Ölpreis-Experte Lutz Kilian "Die Macht der Opec ist ein Mythos"

Ölfeld in Saudi-Arabien: "Chaotische Entscheidungsprozesse der Opec"
Foto: A2800 epa Jamal Nasrallah/ dpaSPIEGEL ONLINE: Wer ist schuld daran, dass sich Rohöl im vergangenen Jahrzehnt derart drastisch verteuert hat: die Ölförderorganisation Opec, die Spekulanten an den Rohstoffmärkten oder die gierigen Ölkonzerne?
Kilian: Ich muss Sie enttäuschen. Für den systematischen Preisanstieg von 2003 bis Anfang 2008 war fast ausschließlich der Energiehunger in den aufstrebenden Schwellenländern verantwortlich, allen voran China. Das hat die weltweite Nachfrage nach Rohöl enorm erhöht. Die Förderländer und die Spekulanten haben hingegen kaum zur Verteuerung beigetragen.
SPIEGEL ONLINE: Wie kommen Sie zu dieser Erkenntnis?
Kilian: Wir arbeiten mit strukturellen Modellen des Ölmarkts, in denen wir den Einfluss verschiedener Faktoren auf den Ölpreis gleichzeitig abschätzen können. Der Vorteil dieser Modelle ist, dass sie Kausalzusammenhänge sichtbar machen. Wenn wir die Modelle mit statistischen Daten aus der Vergangenheit - etwa zu Produktion, zum globalen Wirtschaftswachstum und zu Lagerbeständen - durchrechnen, können wir den Einfluss einzelner struktureller Faktoren auf die Preisentwicklung messen. Aktuell liegen solche Daten für den Zeitraum bis Mitte 2012 vor.
SPIEGEL ONLINE: Zurzeit schwächelt die Wirtschaft allerdings weltweit, auch in China. Trotzdem ist Rohöl in diesem Sommer um fast ein Drittel teurer geworden. Spricht das nicht für den Einfluss von Spekulanten?
Kilian: Es gibt Anzeichen dafür, dass Spekulation den Rohölpreis von Anfang 2012 bis zum Mai um etwa zehn Dollar erhöht hat. Vermutlich wird diese Spekulation von den Spannungen im Nahen Osten verursacht. Das ist aber immer noch wenig, verglichen mit dem aktuellen Ölpreis von mehr als 100 Dollar. Was seitdem geschehen ist, lässt sich erst beurteilen, wenn verlässliche Daten vorliegen.
SPIEGEL ONLINE: Welche Faktoren beeinflussen den Ölpreis denn überhaupt?
Kilian: Grundsätzlich kann Spekulation zweifellos den Ölpreis beeinflussen, der vor allem von drei Faktoren bestimmt wird:
- der Nachfrage nach Öl, die von der Weltwirtschaftskonjunktur abhängt,
- dem Angebot an Öl, das von den Ölproduzenten bestimmt wird, und
- den Erwartungen der Marktteilnehmer über diese Fundamentaldaten hinaus.
Diese Erwartungen sind wiederum eng verknüpft mit Spekulation. In diesem Jahr hat sich etwa der Konflikt um Irans Atomprogramm verschärft - viele Marktteilnehmer könnten also befürchten, dass ein Krieg Öllieferungen aus der Region behindern und so das Angebot erheblich verknappen wird. Ein ähnlicher Effekt lässt sich zum Beispiel für die Ölkrise von 1979 belegen. Damals kam es zu spekulativen Ölkäufen, als die Islamische Revolution in Iran Ängste vor einem Krieg in der Region schürte, während die globale Konjunktur Nachfrageerwartungen anheizte.
SPIEGEL ONLINE: Wieso treiben solche Ängste den Preis schon im Voraus?
Kilian: Weil Ölgesellschaften Rohöl auf Vorrat kaufen und lagern. Im Übrigen ist das ein segensreicher Effekt, sollte der Konflikt tatsächlich eskalieren: Erstens verfügen Ölgesellschaften dann über Reserven. Zweitens belohnt der höhere Preis schon jetzt sparsamen Verbrauch und dämpft die Nachfrage. Und drittens bietet er einen Anreiz, Öl auch zu höheren Kosten zu fördern.
