Anklage brachte, war auch der bis dahin größte in der Geschichte der Wall Street. Der Selfmade-Milliardär Raj Rajaratnam, Chef des Hedgefonds Galleon Group, und 22 weitere Angeklagte sollen sich mindestens 20 Millionen Dollar erschwindelt haben. Rajaratnam beteuert seine Unschuld und soll Anfang 2011 vor Gericht kommen. 14 andere Angeklagte haben sich jedoch bereits schuldig bekannt.
Der Fall Rajaratnam steht in direkter Verbindung zu den aktuellen Ermittlungen - er war offenbar nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs. Viele derjenigen, die sich in die Affäre verstrickt hatten, hoffen auf Strafmilderung, indem sie der Justiz Hinweise auf weitere Insider-Handel geben. Diese Hinweise, so heißt es, hätten die Fahnder nun zu dem breiten Netz illegaler Kungelei geführt.
Eine Sparte, auf die sich die Ermittler einschießen, sind die "Experten-Networks" aus unabhängigen Wall-Street-Beratern, die Hedge- und Investmentsfonds mit Hintergrundinformationen beliefern. Sie bestehen meist aus früheren Top-Firmenmanagern, die ihre alten Kontakte sorgfältig weiterpflegen.
Ein Drittel der Investmentfirmen an der Wall Street nutzt solche Networks. Die Berater verdienen Hunderte Dollar pro Stunde, indem sie unter anderem Telefonate und Meetings mit Tradern und Brancheninsidern arrangieren.
Unerklärlicher Kurssprung bei Schering-Plough
Viele der Informationen gingen offenbar an große Hedge- und Investmentfonds. Neben Steven Cohens SAC werden in der US-Presse auch Citadel Asset Management, Janus Capital, Wellington und MFS Investment Management genannt - einige der profiliertesten, bisher tadellosesten Namen der Industrie. Gegen wen jedoch ein konkreter Verdacht vorliege, blieb zunächst unbekannt.
First New York Securities, eine Trading-Firma in New York, bestätigte dem "WSJ", sie "kooperiere" mit den Ermittlungen. "Wir sind eines von mehr als drei Dutzend Unternehmen, die von den Aufsichtsbehörden gebeten wurden, allgemeine Informationen in weitreichenden Ermittlungen bereitzustellen." First New York stehe aber hinter seinen Tradern, "und unsere Systeme und Praktiken stehen in voller Übereinstimmung mit den regulatorischen Vorschriften".
Das "WSJ", das die detailliertesten Informationen hat, identifizierte unter anderem den Hedgefonds-Analysten Chip Skowron als Ziel der Ermittlungen. Skowron arbeitete für SAC und später für FrontPoint Partners, wo er Investments in Höhe von mehr als einer Milliarde Dollar gemanagt habe. Er habe Insider-Informationen von Yves Benhamou erhalten, einem französischen Arzt, den die SEC Anfang November angeklagt hatte, vertrauliche Interna über Medikamententests der Pharmabranche weitergegeben zu haben. Er sei inzwischen von FrontPoint beurlaubt.
Misstrauen der Fahnder weckte voriges Jahr auch ein unerklärlicher Kurssprung des Pharmariesen Schering-Plough - einen Tag, bevor bekannt wurde, dass er vom Rivalen Merck geschluckt werden sollte. Ähnliches geschah bei den Übernahmen von MedImmune durch AstraZeneca und von Advanced Medical Option durch Abbott. In diesen beiden Fällen werde auch die Beraterrolle der Wall-Street-Bank Goldman Sachs untersucht, schrieb das "WSJ". Die Deutsche Bank und UBS Financial Services, eine Tochter der Schweizer Bank UBS , hätten ebenfalls eine Aufforderung bekommen, interne Unterlagen zur Durchsicht vorzulegen.
Die Ermittlungen sind angeblich so weit gediehen, dass ein großes Geschworenengericht bereits Beweismaterial und Zeugenaussagen begutachte - der letzte Schritt zu förmlichen Anklagen.
Für John Kinnucan ist der Schaden allerdings jetzt schon angerichtet: Sein Geschäft sei seit der FBI-Visite "implodiert", berichtete er. "Ich muss mir nun eine andere Beschäftigung suchen."