Madoff-Treuhänder Picard Der Rächer der Entrechteten

Madoff-Treuhänder Picard: Sie nennen ihn den "Liquidator"
Foto: BRENDAN MCDERMID/ REUTERSSie nennen ihn den "Liquidator", den Anwalt "mit dem härtesten Auftrag der Welt", den "globalen Schatzsucher". Bei manchen gilt er aber auch als dubioser Charakter, der nicht weniger ein Abzocker ist als der, dessen Untaten er rächt.
Rechtsanwalt Irving Picard, 69, wählte das Rampenlicht nicht, als ihn das New Yorker Konkursgericht vor zwei Jahren zu seinem Treuhänder berief, um die verschwundenen Milliarden des Jahrhundertbetrügers Bernard Madoff wieder einzutreiben.
Der heute 72-Jährige Madoff hatte über Jahre Geld von Investoren eingesammelt und die Ausschüttungen mit den Beiträgen immer neuer Anleger bezahlt. In der Finanzkrise brach das 65 Milliarden Dollar schwere Schneeballsystem zusammen - der größte Betrugsfall der Finanzgeschichte wurde offenbar. Ein Gericht verurteilte Madoff im Juni 2009 zu 150 Jahren Gefängnis. Die Strafe sitzt er in einem Bundesgefängnis in North Carolina ab.
Und nun auch noch die Sache mit dem Selbstmord.
Der spektakuläre Suizid des ältesten Madoff-Sohns Mark in Manhattan rückte die mutmaßliche Komplizenschaft der Familie in den Vordergrund dieses seit zwei Jahren gärenden Mammutskandals. Und auch die Rolle Picards, dessen Routinejob als Konkurstreuhänder melodramatische Züge annimmt.
Es war Picard, der Mark Madoff - im Verbund mit seinem Bruder Andrew und einem halben Dutzend Ex-Mitarbeitern - vorige Woche auf Rückzahlung von 80 Millionen Dollar verklagt hatte. Beide Madoff-Söhne beteuerten stets ihre Unschuld, doch die Öffentlichkeit akzeptierte das nie, und Picard bombardierte die Familie mit Zivilklagen.
"Keiner will die Wahrheit hören", klagte Mark Madoff in einer nächtlichen E-Mail an seine Frau, bevor er sich am Samstag in seinem Penthouse im Szeneviertel Soho erhängte. Es ist unklar, ob das nur das letzte Lamento eines Mittäters war oder der Aufschrei eines unschuldigen Opfers.
Ein mächtiges Schwert
Irving Picard jedenfalls steuert seinen Kurs unbeirrbar: Knallhart schleppt er alle mutmaßlichen Komplizen, Betrugshelfer und moralischen Mitläufer des Madoff-Komplotts vor Gericht. Ob Angehörige, Angestellte, Großbanker oder Kleinbankiers: Niemand ist vor Picards Rache sicher.
Allein in der letzte Woche vor Ablauf der Klagefrist am Samstag, dem zweiten Jahrestag der Madoff-Verhaftung, stieß Picard eine Klagewelle gegen Dutzende Geldinstitute, Hedgefonds und Einzelpersonen an. Er will sie zur Herausgabe von insgesamt rund 31 Milliarden Dollar zwingen. Darüber hinaus hat er bisher mehr als 3,3 Milliarden Dollar eingetrieben, meist durch außergerichtliche Einigungen mit Angeklagten, die einen öffentlichen Prozess scheuen.
Als willige Vollstrecker und Mittäter Madoffs nahm Picard unter anderem die Citibank, JPMorgan Chase, UBS, HSBC, Mass Mutual, die spanische Banco Santander, die Schweizer Union Bancaire Privée und die österreichische Privatbank Bank Medici ins Visier. Begründung: Alle seien wissentlich Zwischenstationen für Madoff-Gelder gewesen.
Die Bank Medici ruinierte die Affäre. Ihre Gründerin und Mehrheitseignerin, die schillernde Madoff-Vertraute Sonja Kohn aus Wien, die sich selbst als Opfer bezeichnete, ist abgetaucht, nachdem Picard sie persönlich mitverklagt hatte. Auf 19,9 Milliarden Dollar, die bisher größte Einzelsumme. Begründung: "In Sonja Kohn fand Madoff eine kriminelle Seelenverwandte, deren Gier und unehrliche Erfindungsgabe seiner eigenen gleichkam."
