Abgasaffäre bei VW Retten, was zu retten ist

Womöglich elf Millionen betroffene Autos, mindestens 6,5 Milliarden Euro Kosten: Volkswagen rutscht immer tiefer in die Abgas-Affäre. Konzernchef Winterkorn verliert den Rückhalt.
Vorstandschef Winterkorn: In der Krise allein

Vorstandschef Winterkorn: In der Krise allein

Foto: Fredrik von Erichsen/ picture alliance / dpa

Dass es schlimmer kommen würde, war klar. Die Frage war nur: wie schlimm?

Drohende Milliardenstrafe, wütende VW-Kunden, Kurssturz der Aktie, das war gestern. Heute sind es elf Millionen Autos, die betroffen sein könnten - alle mit einem bestimmten Motortyp, bei dem laut Konzernmitteilung eine "auffällige Abweichung zwischen Prüfungswerten und realem Fahrbetrieb" festgestellt wurde. 6,5 Milliarden Euro hat Finanzchef Hans Dieter Pötsch reserviert, um die Kosten dieses Desasters abzudecken - allein für das aktuelle Geschäftsjahr. Erstmal. Vorläufig.

Wie das "Wall Street Journal" berichtet, hat das US-Justizministerium seine Experten für Umweltkriminalität mit Ermittlungen in der Sache betraut . Im US-Repräsentantenhaus soll es in den kommenden Wochen eine Anhörung zu dem Fall geben. Es kann also durchaus noch schlimmer kommen.

Mit starrem Entsetzen verfolgen Öffentlichkeit und Mitarbeiter den Crash von Volkswagen  . Sie sehen, wie der Mythos eines weltumspannenden Konzerns zerbröselt. Eines Konzerns, der zuletzt auf der Automesse IAA noch den Bau von umweltschonenden Qualitätsautos und die nachhaltige Produktion zu Kernbotschaften erkoren hatte. Und mittendrin Martin Winterkorn, den sie intern immer mit seinem Professorentitel ansprechen, so groß ist der Respekt, den sie ihm zollen.

Die Stimmung schlägt um. Denn niemand - nicht die Beobachter von außen, nicht die wenigen innerhalb des Konzerns, die sich derzeit zu dem Thema äußern - hat ein Argument parat, das zumindest im Ansatz die Verantwortung relativiert, die Winterkorn in der Abgas-Affäre hat. Die Frage lautet eigentlich schon nicht mehr, ob er gehen muss, sondern allenfalls wann.

Der Konzern will Zeit gewinnen

"Sie müssten erst Ersatz finden", mutmaßt Autoexperte Stefan Bratzel von der Fachhochschule Bergisch Gladbach. "Die Zeit könnte Winterkorn nutzen, um zur Aufklärung der Affäre beizutragen und sich so zumindest ein Stück weit zu rehabilitieren".

Offiziell bemüht man sich derzeit tatsächlich um Zeitgewinn. Zunächst sei eine gründliche Aufklärung nötig, damit VW das verlorene Vertrauen wiedergewinnen könne, sagte Olaf Lies, niedersächsischer Wirtschaftsminister und gleichzeitig Mitglied des VW-Aufsichtsrats in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Wenn klar sei, welche Personen verantwortlich sind, könne man die nötigen Konsequenzen ziehen. Auch personelle.

Wenn es schnell geht, könnte es bereits am Mittwoch soweit sein, denn dann setzt sich die Aufsichtsratsspitze zu einer Krisensitzung zusammen. Es gilt, die Tagesordnung für den Freitag zu überdenken. Ursprünglich wollte man über Winterkorns Pläne für die neue Konzernstruktur diskutieren. Und über die Verlängerung seines Vertrags um zwei weitere Jahre. Speziell der letzte Punkt, da sind sich die Beobachter einig, wird keine Rolle mehr spielen. Am Freitag nicht, und später auch nicht.

Laut einem Bericht des "Tagesspiegel" ist die Ablösung Winterkorns sogar bereits beschlossene Sache. Das sei "Schwachsinn", teilte der Konzern umgehend mit - und kurz darauf wandte sich der VW-Chef selbst in einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit: Er werde nicht zurücktreten, es wäre falsch, "wenn wegen der schlimmen Fehler einiger weniger die harte und ehrliche Arbeit von 600.000 Menschen unter Generalverdacht gerät", sagte Winterkorn. "Das hat unsere Mannschaft nicht verdient. Auch deshalb bitten wir, bitte ich, um Ihr Vertrauen auf unserem weiteren Weg", sagte er an Kunden, Behörden und Öffentlichkeit gewandt. "Wir klären das auf", betonte der 68-Jährige.

Ob das reicht, ist derzeit alles andere als gewiss. Noch vor wenigen Monaten hatte der Aufsichtsrat geschlossen hinter dem Vorstandschef gestanden, als es darum ging, ihn gegen Konzernpatriarchen Ferdinand Piëch zu verteidigen - nun bröckelt die Unterstützung.

Denn jetzt steht mehr auf dem Spiel als Kontinuität an der Spitze. Jetzt geht es um den Vertrauensverlust bei den Kunden, wegbrechende Märkte, Kurseinbrüche an den Börsen und die Gefährdung von Arbeitsplätzen. Deshalb sind nun auch die ersten Absetzbewegungen zu erkennen. Aufsichtsrat Lies etwa, mit seiner Ankündigung von Konsequenzen, oder - etwas verklausulierter - Betriebsratschef Bernd Osterloh, der sich überzeugt gab, dass Winterkorn freiwillig zurücktreten würde, wenn sich herausstellte, dass er selbst an dem mutmaßlichen Betrug beteiligt war.

Mögliche Nachfolger im Konzern

Klar, dass bereits die ersten Namen möglicher Nachfolger genannt werden. Laut "Tagesspiegel" soll Porsche-Chef Matthias Müller das Amt übernehmen. Der 62-Jährige war bereits im Frühjahr als Kandidat für die Übergangszeit gehandelt worden und genießt das Vertrauen der Haupteigentümer, also des Piëch-Porsche-Clans. Oder Rupert Stadler, der seit Langem sehr erfolgreich die noble Konzerntochter Audi führt. Ihm lastet allerdings der Makel an, kein Ingenieur zu sein, aber was gilt das noch in einem Konzern, in dem die alten Männer, die solche Regeln einst formuliert hatten, hinweggefegt werden.

Einen konsequenten Neuanfang würde am ehesten noch Herbert Diess verkörpern, der erst seit Kurzem die Marke Volkswagen führt. Er kennt die Mechanismen und Netzwerke in dem Riesenkonzern schon ein bisschen und hat doch noch genug Distanz, um aufräumen zu können. Die Frage ist nur, ob auch die mächtigen Arbeitnehmervertreter mitziehen. Bei ihnen nämlich genießt Diess den Ruf eines knallharten Kostendrückers, der Sparprogramme kompromisslos gegen Kritik der Belegschaft durchsetzt.

Doch womöglich spielen solche Pfründe und Animositäten jetzt erst mal keine Rolle mehr. Womöglich geht es jetzt erst einmal darum, zu retten, was noch zu retten ist.

Zusammengefasst: VW-Boss Martin Winterkorn beteuert seinen Willen, an der Aufklärung der Abgas-Affäre mitzuwirken. Die Frage ist nur, wie viel Zeit ihm dafür noch bleibt. Denn seine Ablösung ist nur noch eine Frage der Zeit.

VW-Amerika Chef im Video: "We screwed up"

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