Abrechnung eines Whistleblowers Schmutzige Geschäfte mit Mikrokrediten

Mikrokredite sollen den Ärmsten der Armen helfen, auf eigenen Füßen zu stehen. Doch was als gute Idee begann, werde mehr und mehr von profitgierigen Investoren ausgeschlachtet, sagt der Mikrofinanz-Insider Hugh Sinclair. Er ist ausgestiegen - und rechnet in einem Buch mit der Branche ab.
Von Sophia Sabrow
Kreditnehmer bei der Grameen Bank: Schuldenfalle Mikrokredit

Kreditnehmer bei der Grameen Bank: Schuldenfalle Mikrokredit

Foto: RAFIQUR RAHMAN/ REUTERS

Es klingt so einfach wie genial: Mit einem Kredit von 100 oder 200 Euro kann sich eine arme Frau in Bangladesch Nähmaschine und Stoffe kaufen und eine kleine Schneiderei eröffnen. Andere investieren in eine Teestube oder einen Laden. Mit den Erträgen aus diesen "Mikrounternehmen" lassen sich Zins- und Tilgungszahlungen bewältigen und es kommt etwas Wohlstand ins Haus. Wenn alles gut geht, müssen die Armen schon bald nicht mehr arm sein.

Für diese Idee bekam Muhammad Yunus 2006 den Friedensnobelpreis. Mehr als 30 Jahre, nachdem er mit der Gründung der Grameen Bank Mikrokredite für die Armen weltweit bekannt machte, sind sie zu einer 70 Milliarden schweren Finanzindustrie angewachsen. Doch der Traum, mit Krediten die "Armut ins Museum zu verbannen", ist heute so fern wie je. In den letzten Jahren häuften sich die kritischen Berichte. Mehr und mehr wissenschaftliche Studien konnten keine armutslindernde Wirkung von Mikrokrediten feststellen, während viele Kreditnehmer in einer Schuldenfalle stecken blieben. Selbst viele Mikrofinanz-Vertreter räumen inzwischen kleinlaut ein, dass der Einfluss der Kleinkredite unklar sei.

Die exorbitanten Zinsen von teilweise über 100 Prozent pro Jahr und die mitunter brachialen Methoden, mit denen die Rückzahlungen eingetrieben werden, lassen zusätzliche Zweifel an der sozialen Gesinnung der Branche aufkommen. Diese Zweifel dürften nun neue Nahrung erhalten.

Was zählt, sind Rückzahlungsquoten und Renditen

Am 9. Juli kommt das Buch des Mikrofinanzberaters Hugh Sinclair auf den Markt. In "Bekenntnisse eines Mikrofinanzheretikers" (so die deutsche Übersetzung des englischen Originaltitels) berichtet er aus seiner zehnjährigen Erfahrung als Angestellter und Berater kreditvergebender Mikrofinanzinstitutionen und Mikrofinanzfonds. Er sieht sich als "Whistleblower" in einer Industrie, die ihre Ideale verraten hat und die Weltöffentlichkeit systematisch täuscht.

Nach einem BWL-Studium glaubte Sinclair, mit einem Job im Mikrofinanzsektor die ideale Nische gefunden zu haben, um mit seinen Fähigkeiten etwas Gutes zu bewirken. Doch je tiefer er in die Branche eindrang, desto mehr Ungereimtheiten entdeckte er: Er stieß auf inkompetente, korrupte und zum Teil schlichtweg kriminelle Mikrofinanzorganisationen. Besonders zu schaffen machte ihm der Spagat zwischen der sozialen Mission einerseits und der Kommerzialisierung von Mikrokrediten andererseits.

