Müller Fleisch Die Fabrik der Infizierten

Fleischfirma Müller in Birkenfeld
Foto: Uli Deck/ dpaWomöglich lag alles ja nur daran, dass die Rumänen ein geselliges Volk sind. Sie kämen eben aus einem Kulturkreis, in dem gern gemeinsam gefeiert werde. So zumindest erklärt sich Stefan Müller, Geschäftsführer von Müller Fleisch bei Pforzheim, die rekordverdächtige Zahl von Corona-Erkrankungen unter seinen Mitarbeitern.
Ein Drittel der 900 Arbeiter in Schlachtung, Zerlegung und Verpackung ist infiziert. Die meisten sind Werkvertragskräfte aus Rumänien. 500 Rumänen arbeiten für Müller, oft schon über Jahre. Sie sind dort aber nicht angestellt, sondern bei Subunternehmen.
Inzwischen ist die gesamte Müller-Zentrale in Birkenfeld bei Pforzheim vom Landkreis unter Quarantäne gestellt worden. Selbst die Nicht-Infizierten müssen direkt nach der Arbeit ohne Umwege nach Hause. Sie dürfen nicht einkaufen oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Im nahen Schwarzwaldort Höfen seien bereits Strafanzeigen ergangenen, berichtet der Bürgermeister. Die Arbeiter säßen wegen ihrer beengten Wohnsituation "stundenlang auf Parkbänken". In dem etwas in die Jahre gekommenen Kurort im Enztal lebten 80 Müller-Arbeiter, 21 davon seien infiziert.
16 Menschen in einer Vierzimmerwohnung
In einem heruntergekommenen Gebäude in der Hindenburgstraße 8 ist das Elend zu besichtigen: Hier leben nach Auskunft der Gemeinde 16 Personen auf 117 Quadratmetern in einer Vierzimmerwohnung. Eine Regelung wie in Niedersachsen, die mindestens acht Quadratmeter Nutzfläche pro Person vorsieht und Kindern den Aufenthalt in derartigen Monteurunterkünften verbietet, gibt es in Baden-Württemberg nicht. "Uns sind die Hände gebunden", sagt der Höfener Bürgermeister.
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Dass die Infektionswelle weniger mit Geselligkeit als vielmehr mit seinem Geschäftsmodell zusammenhängt, also der Auslagerung von Arbeit an osteuropäische Billigarbeitskräfte und deren prekäre Unterbringung, das halte er für ausgeschlossen, sagte Stefan Müller am Mittwoch in einer Telefonkonferenz mit der Regionalpresse. Bereits vor dem Corona-Ausbruch habe sich der Betrieb auf Covid-19 vorbereitet. Man biete etwa kostenlos Desinfektionsmittel und Masken an.
Erst die Aufsichtsbehörden setzten allerdings durch, dass diese auch dann getragen werden müssen, wenn Abstandsregeln eingehalten werden können. Und dass der Mindestabstand auch in den Aufzügen gelten müsse, war bei Müller Fleisch offenbar nicht klar. In der Telefonkonferenz am Mittwoch verwies Müller auf seine Verantwortung: Man liefere "Care-Pakete" an die Mitarbeiter in häuslicher Quarantäne.
Unterbringung der Corona-Infizierten kostet schätzungsweise Hunderttausende Euro
Am Mittwochabend sind allerdings vier Vertreter der deutsch-rumänischen Gesellschaft in Pforzheim auf Hilfstour unterwegs. Sie arbeiten verschiedene Einkaufszettel ab. Auch Cristian Dumitrescu* hat bestellt und steht in Jogginghose und Unterhemd vor seiner Unterkunft in der Berliner Straße. Kalt ist ihm nicht, bei Müller Fleisch arbeitet er in der Zerlegung, bei fünf Grad.
Etwa 1500 Euro bekommt Dumitrescu dafür im Monat, das sei in Ordnung. Seit 22 Jahren arbeitet der 44-jährige Rumäne in Deutschland. Vorher war er lange bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück tätig, da sei es unfreundlicher zugegangen. Jetzt aber, sagt Dumitrescu leise, als ob er nicht zu viel fordern dürfe, "fühle ich mich meiner Freiheit beraubt". Schließlich sei er doch negativ getestet worden.
