Henrik Müller

Steigende Preise Inflation ist toxisch

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
In den USA könnte die Zentralbank diese Woche erstmals die Zinsen anheben – reichlich spät, aber immerhin. In Europa sind wir längst noch nicht so weit. Das könnte sich als folgenreicher Fehler erweisen.
Foto: UCG / Universal Images Group / Getty Images

Es ist noch gar nicht lang her, da hielt der Chef der US-Notenbank Federal Reserve gelegentlich Reden, in denen das Wort Inflation nicht einmal vorkam. Jerome Powell sprach dann über Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Inklusion , über technischen Fortschritt, Innovation und künstliche Intelligenz.  

Alles wichtige Themen, keine Frage – aber sicher keine Kernaufgaben der Fed.

Noch im November, als die Verbraucherpreise in den USA bereits um mehr als sechs Prozent gegenüber Vorjahr gestiegen waren, brachte der mächtigste Notenbanker der Welt bei einem Vortrag das Kunststück fertig, das Problem der Inflation nicht mal zu streifen.

Über Monate taten die Fed und ihr Chef so, als gehe sie der beschleunigte Preisanstieg nicht viel an. Das hat sich geändert. Inzwischen ist die US-Notenbank wieder auf ihr Kernthema fokussiert. Hohe Inflation sei für die Bürger eine Bürde, sagte Powell kürzlich vor dem US-Kongress. Die Fed werde alles tun, »um zu verhindern, dass sich die Inflation verfestigt«.  Man darf gespannt sein, ob das gelingt.

Erst wertvolle Zeit vertun…

Wie die Europäische Zentralbank (EZB) es bis heute tut, so hat Powells Fed lange behauptet, die gegenwärtige Inflation sei nur ein »vorübergehendes« (»transitory«) Phänomen – das Resultat zeitlich begrenzter Verspannungen der Märkte im Zuge der Coronapandemie, der Lockdowns und der folgenden Öffnungen. Man kann es auch so sehen: Die Fed hat wertvolle Zeit vertan. Wäre sie der sich beschleunigenden Inflation früher entgegengetreten, müsste sie jetzt nicht so hart auf die Bremse treten.

Nun läuft sie hinter einer Preisdynamik her, die dabei ist, sich zu verselbstständigen: Auf dem US-Arbeitsmarkt werden die Leute knapp, sodass die Löhne steigen; an den Finanzmärkten treiben höhere Inflationserwartungen allmählich die Renditen nach oben. Das Szenario einer Lohn-Preis-Spirale bei gleichzeitig einbrechenden Börsenkursen erscheint alles andere als abwegig.

Gut möglich, dass es der EZB in wenigen Monaten genauso geht: dass dann auch Europas Notenbank Handlungsfähigkeit demonstrieren muss – je später, desto entschiedener.

…dann voll aufs Bremspedal treten

Powell und seine Leute mussten in den vergangenen Wochen ihren Kurs und ihre Wortwahl ziemlich radikal ändern. Statt gelassen darauf zu warten, dass die Preisdynamik schon von allein abflaut, bemühen sie sich nun, die monetäre Dynamik zu bremsen. Mindestens dreimal wollen sie dieses Jahr die Zinsen anheben, vielleicht öfter. Die Wertpapierkäufe will die Fed bis Ende März auf null herunterfahren, danach womöglich anfangen, ihren gigantischen Wertpapierbesitz allmählich abzustoßen – um damit den Finanzmärkten Liquidität zu entziehen. Mittwoch entscheidet die Washingtoner Notenbank über ihre nächsten Schritte.

Allein seit Ausbruch der Pandemie hat die Fed für fünf Billionen (!) US-Dollar Wertpapiere aufgekauft. Jetzt drückt sie auf die Stopptaste. Die Folgen werden weltweit spürbar sein, nicht nur an den Börsen.

Politische Kollateralschäden

Europa ist einem ähnlichen monetären Bremsmanöver womöglich näher, als die EZB vorgibt. Bislang laufen die Ankündigungen der Präsidentin Christine Lagarde und ihres Teams darauf hinaus, dass es dieses Jahr keine Zinserhöhungen geben soll, nicht mal eine Abschaffung der Strafgebühren, die Geschäftsbanken auf ihre Notenbankeinlagen zahlen müssen (»negative Einlagezinsen«). Lediglich die Wertpapierkäufe will die EZB bis Ende März herunterfahren, allerdings nicht auf null: Die EZB bleibt weiter am Markt aktiv, denn Lagarde & Co. beharren darauf, dass die Eurozone längst nicht über den Berg sei und noch längere Zeit Unterstützung bedürfe.

Allerdings ist auch diesseits des Atlantiks die Inflation empfindlich gestiegen. In der Eurozone legten die Verbraucherpreise zuletzt um mehr als fünf Prozent gegenüber Vorjahr zu, nicht ganz so schnell wie in den USA, aber auch bei uns wird das Leben teurer.

Vom aktuellen Inflationsschub sind derzeit vor allem die osteuropäischen Eurostaaten betroffen, zumal das russlandnahe Baltikum. (Achten Sie auf den Fortgang des Ukrainekonflikts in dieser Woche.) In südeuropäischen Ländern inklusive Frankreich steigen die Inflationsraten bislang langsamer, aber auch dort ziehen die Preise aktuellen Eurostat-Zahlen zufolge empfindlich an. Die Inflationserwartungen von Bürgern und Anlegern steigen. Worauf also wartet die EZB?  

