

Neue Russlandsanktionen Amerikas dummer Alleingang


Sanktions-Befürworter Paul Ryan (Republikaner)
Foto: J. Scott Applewhite/ dpa
Sanktions-Befürworter Paul Ryan (Republikaner)
Foto: J. Scott Applewhite/ dpaDie USA sind mit sich selbst beschäftigt. Wer hat schon den Kopf frei für die Komplexität der Welt, wenn Donald Trump im Weißen Haus sitzt - und viel dafür spricht, dass er nicht ganz ohne fremde Hilfe dort gelandet ist?
Sowohl Demokraten als auch Republikaner sehen russische Einflussversuche auf die US-Wahl 2016 als das an, was sie sind: einen Angriff auf das Herz des amerikanischen Staates. Das US-Repräsentantenhaus hat deshalb jetzt mit breiter Mehrheit neue, sehr weitreichende Sanktionen gegen Russland auf den Weg gebracht.
Besorgniserregend daran ist, dass die Sanktionen weder mit den traditionellen US-Verbündeten abgestimmt sind, noch deren Interessen berücksichtigen. Von Trump erwartet man nichts anderes, von Demokraten und Republikanern schon.
Zielscheibe Privatisierungen
Das rund 70 Seiten umfassende Gesetz liest sich in Teilen wie eine wirtschaftliche Kriegserklärung gegen Russland. Firmen, die beim Bau oder Erhalt russischer Pipelines helfen, sollen bestraft werden. Das träfe nicht nur Russlands Energieexport nach Europa, der bis vor Kurzem noch bis zu 50 Prozent zum russischen Staatshaushalt beitrug - sondern auch zahlreiche europäische Energiekonzerne.
Sanktionen drohen zudem für "Investments in oder die Förderung von Privatisierung von staatseigenem Besitz der Russischen Föderation", sofern russische Offizielle davon einen Vorteil haben könnten. Jede westliche Wirtschaftsprüfungsgesellschaft muss sich in Zukunft zweimal überlegen, ob sie einen Auftrag zur Buchprüfung eines zum Verkauf stehenden russischen Staatskonzerns annehmen darf oder nicht.
Dabei fordern liberale Wirtschaftsexperten aus Ost und West seit Jahren genau das: Privatisierungen. Der Kreml hat schließlich über die Jahre immer mehr Konzerne und ganze Branchen unter seine Kontrolle gebracht. Die wuchernde Staatswirtschaft erdrückt Privatunternehmen, verhindert Innovationen - und damit die Entwicklung einer auch politisch unabhängigen Unternehmerschaft.
Die US-Sanktionen haben schon jetzt Kollateralschäden gefordert. Das ohnehin bereits ramponierte deutsch-amerikanische Verhältnis gehört dazu. Mehr als ein Drittel der deutschen Gaslieferungen kommt seit Jahrzehnten aus Russland. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Putin-freundlicher Gefühle eher unverdächtig, hat gegen den Passus protestiert, mit dem Demokraten und Republikaner die geplante deutsch-russische Pipeline Nord Stream 2 ins Visier nehmen - nur um im nächsten Absatz anzukündigen, "dem Export von US-Energieressourcen Vorrang einzuräumen, um amerikanische Jobs zu schaffen".
America First halt.
Die US-Sanktionen zielen darauf, Russland wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Dabei verkennen die Entscheider in Washington entscheidende Mechanismen der russischen Politik. Wenn Russen den Eindruck gewinnen, das Ausland übe Druck auf ihre Heimat aus, scharen sie sich eher um ihren Präsidenten, selbst wenn sie ihm innenpolitisch kritisch gegenüberstehen. "Defensiven Patriotismus" hat der Moskauer Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Michail Dmitrijew dieses Phänomen genannt.
Wohlstand ist für Putin ein Risiko, nicht Armut
Die Frage ist auch, ob es tatsächlich im Interesse Amerikas wäre, wenn Russland in der Folge der Sanktionen in eine tiefe Krise stürzen würde. Die Erfahrung der vergangenen Jahre spricht dagegen: In den zehn Jahren nach Putins Amtsantritt hatte sich Russlands Bruttoinlandsprodukt fast verachtfacht. Damals entwickelte sich zum ersten Mal eine breitere bürgerliche Mittelschicht, vor allem in den großen Städten.
In den Jahren 2011 und 2012 gingen dann aber Putins Umfragewerte erstmals deutlich zurück - obwohl Wirtschaftsleistung und Durchschnittslöhne höher waren als je zuvor (mehr dazu finden Sie in unserer Fotostrecke: Putins Bilanz in neun Grafiken).
Damals rebellierte in Moskau und Sankt Petersburg die sich gerade erst entwickelnde Mittelschicht. Millionen Russen hatten damals - ihr materielles Überleben schien ihnen endlich einmal gesichert - den Kopf frei für neue Ziele. In Umfragen gaben sie immer häufiger an, wie sehr sie der Filz in der Politik störe, das schlechte Bildungswesen, die Lügen im Fernsehen. Der wachsende Wohlstand und eine mündiger werdende Bevölkerung ist für Putin ein Risiko, nicht Armut.