Zwei von seinen Mitbewohnern kommen die Straße entlang, sie waren noch kurz einkaufen, der eine ist blass im Gesicht, seine Augen sind gerötet. Beide waren infiziert und haben die Positiv-Quarantäne gerade hinter sich. "Ihr dürft nicht raus", sagt die Frau der deutsch-rumänischen Gesellschaft. Die beiden sind verunsichert, wissen nicht, ob sie die zwei Wochen der Arbeitsunfähigkeit bezahlt bekommen und ob sie den zweiten Test zur Entwarnung jetzt selbst zahlen müssen.
Sie waren in einem Tagungszentrum untergebracht, das der Landkreis neben einem aktuell leer stehenden Hotel und einer leer stehenden Rehaklinik zur Unterbringung der Corona-Infizierten angemietet hat. Die Kosten dafür trägt bisher die Allgemeinheit, sie werden schätzungsweise einige Hunderttausend Euro betragen. Müller Fleisch will sich daran beteiligen, hat aber gleich wissen lassen, dies sei nur eine "moralische" Verpflichtung, keine juristische.
Das Unternehmen beliefert fast alle Discounter, macht über eine halbe Milliarde Euro Umsatz und beherrscht wohl gut die Hälfte des Fleischmarkts in Baden-Württemberg. Seine Verantwortung hat es an Subunternehmer ausgelagert. Mit einem guten halben Dutzend solcher Firmen wird in Birkenfeld gearbeitet. Solche Dienstleister steuern eine Schattenarmee von Hunderttausenden osteuropäischen Arbeitern, die in Deutschland Spargel ernten, Fleisch zerteilen, Alte pflegen oder Kreuzfahrtschiffe zusammenbauen.
Ungleiche Verteilung der Risiken
In der jetzigen Krise zeige sich, wie systemrelevant diese vermeintlich unqualifizierten Tätigkeiten aus den "Randbereichen der Arbeitswelt" seien, schreibt Vladimir Bogoeski von der Hertie School of Governance in einem Beitrag für das Journal "Internationale Politik und Gesellschaft". Man brauche sich nur das mangelnde Geschick vieler neu angeheuerter Arbeitskräfte aus der Region beim Spargelstechen zu vergegenwärtigen, um "die Rede von der unqualifizierten Arbeit als Mythos" zu entlarven.
Die jüngsten Infektionsausbrüche unter Saisonarbeiterin in der Landwirtschaft oder in der Fleischverarbeitung zeigten allerdings, wie ungleich Risiken und Lasten für die Arbeiterschaft verteilt seien, schreibt Bogoeski: Selbst mitten in einer Pandemie könnten die aus der osteuropäischen "Peripherie" angeheuerten Arbeitskräfte im Hinblick auf Gesundheit und Sicherheit nicht annähernd den Standard ihrer Kollegen aus den westeuropäischen Heimatländern erwarten. Während die Spargelernte halbwegs sicher ist - die eingeflogenen Erntehelfer sind es nicht: In einem Containerlager eines Betriebs südlich von Freiburg starb Mitte April ein Erntehelfer, der sich mit Corona infiziert hatte.
Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".
Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.
Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.
Der abendliche Lieferdienst für die Rumänen ist inzwischen in Neuenbürg angekommen und hält vor einem ehemaligen Altenheim. Auch Frank Daudert, der Eigentümer, ist eingetroffen. Daudert, ein umtriebiger Gastronom aus Pforzheim, hat seit einigen Jahren mit der Vermietung von Altobjekten eine weitere Einnahmequelle erschlossen. Ein Dutzend solcher Mietobjekte für Werkvertragsarbeiter hat er im Angebot.
Daudert unterhält gute Kontakte zu einigen von Müllers Subunternehmern. Er hat ordentliche Häuser, die er ausnahmsweise vorzeigen kann - und andere, wo es gerade wegen Quarantäne nicht gehe. Auch das Ex-Altenheim lässt sich nur von außen zeigen. Ein Zimmer in dem renovierungsbedürftig wirkenden Gebäude kostet 240 Euro pro Monat.