Indem Mikrofinanzinstitutionen durch entsprechende Zinsraten profitabel operieren, können kommerzielle Investoren geworben werden, die den Mikrobanken das nötige Kapital für weiteres Wachstum zur Verfügung stellen. So lässt sich den Armen helfen, ohne dass es jemanden etwas koste, glaubte man. Doch schnell stellte sich heraus, dass man den Armen noch viel höhere Zinssätze abknöpfen konnte, und sich damit ordentliche Gewinne für die Investoren erzielen ließen. Wie die Kredite verwendet werden, ob für eine sinnvolle Unternehmensidee oder für Zigaretten- und Alkoholkonsum, wie sie zurückgezahlt werden und ob sie sich letztlich positiv auf das Leben der Armen ausgewirkt haben - all das sei für profitorientierte Investoren nebensächlich. Was zähle, seien Rückzahlungsquoten und Renditen.

Diese schmerzliche Erkenntnis zeichnet Sinclair detailliert in seinem memoirenhaften Buch nach. Einige Jahre lang arbeitete er für den niederländischen Investmentfonds Triple Jump, der unter anderem in die nigerianische Mikrofinanzinstitution Lapo (Lift Above Poverty Organization) investierte. Nach längeren Aufenthalten in Nigeria will Sinclair entdeckt haben, dass Lapo effektive Zinssätze von rund 125 Prozent im Jahr verlangte, die Spareinlagen seiner Kunden illegal konfiszierte und eine katastrophale Verwaltungsstruktur besaß. Als er seine Befunde bei Triple Jump darlegte und als später spezielle Mikrofinanz-Rating-Agenturen die Erkenntnisse bestätigten, erwartete er von seinen Arbeitgebern Empörung über die Zustände. Stattdessen hätten Triple Jump und andere Investoren - darunter auch die Deutsche Bank - verstärkt in Lapo investiert. Die Lust auf hohe Profite übertrumpfe die sozialen Ausgangsmotive, meint Sinclair.

Blick hinter die schöne Fassade der Mikrokredite

Je intensiver Sinclair sich mit Mikrofinanzinvestoren beschäftigte, desto deutlicher sei ihm geworden, dass es sich bei Lapo nicht um einen Einzelfall, sondern ein "systematisches Verhalten innerhalb der Mikrofinanz-Investment-Community" handele. Der Sektor sei von "Finanzgeiern besetzt worden", die mit Kleinkrediten einen fruchtbaren Nährboden für lukrative Investitionen gefunden hätten.

Sinclairs autobiographisches Buch ist originell und überaus unterhaltsam. Es ist keine systematische wissenschaftliche Analyse, die die Idee der Mikrokredite theoretisch attackiert. Vielmehr ist es das Tagebuch eines Insiders, der mit Witz und Charme erst seine Entfremdung von und dann seinen einsamen Kampf gegen die kultartige Mikrofinanz-Gemeinschaft schildert. "Es soll ein Buch sein, das man am Strand lesen kann", sagt Sinclair selbst. Den "Normalbürger", nicht nur den Experten, will er überzeugen, hinter die schöne Fassade der Mikrokredite zu schauen.

Doch genau das ist auch sein Problem: Sinclairs Buch geht zumeist nicht über die zufälligen Beobachtungen aus der Lebenswelt eines Mikrofinanzpraktikers hinaus, der gegen den Strom schwimmt. So lässt es eine profunde Einschätzung über die Rolle vermissen, die die Mikrokredite bei der Armutsbekämpfung tatsächlich spielen können. Nach den zahllosen düsteren Szenen kommt es dann geradezu überraschend, wenn Sinclair dem Sektor am Ende dennoch etwas Positives abgewinnt. Unvermittelt berichtet er von einigen wenigen "guten" Mikrokreditbanken, die zu angemessenen Zinssätzen Geld verliehen, Überschuldung der Kunden vermieden - und kaum Profite machten.

Sinclairs unsystematische lockere Vorgehensweise wird ihm unter den Insidern der Branche zu Recht den Vorwurf der Oberflächlichkeit eintragen. Sie wird aber auch dafür sorgen, dass die Kontroverse über Mikrofinanzierung erstmalig die Expertenkreise verlassen wird.

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