In der Logik von Vergehen und Vergeltung mögen die Sanktionen nachvollziehbar sein. Klug sind sie nicht. Sollte das Gesetz in Kraft treten, wird es in Moskau die Position der Hardliner um Putin noch weiter stärken. Die predigen die politische und wirtschaftliche Abkopplung vom Westen seit Jahren. Genau genommen seit der Jahreswende 2011/2012 - als Putins Umfragewerte absackten.
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18.04.2021 08.01 Uhr
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Boom, Crash - und dann? Bereits im Jahr 1999 setzte in Russland die Erholung nach dem Staatsbankrott 1998 ein. Der erste schwere Einbruch erfolgte während der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009. 2014/2015 dann warf der Ölpreisverfall die Wirtschaft auf den Stand von 2009 zurück, zumindest in Dollar gerechnet. Inzwischen erholt sich die russische Ökonomie leicht.
Die russischen Wachstumsraten konnten seit 2009 nie auch nur annähernd jene Werte der ersten Putin-Jahre erreichen. Im Jahr 2000 wuchs die Wirtschaft um satte zehn Prozent. 2013 - der Ölpreis lag noch bei 110 Dollar, die Krim war noch ukrainisch - reichte es allerdings nur noch für magere 1,3 Prozent Wachstum. Immerhin: 2017 setzte nach zwei Jahren Krise das Wachstum wieder ein. Experten rechnen allerdings damit, dass Russland auf absehbare Zeit maximal zwei Prozent wachsen wird.
Russland ließ nach dem Ölpreisverfall den Rubel gegen Euro und Dollar dramatisch abwerten. Das half der Wirtschaft, die Krise zu überstehen: Importe aus dem Ausland wurden teurer, russische Produzenten konkurrenzfähiger. Russlands Industrieproduktion wächst deshalb. Die Zeche zahlten allerdings die Bürger: Die Preise stiegen, die Kaufkraft von Einkommen und Renten ist stark gesunken.
Das Teflon-Rating: Egal, wie schlecht in den vergangenen Jahren die Wirtschaftsdaten waren, die russische Bevölkerung steht seit 2014 eisern hinter Putin. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil seine Umfragewerte von 2010 bis 2013 erkennbar unter Druck geraten waren. Der Moskauer Ökonom Michail Dmitrijew glaubt, die Ukraine-Krise habe "wie ein sozialer Blitzableiter" gewirkt. Nach dem Anschluss der Krim habe er immer häufiger Sätze wie diesen gehört: "Die Welt hat aufgehört, sich an Russland die Füße abzuputzen." Die Außenpolitik hat die früheren Erfolge in der Wirtschaft als wichtigste Quelle von Putins Popularität abgelöst. Putin hat sich neu erfunden - als Weltpolitiker.
Als eine der Errungenschaften Putins gilt in Russland, die Abhängigkeit vom Westen reduziert zu haben, unter anderem in Form von Staatsschulden. Michail Gorbatschow und Boris Jelzin mussten im Westen um Kredite bitten, Wladimir Putin empfand Russlands Schuldenlast als erniedrigend - und senkte sie radikal. Seit dem Ölpreisverfall muss der russische Staat allerdings wieder Schulden machen.
Die Lebenserwartung in Russland stürzte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ab. Seit 2005 steigt sie deutlich an. Beachtlich sind deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Russische Frauen werden im Schnitt 77 Jahre alt - das ist der höchste, jemals gemessene Wert. Männer dagegen werden nur 66,5 Jahre alt, ihre Lebenserwartung war bereits Ende der Achtzigerjahre ähnlich hoch. Mitte der Neunzigerjahre war sie allerdings auf 57 Jahre abgestürzt. Putin hat im Wahlkampf versprochen, die Lebenserwartung werde bald weiter steigen - auf über 80 Jahre.
In den Neunzigerjahren war die Geburtenrate in Russland extrem eingebrochen, auf zwischenzeitlich nur noch 1,2 Kinder pro Frau. Viele Russen rechnen Putin hoch an, den Bevölkerungsschwund zumindest gebremst zu haben. Als einer der Gründe dafür galt die Einführung des sogenannten "Mutterschaftskapitals", einer staatlichen Einmalzahlung an Mütter im Wert von mehreren Tausend Euro. Allerdings entfällt ein Teil des Zuwachses auf die strukturschwachen und islamisch geprägten Gebiete des Nordkaukasus. Zuletzt berichteten russische Medien zudem, die Zahl der Geburten sei um mehr als 10 Prozent eingebrochen.
Steigende Preise für Öl auf dem Weltmarkt führten auch dazu, dass Russland seine Produktion massiv ausweitete. Sie liegt heute um mehr als 60 Prozent höher als im Jahr 2000. Bemerkenswert: Auf den Absturz der Ölpreise 2014/2015 reagierte Russland zunächst mit einer massiven Ausweitung der Förderung, um Löcher im Staatshaushalt zu stopfen.
Als Wladimir Putin im Jahr 2000 Präsident wurde, war Russland in weiten Teilen ein armes Land. Die russische Regierung stufte damals 36 Millionen Menschen als "arm" ein, 2012 waren es nur noch 15 Millionen. Seitdem steigt ihre Zahl allerdings wieder, bedingt durch Russlands Wirtschaftsprobleme.
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