Vorreiter in Europa Schweiz stimmt über Verbot von Pestiziden ab

Eine Initiative will aus der Schweiz das erste pestizidfreie Land Europas machen. Vor der Abstimmung ist der Widerstand gegen die Bio-Pläne groß – in der Chemieindustrie, unter Bauern, aber auch in der Bevölkerung.
Protest gegen die Agrar-Initiative an einem Bauernhof

Protest gegen die Agrar-Initiative an einem Bauernhof

Foto: MANUEL GEISSER / imago images/Geisser

Syngenta zählt zu den wichtigsten Unternehmen der Schweiz und will spätestens Mitte 2022 an die Börse. Der Basler Agrochemiekonzern macht einen großen Teil seines Geschäfts mit dem weltweiten Verkauf von Pestiziden. Im eigenen Land könnte der Einsatz solcher Agrarchemikalien künftig jedoch verboten werden – wenn sich eine entsprechende Initiative am Sonntag bei einer Volksabstimmung gegen die Verwendung der Pestizide in der Landwirtschaft durchsetzt.

Die Schweiz wäre damit das erste europäische Land, das synthetische Pestizide verbietet. Weltweit gibt es das bisher nur in Bhutan. Die Befürworter des Verbots argumentieren, dass die Pestizide die Gesundheit beeinträchtigten und die Artenvielfalt schädigten.

Drohen 40 Prozent Ertragseinbußen?

Die Hersteller verweisen darauf, dass die Pestizide streng getestet und reguliert seien und daher sicher verwendet werden könnten. Ohne sie, so Syngenta, würden die Ernteerträge kräftig einbrechen – das Unternehmen warnt vor Einbußen beim Ertrag von bis zu 40 Prozent.

Sollte der Vorschlag angenommen werden, hätte die Schweiz allerdings bis zu zehn Jahre Zeit für die Umstellung. Das Land könnte so zum Pionier für Biolebensmittel sowie ein Beispiel für den Rest der Welt werden, sagte der Schweizer Biowinzer Roland Lenz.

»Sauberes Wasser, eine der Grundlagen des Lebens, ist gefährdet«, sagte der 51-Jährige – und spielt damit auf die zweite Initiative an, über die die Schweizerinnen und Schweizer am Sonntag abstimmen sollen: eine Initiative zum Schutz des Trinkwassers. Durch sie sollen Subventionen an Bauern gestoppt werden, die Pestizide einsetzen oder ihren Tieren prophylaktisch Antibiotika verabreichen.

Lenz' Hof ist von Bauern umgeben, die gegen die Initiativen sind. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ist dagegen längst nicht klar, wie die Abstimmungen am 13. Juni ausfallen. Die Schweizer scheinen gespalten. Einer Umfrage der Schweizer Tamedia-Gruppe hatte die Zustimmung für die Trinkwasserinitiative zuletzt bei 48 Prozent und für das Pestizidverbot bei 49 Prozent gelegen.

Auch in Deutschland ist der Pestizideinsatz in der Landwirtschaft umstritten. Der Bundesrat hatte Ende Mai die Befassung mit einer Verordnung zur Begrenzung von Pestiziden kurzfristig vertagt. Unter anderem über den Umgang mit dem Wirkstoff Glyphosat und dessen Folgen für die Insekten hatte es in der Großen Koalition Streit gegeben. Das SPD-geführte Bundesumweltministerium befürchtet, dass das gesamte Paket zum stärkeren Schutz von Insekten in Gefahr sein könnte. Zuvor gab es viel Protest von Landwirten, die durch mehr Auflagen größere Einschränkungen und Einbußen befürchten.

Tomaten auf dem Balkon machen noch keinen Agrarexperten

In der Schweiz warnt ein Syngenta-Sprecher unterdessen die Bevölkerung vor einer Zustimmung zu den Initiativen: »Die Folgen eines Verzichts sind klar: weniger regionale Produkte, höhere Preise und mehr Importe. Das ist weder im Interesse der Verbraucher noch im Interesse der Umwelt.«

Die Initiative für sauberes Wasser will auch, dass die Landwirte kein importiertes Tierfutter mehr verwenden, um die Zahl der Kühe, Schweine und Hühner in der Schweiz zu begrenzen, deren Gülle ebenfalls das Trinkwasser belasten kann.

»Den Menschen wurde ein romantisches Bild der Landwirtschaft in der Schweiz verkauft, das weit von der Realität entfernt ist«, sagt Pascal Scheiwiller, der die Kampagne für sauberes Wasser unterstützt. Er schätzt, dass bereits eine Million Schweizer belastetes Wasser trinken.

Derlei Vorstöße bewerten viele Mitglieder des Schweizerischen Bauernverbands dagegen als Angriff auf ihre Lebensweise. »Viele Leute in den Städten denken, wenn zwei Tomaten auf dem Balkon ihrer Wohnung wachsen haben, verstehen sie etwas von Landwirtschaft«, sagte Martin Haab, Präsident des Zürcher Bauernverbands. Er verweist auf die Zeit vor 200 Jahren, als Pflanzen und Tiere nicht geschützt werden konnten und es in der Schweiz und in ganz Europa Hunger gab.

Haabs Sohn Dominic, der einen Milchviehbetrieb nahe Zürich betreibt, warnte wiederum vor brutalen Folgen für die Landwirtschaft. Auch die lokalen Unternehmen wären von einem Rückgang der Tierzahlen betroffen, um die Futterbeschränkungen einzuhalten.

Für den Winzer Lenz dagegen ist der weitere Einsatz von Pestiziden »reiner Wahnsinn«. Außerdem sei es möglich, auf andere Techniken umzusteigen, etwa auf den Anbau von Früchten mit dickerer Schale, um diese so pilzresistent zu machen. »Mit einem Ja zu beiden Initiativen kommen wir endlich vom Chemiezeitalter zurück ins Biozeitalter.«

apr/Reuters
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