Marode Staatsfinanzen Deutschland verfällt dem Schuldenrausch

Mehr Geld, mehr Aufschwung, mehr Schulden - im Kampf gegen die Krise steuern Bundesregierung und Banken einen gefährlichen Kurs: Den Staatsfinanzen droht eine jahrelange Misere. Der Wachstumskult hat die ganze Gesellschaft erfasst, ein Neuanfang ist dringend nötig.
Von Wolfgang Kaden
Frankfurter Bankenskyline: Spottbilliges Geld für den Aufschwung

Frankfurter Bankenskyline: Spottbilliges Geld für den Aufschwung

Foto: DPA

Hamburg - Neulich saß Axel Weber im Zentralbankrat und machte sich Gedanken, wie die Geldpolitik der bedeutendsten Euro-Institution in den nächsten Monaten aussehen würde. Der Präsident der Deutschen Bundesbank fragte sich, wer im Kreis der Räte wohl für einen strafferen Kurs stimmen würde - und wer weiterhin für billiges Geld plädiert.

Auf einem Zettel vor ihm standen 22 Namen - die der Notenbankpräsidenten aus den 16 Euro-Staaten und die der sechs Mitglieder des EZB-Direktoriums. Um den Namen jedes Kollegen, bei dem Weber vermutete, er oder sie würde für eine weiche Linie stimmen, machte der Bundesbanker mit einem gelben Stift einen Kringel. Dann zählte er und kam zu einem eindeutigen Ergebnis: Die Freunde niedriger Zinsen und billigen Geldes haben in der Euro-Bank eindeutig die Mehrheit.

Die EZB, davon dürfen wir getrost ausgehen, schöpft weiterhin aus dem Vollen. Sie wird auch in den nächsten Monaten Geld fast zum Nulltarif an die Banken verteilen. Derzeit liegt der fundamentale Zinssatz in Europa bei einem Prozent, in den USA gibt es Geld faktisch umsonst. Geld, Geld, Geld im Überfluss. Und obendrein verschulden sich Staaten noch mit Milliarden für Konjunkturprogramme.

Das Ergebnis ist eine Geldschwemme ohnegleichen - und eine immer größer werdende Gefahr, dass wir eine neue Großblase produzieren. Nur: Wer wird dann für schuldig erklärt? Die Notenbanker, die Geschäftsbanker, die Politiker?

Wir alle sind es, die diese Blase mit produzieren

Vielleicht wäre es ganz angebracht, wenn wir mal bei uns selbst anfangen würden, statt immer nur die da oben verantwortlich zu machen. Ja, wir alle sind es, die diese Blase mit produzieren - als Teile einer Gesellschaft, die keine Phasen des Innehaltens und der Neuorientierung mehr zulässt. Die ohne ständig steigendes Sozialprodukt aus den Fugen gerät. Einer Gesellschaft, in der das Wort "Wachstum" zur meist gebrauchten Metapher in den Reden der Politiker und Manager aufgestiegen, zu einer Art Religionsersatz geworden ist.

Gierig sind eben nicht allein die Banker, maßlos nicht allein die Politiker. Gierig und maßlos sind wir alle. Das sieht man schon daran, dass wir uns von der neuen Regierung ein "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" verpassen lassen. Welch eine großartige Wortschöpfung! Das vielsilbige Ungetüm steht für eine Politik, die sich bedingungslos dem "Immer mehr!" verschrieben hat. Wachstum wird mit neuen Schulden erzeugt, wir können nicht mehr ohne die Schuldendroge. Wohlstand auf Kosten der Zukunft.

Die Banker gehen nur zu gern ihrem Job als Geld-Dealer nach, verteilen die vielen Milliarden, die ihnen die Notenbanken zinsgünstig rüberschieben. Und die Politiker handeln so, wie sie mit Blick auf ihre Wähler, also uns, glauben, handeln zu müssen: mehr "Schonvermögen" für Hartz-IV-Empfänger, weniger Mehrwertsteuer für Hoteliers, höheres Kindergeld für die Familien. Alle wollen, dass die Bonanza weitergeht.