Fenster hängen labil im Rahmen
Ein 25-jähriger Rumäne holt seine Einkäufe auf dem Parkplatz ab. Etwa 1200 Euro pro Monat verdient er bei Müller Fleisch. Große Sprünge wird er mit dem, was nach Miete, Fahrtkosten und Essen übrig bleibt, nicht machen können. Aber besser als sein vorheriger Job in der Coca-Cola-Fabrik in Temesvar sei das allemal.
Der junge Mann hat die 14 Tage Quarantäne nach seiner Corona-Infektion gerade überstanden. Zuvor war er im Dachgeschoss eines dreistöckigen Hauses in der Bahnhofstraße untergebracht, in Nachbarschaft der Neuenbürger Polizeiwache. Auch dieses Haus gehört Daudert, zeigen kann er es nicht.
Eine kurze Besichtigung am nächsten Morgen macht deutlich, dass es nicht zu seinen besseren Objekten gehört. Einige der schmutzigen Fenster im Erdgeschoss hängen so labil in ihren Rahmen, dass sie von außen mit Holzplatten verstärkt worden sind. Aus manchen Fenstern laufen Verlängerungskabel zum Nachbarfenster rüber. Ein Blick in ein Fenster zeigt ein paar Hanteln neben einem durchgelegenen Bett, auf einem Tisch Bierdosen und eine Flasche Weinbrand.
Der "Patient Null", ein Rumäne Ende 40, rief von diesem Haus aus am 7. April den Arzt, weil es ihm schlecht ging. Zwei Tage später war klar, dass er sich mit Corona infiziert hatte. Den 25-jährigen jungen Mann, der neben ihm im Dachgeschoss wohnte und mit ihm Bad und Küche teilte, hatte er wohl ebenso angesteckt wie neun weitere Bewohner.
Bereits am Abend des 7. April brach im Enzkreis das Chaos aus: Gegen 23 Uhr rief die Chefin des Gesundheitsamts bei Daudert an. Nach ihrer Belegungsliste waren 78 Personen in dem Haus in der Bahnhofstraße in Neuenbürg gemeldet - bei nur 24 Betten. "Ich war erstmal in Schockstarre", sagt Daudert. Seine Recherche habe dann ergeben, dass nur 21 Personen im Haus waren. Auch andere Listen waren ungenau. Man habe Tage gebraucht, "um aufzuklären, wer wo wohnte", sagt der Enzkreis-Landrat Bastian Rosenau.
Gewerkschaften fordern Unternehmerhaftung
Wohndaten der Werkvertragsarbeiter, war in der Lokalpresse zu lesen, habe Müller Fleisch nur zögerlich geliefert. Eine Schließung des Betriebs wegen der rapide steigenden Infektionszahlen sei "heftig" diskutiert worden, sagt Landrat Rosenau, einige Bürgermeister plädierten dafür. Man habe sich schließlich dagegen entschieden, aber nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen: Es sei einfach nicht möglich gewesen, auf einen Schlag 1100 Arbeiter und Angestellte nach Hause zu schicken und zu kontrollieren. "Auch die Gefahr, dass sich die Leute dann neue Arbeitgeber suchen und neue Infektionsherde entstehen, war zu groß."
Die Krise, so Rosenau, zeige allerdings, dass man eine rechtliche Handhabe brauche, damit die Wohnsituation der Werkvertragsarbeiter nicht entgleite. Lange schon fordern Gewerkschaften eine Unternehmerhaftung - Missstände könnten Firmen wie Müller Fleisch dann nicht mehr auf Subunternehmer abschieben. Rosenau sagt, es solle zumindest Mindeststandards für die Unterbringung geben wie in Niedersachsen.
Und Müller Fleisch? Will ab jetzt einen "offenen, direkten Draht pflegen", hieß es am Mittwoch.
Eines machten die Inhaber aber gleich klar: Die kompletten Kosten der Quarantänemaßnahmen des Landkreises würden sie nicht übernehmen.
*Name geändert