Das Risiko jedenfalls, dass der Inflationsfrust politische Kollateralschäden nach sich zieht, ist nicht von der Hand zu weisen. Dies ist keine Marotte der angeblich so stabilitätsfixierten Deutschen. Quer durch den Euroraum sind steigende Lebenshaltungskosten ein Ärgernis, wie die Eurobarometer-Umfragen zeigen. Das Thema hat politische Sprengkraft und könnte etwa den Ausgang der französischen Präsidentschaftswahl im Frühjahr mitbestimmen.

Trump: »Die Inflation wird Amerika verwüsten«

Inflation ist ein toxisches Thema. Wenn Einkommen und Geldvermögen erodieren, leidet das Vertrauen in die Institutionen. Der Kaufkraftschwund verschärft Verteilungskonflikte und bringt die Bürger gegen den Staat und gegeneinander auf. Phasen hoher Preissteigerungsraten gehen deshalb typischerweise mit sozialer und politischer Instabilität einher.

Inzwischen ist der entfesselte Anstieg der Verbraucherpreise eines der zentralen innenpolitischen Probleme in den USA. Ex-Finanzminister Larry Summers hat bereits davor gewarnt, dass der Ärger über die Inflation Donald Trump den Weg zurück ins Weiße Haus ebnen könne. Für den schmerzfreien Populisten seinerseits ist die bröckelnde Kaufkraft des Dollar ein Elfmeter, den er nicht vergeben will: »Die Inflation wird Amerika verwüsten«, tönt er – obwohl die expansive Finanzpolitik seiner eigenen Regierung die derzeitige Inflationsdynamik zumindest mitverursacht hat.

Dass Trump während seiner Amtszeit versuchte, Fed-Chef Powell öffentlich einzuschüchtern, um ihn zu einer noch freigiebigeren Geldpolitik zu bewegen, übersehen der wahnwitzige Ex-Präsident und seine Anhänger gern.

Back in the blame game

Inflation ist hochpolitisch, gerade in einem Land mit großer Einkommensungleichheit wie den USA. Wohlhabende sind weniger stark von steigenden Lebenshaltungskosten betroffen als ärmere Bürger; Leute mit höherer Bildung leiden weniger darunter als geringer Qualifizierte, so eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup . Anhänger der Republikaner werden eher von Inflation in Mitleidenschaft gezogen als Anhänger der Demokraten.

Schuldzuweisungen vergiften das Klima. Anhänger der Republikaner machen vor allem die Regierung Joe Bidens und die Fed verantwortlich, wie eine aktuelle Studie über amerikanische »Inflationsnarrative«  nahelegt.  Anhänger der Demokraten hingegen sehen Big Business und die Gier der Reichen als Preistreiber. Das Blame Game läuft auf vollen Touren.

Die Inflation sei eine Bürde für die mit knapper Mehrheit regierenden Demokraten, urteilt eine Untersuchung des Washingtoner Thinktanks Brookings , ärmere weiße Wähler, die die Demokraten bei den zurückliegenden Wahlen für sich gewinnen konnten, würden beim nächsten Mal womöglich die Republikaner bevorzugen. Steigende Preise dürften die US-Parlamentswahlen im Herbst und auch die nächste Präsidentschaftswahl 2024 mitentscheiden.

Weder kurz noch schmerzlos

In ohnehin gespaltenen Gesellschaften ist Inflation dazu angetan, die Gräben noch weiter zu verbreitern. So weit sind wir in Europa noch nicht. Die öffentliche Unterstützung für den Euro ist hoch, auch wenn die Inflationswartungen steigen, wie eine Befragung der Euro-Bürger vom Spätherbst zeigt . Und doch: Inflation, die aus dem Ruder gelaufen ist, erfordert irgendwann harsche Gegenmaßnahmen – kräftige Zinserhöhungen sowie Realeinkommensverluste der Beschäftigten. Verspätete Stabilisierungsphasen sind weder kurz noch schmerzlos, dafür bietet die jüngere Wirtschaftsgeschichte reichlich Anschauungsmaterial.

Doch dieses Mal ist die Operation Geldwertstabilisierung besonders heikel, da die meisten westlichen Gesellschaften hohe Schulden haben. Im Vertrauen auf dauerhaft niedrige Inflationsraten und Zinsen sind Unternehmen, Staaten und private Haushalte enorme Verbindlichkeiten eingegangen. Zugleich sind die Bewertungen vieler Vermögenswerte äußerst optimistisch: Aktien, Immobilien, Staatsanleihen – die Preise sind hoch, weil das billige Geld ja irgendwohin muss.

Entsprechend groß ist nun das Rückschlagpotenzial. Bei rapide steigenden Zinsen könnten Finanzierungsmodelle, die bislang noch solide erscheinen mochten, sich als nicht mehr tragfähig erweisen. Die Folge wäre eine Pleitewelle, gepaart mit enormen Verwerfungen. Besser, man lässt es gar nicht erst so weit kommen. Ein frühzeitiges, sachtes Gegensteuern könnte dem Crash-Szenario die Spitze nehmen – falls es dazu noch nicht zu spät ist.

Die wichtigsten Termine der bevorstehenden Woche

Rom – Draghis nächste Rolle – Beginn der Wahl zum Staatspräsidenten in Italien. Als Favorit gilt Mario Draghi, heutiger Premier und früherer EZB-Chef. Das Verfahren ist komplex und kann für Überraschungen sorgen.

Frankfurt – Preisfragen – Online-Diskussionsveranstaltung des Bankenverbands und des Instituts der deutschen Wirtschaft zum Thema Inflation: »Rising inflation – is it here to stay?«

Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Philips, IBM, Halliburton.

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