Reagans gescheiterter Großversuch

Die Unternehmen lechzen nach Liquidität, derzeit ein Synonym für neue Schulden. Es gibt zu wenig, und die Geldhäuser müssen sich schwere Vorwürfe gefallen lassen, weil sie angeblich für eine "Kreditklemme" bei den Unternehmen sorgen. Die sieht so aus, dass die Banken Kredite für nicht so standfeste Unternehmen teurer machen, dass sie hohe Sicherheiten verlangen, oder dass sie sich weigern, bestimmten Schuldnern neues Geld zu leihen.

Was ist an diesem Verhalten eigentlich so tadelnswert, wie allerorten zu lesen und zu hören ist? Die Banker zeigen sich doch nicht knauserig, weil sie ihre Kunden ärgern wollen. Sie tun genau das, was sie vor Ausbruch der Krise allzu häufig unterlassen haben: Sie taxieren die Chancen, den Kredit zurückbezahlt zu bekommen. Sie gehen also keine allzu hohen Risiken ein. Kredite und Eigenkapital sollen in einem beherrschbaren Verhältnis bleiben.

Die heftige Kritik an diesem Verhalten ist ein schönes Indiz dafür, wie sehr sich viele an das Schuldenmachen gewöhnt haben, auch in der Privatwirtschaft. Wie empfindlich die Gesellschaft reagiert, wenn ihre Wohlfahrtsansprüche mit der ökonomischen Realität kollidieren.

Da müht sich auch die Politik nicht sonderlich um Solidität. Ohne Wachstum sei alles nichts, predigt Angela Merkel. Und wir lernen von ihr: Wachstum sei das Mantra, um die öffentliche Verschuldung wieder zurückzufahren. Also soll das Land mit höheren Schulden Wachstum produzieren, das dann hilft, den riesigen Schuldenberg abzutragen.

Diese wundersame Technik hat schon in den achtziger Jahren ein amerikanischer Präsident namens Ronald Reagan getestet. Das Experiment endete in einem Schuldenrekord. Spätestens seit Reagans gescheitertem Großversuch wissen die Ökonomen, dass die Selbstfinanzierung der Konjunktur über Schulden nicht funktioniert. Höchstens 30 bis 40 Prozent der eingesetzten Mittel werden wieder eingespielt.

Von der Wachstumsdroge abhängig

Aber so wenig wie wir allein die Banker für alle Übel dieser Welt verantwortlich machen können, so wenig sollten wir die Politiker zu den alleinigen Tätern erklären. Wir alle sind von der Wachstumsdroge abhängig. Wir sind das Volk, das zu Verzicht nicht bereit ist; das die Politiker gnadenlos abstrafen würde, wenn sie die Altschulden mit höheren Steuern abtragen oder den überbordenden Sozialstaat zurückschneiden würden. Die Sozialdemokraten haben bei ihren Hartz-IV-Reformen und der Rente mit 67 erlebt, wo Politiker landen, die dieser Gesellschaft Verzicht abverlangen.

Fotostrecke

OECD-Studie: Die wichtigsten Vergleichswerte

Foto: SPIEGEL ONLINE

Politiker haben längst verinnerlicht, dass es für Schuldenabbau keine Boni vom Wähler gibt. Sie haben begriffen, von den Linken bis zu den Freidemokraten, dass die Mehrzahl der Bürger nicht bereit ist zu irgendwelchen Einschränkungen. Der demokratisch regierte Wohlfahrtsstaat scheint unfähig zur Selbstkorrektur, weil die Gesellschaft ein Ende der Wachstumsparty nicht hinnimmt. Auch nicht nach einer so fundamentalen Krise wie der aktuellen.