Es ist ein mächtiges Schwert, dass Picard da schwingt in seinem Büro im elften Stock des Rockefeller Centers. Als Top-Mitglied der weltweiten US-Großkanzlei Baker Hostetler hat er zwar lange Erfahrung mit Konkursfällen. Doch das Madoff-Labyrinth ist selbst für ihn neu: "Noch nie war ich in ein Verfahren von diesem Ausmaß verwickelt", sagte er neulich in einem Interview mit "Fraud", dem Branchenblatt der Association of Fraud Examiners, der Lobby der Betrugsfahnder.
Ruth Madoff muss um Taschengeld betteln
Zusammen mit seinem Chef-Syndikus und "Bluthund" (CBS News) David Sheehan hat Picard 16.394 Anspruchsanträge potentieller Madoff-Opfer geprüft - und davon 15.751 anerkannt. 96,08 Prozent, wie er akribisch notiert. Dann setzte er sich daran, die Gelder wieder aufzutreiben. Koste es, was es wolle. "Diesen Job kannst du nicht erledigen, wenn du dünnhäutig bist", bemerkte er einmal.
Picard handelt als Bevollmächtigter der Securities Investor Protection Corporation (SIPC), einer Art Unfallversicherung für Investoren. Als solcher vertritt er die Gläubiger in Konkursverfahren, eine sonst recht sperrige, theoretische Spezialität, die ihn trotzdem regelmäßig zu einem der "100 Super Lawyers" der USA machte. In diesem Fall aber bedient er nun auch noch die sehr realen Gefühle der Madoff-Opfer und die reichen von Rache, Wut und Trauma bis untröstlichem Schmerz; zwei Investoren haben sich gar das Leben genommen.
Außerdem hält Picard die Madoffs selbst am kurzen Zügel. Neben den etlichen Zivilklagen hat er Madoffs Gattin Ruth genötigt, 80 Millionen Dollar ihres Erbes aufzugeben. Heute lebt sie bei ihrer Schwester in Florida, weit weg von ihrem einstigen Luxus-Dasein auf Manhattans Upper East Side, und fährt angeblich Essen für Obdachlose aus. Jeden Monat lässt sich Picard ihre Ausgaben vorlegen. Jeder Einzelposten über 100 Dollar muss von ihm abgezeichnet werden. Ruth Madoff muss um Taschengeld betteln.
Picard erlernte sein Handwerk ironischerweise bei der Behörde, die den Madoff-Betrug jahrzehntelang übersah: der US-Börsenaufsicht SEC, für die er nach seinem Jurastudium arbeitete. 1982 wechselte er ins Privatgeschäft, bei Baker Hostetler ist er seit Ende 2008. Madoff war sein erster großer Fall.
Opfer als Mittäter?
Seine Fahndung beschränkt sich nicht auf die Wall Street. Er spürt den Madoff-Milliarden auf der ganzen Welt nach: Spanien, Großbritannien, Irland, Frankreich, Schweiz, Österreich, Luxemburg, Kanada, Gibraltar, Bermuda, Cayman Islands, Bahamas. Eine Sisyphus-Arbeit: "Es ist unwahrscheinlich, dass wir alle Summen eintreiben", sagt er. Per Gesetz stehen jedem Madoff-Opfer höchstens 500.000 Dollar Rückerstattung zu.
Opfer, die von Madoff mit den Einlagen anderer Opfer kompensiert wurden, wie das bei einem solchen Schneeballsystem üblich ist, können von Picard wenig erwarten. Wer einst sogar mehr von Madoff bekam, als er investiert hatte, ist noch schlechter dran: Diese Opfer hat Picard ebenfalls verklagt - auch wenn sie meist nicht wussten, dass die Gelder illegal angehäuft wurden.
So finden sich manche Opfer plötzlich als unwissentliche Täter gebrandmarkt. Picard lässt zwar mildernde Umstände gelten - etwa für "solche Leute, die älter sind oder finanzielle Probleme haben". Doch in einigen Fällen geht er ebenso beinhart gegen die Geschädigten vor wie gegen die Madoffs selbst.
"Mr. Picard versucht, die Verantwortung auf die Investoren abzuschieben", schimpft die New Yorker Pensionärin Ronnie Sue Ambrosino, die von Madoff um ihre gesamten Lebensersparnisse gebracht wurde und eine Interessengruppe für Betroffene gegründet hat. "Ich frage mich, ob ein Betrugsprüfer selbst wegen Betrugs überprüft werden kann?"
Picard gibt sich unbeirrt. Nicht zuletzt wohl auch, weil er an dem Fall gut verdient. Seine Anwaltsgebühren schätzte das "Time"-Magazin kürzlich auf mindestens 30 Millionen Dollar.