SPIEGEL ONLINE: Dann sind Spekulanten also nützlich, weil sie Preisausschläge dämpfen? Wie steht es aber mit den Finanzinvestoren, die mit Milliarden auf den Terminmärkten für Rohöl spekulieren, ohne jemals physisches Öl verarbeiten oder an Kunden liefern zu wollen?
Kilian: Ihrer Frage liegt die Annahme zugrunde, es gäbe gute und schlechte Spekulation an Terminbörsen. Diese Unterscheidung ist aber in der Praxis unmöglich: Wer mit Öl handelt und sich mit Termingeschäften gegen Preisschwankungen absichern will, braucht schließlich jemanden, der diese Wette annimmt. Auch Spekulanten an Terminmärkten erfüllen also eine volkswirtschaftlich nützliche Funktion.
SPIEGEL ONLINE: Aber selbst der Großspekulant George Soros fordert, der zügellosen Zockerei auf den Terminmärkten Einhalt zu gebieten. Die täglichen Umsätze dort sind inzwischen dutzendfach höher als der tägliche Verbrauch von physischem Rohöl. Wo ist da der volkswirtschaftliche Nutzen?
Kilian: Dieser Vergleich ist unzulässig, denn Sie müssen auch die Laufzeit der Termingeschäfte - also die Zahl der Tage bis zu ihrer Fälligkeit - berücksichtigen. Wenn man das tut, summieren sich die Umsätze auf den Terminmärkten auf etwa die Hälfte des Rohölverbrauchs. Aber diese Frage ist im Grunde ebenso unerheblich wie die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Spekulation - denn niemand konnte bisher einen stichhaltigen Beleg dafür finden, dass Spekulationen jedweder Art von 2003 bis Anfang 2008 entscheidenden Einfluss auf den Preis hatten, den Rohölimporteure zahlen.
SPIEGEL ONLINE: Die Opec-Länder wie Saudi-Arabien fördern weitaus mehr Öl als der Rest der Welt. Ein solches Kartell muss doch entscheidenden Einfluss auf den Ölpreis haben.
Kilian: Die Macht der Opec ist ein Mythos. Sie hat nie großen Einfluss auf den Ölpreis gehabt und ist auch kein straff organisiertes Kartell. Gerade in den siebziger Jahren waren ihre Mitglieder undiszipliniert und die Entscheidungsprozesse chaotisch. Der beste Beweis für die Machtlosigkeit der Opec ist, dass sie nicht verhindern konnte, dass der Ölpreis 1998 auf neun Dollar fiel.
SPIEGEL ONLINE: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das weltweite Fördermaximum - das berühmte Peak Oil - erreicht wird, und die Nachfrage wächst weiter. Müssen wir uns darauf einstellen, dass Öl immer teurer wird?
Kilian: Nach den ursprünglichen Vorhersagen sollte Peak Oil schon seit 2006 Realität sein. Bisher hat es wenig Auswirkung auf den Ölpreis gehabt. Die Peak-Oil-Theorie erinnert mich an die Argumentation von Thomas Robert Malthus, einem einflussreichen Ökonomen des 19. Jahrhunderts. Er schrieb die damalige Entwicklung des Bevölkerungswachstums und der landwirtschaftlichen Produktion einfach in die Zukunft fort und prognostizierte, dass die Menschheit unweigerlich verhungern wird. Solche mechanischen Prognosen blenden aus, dass zunehmende Knappheit Innovationen befeuert.
SPIEGEL ONLINE: Was heißt das?
Kilian: So wie der Kunstdünger die Landwirtschaft revolutioniert und Malthus' Prognosen wertlos gemacht hat, scheint es auch beim Öl so, dass die Produktion etwa aus unkonventionellen Ölvorkommen oder Tiefseebohrungen stärker steigt als erwartet. Zudem werden alternative Energien und die effizientere Nutzung von Öl eine immer größere Rolle spielen. Auch wenn niemand weiß, wie die Zukunft aussieht, bin ich daher zuversichtlich, dass wir rechtzeitig einen Übergang zu einer anderen Form des Wirtschaftens finden.