In einem SPIEGEL-Interview hat Kurt Biedenkopf im Sommer darauf hingewiesen, dass die westlichen Gesellschaften seit über drei Jahrzehnten ihr Wirtschaftswachstum mit immer neuen Schulden beschleunigen. Mit Schulden der Staaten, der Unternehmen, der Privathaushalte. "Es war eine entgrenzte, aus den Fugen geratene Entwicklung", sagte er. Der pensionierte CDU-Weise mahnte, dieses Wohlleben auf Kosten der Zukunft nicht fortzusetzen. So wie es jetzt geschieht, mit praktisch kostenlosem Notenbankgeld und mit immer höheren öffentlichen Defiziten: "Gefährlich wird es, wenn Wirtschaftswachstum politisch als so unverzichtbar angesehen wird, dass seine Förderung Staatsverschuldung rechtfertigt."

Wie viel ist genug?

Den gleichen Tonfall wählte auch Bundespräsident Horst Köhler im März in seiner "Berliner Rede". "Wie viel ist genug?", fragte er seinerzeit. Köhler erinnerte an die Appelle Ludwig Erhards zum Maßhalten und mahnte: "Wir können uns nicht mehr hauptsächlich auf wirtschaftliches Wachstum als Problemlöser und Friedensstifter in unseren Gesellschaften verlassen".

Die Worte Köhlers und das Interview Biedenkopfs hätten eine Diskussion über Ziele und Grundwerte der Gesellschaft auslösen können, müssen. Doch sie verpufften wirkungslos. Die meisten Politiker und Unternehmer sind offenkundig genauso wenig wie die Mehrzahl der Bürger willens, sich mit dem alles überlagernden Wachstumsdogma auseinanderzusetzen.

Doch Umdenken ist zwingend - aus schlicht ökonomischen Gründen. Die Schuldenstrategie, die jetzt gefahren wird, führt geradewegs in die nächste Vermögensblase - die Aktien sind seit dem Frühjahr um rund 50 Prozent gestiegen - und in den nächsten Crash.

"Man kann Schulden nicht mit neuen Schulden und Defizite nicht mit Defiziten bekämpfen", sagt der Luxemburger Premier Jean-Claude Juncker, "irgendwann ist das Ende der Fahnenstange erreicht".

Ist der Zeitpunkt zum Umsteuern längst gekommen?

Natürlich lässt sich nicht bestreiten, dass Ende vergangenen und Anfang dieses Jahres der totale Zusammenbruch des Finanzsystems nur zu verhindern war, indem die Notenbanken als Kreditgeber der letzten Instanz und der Staat als Organisator von Konjunkturpaketen zur Hilfe eilten. Auch konnte keiner ernsthaft verlangen, dass wie in der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre die Staatsausgaben zurückgefahren werden.

Doch wie lang soll diese fröhliche Geld- und Schuldenproduktion fortgesetzt werden? Ist der Zeitpunkt zum Umsteuern nicht längst gekommen? In der Bankenwelt geht bereits der Begriff "Greenspan II" um. Soll heißen: Viel zu lang, wie nach dem Internet-Crash und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vom US-Notenbankchef Alan Greenspan praktiziert, schütten die Notenbanken die Geschäftsbanken mit Liquidität zu. Und die Regierungen hören nicht auf, mit massivem Defizitspending zu assistieren, aus Angst, ihren Bürgern Unangenehmes zumuten zu müssen.

Notenbanker wie Politiker sollten ihren Bürgern klarmachen, dass es nach dem Fast-Zusammenbruch keine schnelle Rückkehr zu alter Wachstumsherrlichkeit geben wird. Dass die Volkswirtschaften nur langsam aus dem tiefen Tal herausfinden können, wenn diese Erholung von Dauer sein soll. Dass neuerliches Doping mit Rekordsummen an Notenbankgeld und Staatsschulden nur in einem baldigen Crash enden wird. Schlimmer als je zuvor.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren