
Steigende Preise Warum jetzt nur noch die EZB helfen kann


EZB-Zentrale in Frankfurt am Main: Handeln statt Reden
Foto: Schöning / IMAGODie Europäische Zentralbank (EZB), so steht es im EU-Vertrag , hat das »vorrangige Ziel«, »die Preisstabilität zu gewährleisten«. Wenn das erreicht ist, soll sie auch »die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft« unterstützen.
Im vergangenen Jahrzehnt war genau das der Fall: Die Inflation war niedrig und sank über Jahre hinweg Richtung Nulllinie, während die Wirtschaft kaum wuchs und die Arbeitslosigkeit hoch war. Die EZB hatte also eine Menge Spielraum, den sie nutzte, um die Wirtschaft mit extrem niedrigen Zinsen und Wertpapierkäufen anzuschieben.
Inzwischen allerdings kann von Preisstabilität keine Rede mehr sein. Die Verbraucherpreise in der Eurozone sind im Mai um 8,1 Prozent gegenüber Vorjahr gestiegen, in Deutschland noch etwas schneller . Es sind längst nicht mehr nur Energie und Nahrungsmittel, die das Leben verteuern, sondern der Preisauftrieb ist längst in der Breite angekommen.
Wie man es auch dreht und wendet: Preisstabilität war gestern. Überall im Euroraum liegt die Inflation empfindlich über zwei Prozent, jener Marke, die die EZB selbst als Zielwert definiert hat. Am schnellsten steigen die Preise im Baltikum, am langsamsten in Frankreich und Malta. Anstatt allmählich abzuflauen, wie es die EZB lange vorhergesagt hat, nimmt die Inflation immer noch weiter Fahrt auf.
Folgt man der Zentralbanksatzung wortwörtlich, müsste die EZB nun massiv auf die Bremse treten. Sie müsste die Nachfrage im Euroraum so weit abwürgen, dass die Preisdynamik gebrochen wird – auch wenn sie damit eine Rezession auslösen sollte. Schließlich haben EZB-Präsidentin Christine Lagarde und ihre Kolleginnen und Kollegen einen klaren Auftrag, anscheinend jedenfalls. Leider ist die Realität in Europa komplizierter, verdrehter und mit allerlei Fallstricken versehen.
Bremsen bis es quietscht
In den USA ist die Federal Reserve Bank längst auf einen entschiedenen Kurs umgeschwenkt. Die US-Notenbanker haben angekündigt, die Zinsen bei jedem Treffen des Gouverneursrats so lange weiter anzuheben, bis die Inflation abflaut. Die Wertpapierkäufe, mit denen die Fed zuletzt während der Coronakrise die Märkte gestützt hatte, sind längst eingestellt. Nun beginnt die US-Notenbank damit, für viele Milliarden Dollar Wertpapiere auf den Markt zu werfen. Sie verteuert die Kreditvergabe und entzieht dem Finanzmarkt Liquidität – auch um den möglichen Preis einer ökonomischen Vollbremsung.
Auf der anderen Seite des Atlantiks trifft sich am Donnerstag der EZB-Rat unter Lagardes Vorsitz. Aber von einer Reaktion, wie sie ihre US-Kollegen derzeit vorführen, ist die Frankfurter Zentralbank weit entfernt.
Klar, die Lohndynamik in den USA ist stärker als in Europa – eine Preis-Lohn-Spirale, die bei uns gerade erst in Gang kommt, ist in Amerika bereits Realität. Umso größer ist der Handlungsdruck in Washington. Dennoch: Die preislichen Bedingungen beiderseits des Atlantiks sind so unterschiedlich nicht, wie EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel kürzlich dargelegt hat . Entsprechend sollte man meinen, dass die Notenbanken beiderseits ähnlich handeln. Doch weit gefehlt.
Statt ihren Billionen Euro schweren Bestand an Wertpapieren allmählich auf den Markt zu werfen, kauft die EZB bislang immer noch solche Schuldpapiere auf . Wenn Banken ihre Einlagen bei der Notenbank parken, erhalten sie dafür immer noch keine Zinsen, sondern müssen im Gegenteil eine Gebühr von 0,5 Prozent zahlen. Und der Hauptrefinanzierungssatz, zu dem sich die Banken Geld bei der EZB leihen können, liegt immer noch bei null. Bei einer Inflationsrate von acht Prozent wirkt der EZB-Kurs völlig aus der Zeit gefallen.
Derzeit ist die Notenbank zwar dabei, über einen Kurswechsel zu einer »neutralen« Geldpolitik zu reden – also zu einem Zinsniveau, dass die Nachfrage und damit die Inflation nicht noch weiter anregt. Diverse EZB-Ratsmitglieder haben sich öffentlich in diese Richtung geäußert. Aber wie es aussieht, wird es nur langsam und in kleinen Schritten in diese Richtung gehen. Ein entschlossenes Gegensteuern sähe anders aus.
Ob der derzeitige Kurs genügt, um die Inflation einzubremsen, ist eine offene Frage. Meine Vermutung ist: nein. Je länger Lagrade und Co. warten, desto stärker werden sie später auf die Bremse treten müssen – desto herber werden irgendwann auch die Folgen für Konjunktur und Börsen sein.
Der Kern des Übels
Bis vor einigen Monaten konnte sich die EZB noch darauf zurückziehen, dass die steigende Inflation ganz überwiegend ein Resultat teurer Energie sei. Andere Preise reagierten zunächst kaum. Wenn aber nur wenige Gütergruppen als Folge von – vorübergehenden, wie man annahm – Verspannungen auf den internationalen Märkten teurer werden, dann ist das noch keine Inflation, sondern eine Verschiebung von relativen Preisen, wie sie in einer Marktwirtschaft üblich ist und als Reaktion auf Knappheiten toleriert werden muss.
Aber diese Phase ist vorbei. Sicher, die covidbedingten Lockdowns in China behindern weltweit die Industrieproduktion . Immer noch verteuern sich Energieprodukte rapide, zuletzt mit einer Jahresrate von 39 Prozent. Der Krieg gegen die Ukraine und die westlichen Sanktionen als Reaktion auf Russlands Aggression verschärfen die Lage weiter. Doch selbst wenn man Energie, Nahrungs- und Genussmittel herausrechnet, bleibt eine »Kerninflationsrate« in der Eurozone von 3,8 Prozent. Tendenz: weiter steigend.
Ein Frühjahr der Unzufriedenheit
Inzwischen ziehen auch die Löhne in der Eurozone allmählich an. Dass deutsche Tarifforderungen bei mehr als acht Prozent liegen, ist verständlich. Möglich, dass die gerade entschiedene Mindestlohnerhöhung unter diesen Bedingungen die gesamte Lohnskala nach oben verschiebt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat nun Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zur »konzertierten Aktion« eingeladen, einer Neuauflage des Versuchs des früheren Wirtschaftsministers Karl Schiller, die Tarifparteien zur Mäßigung zu bewegen, um eine beschleunigte Preis-Lohn-Spirale zu verhindern. Auch wenn das schon in den Siebzigerjahren nicht sonderlich erfolgreich war.
Wir erleben ein Frühjahr der Unzufriedenheit . Arbeitnehmer und Transferempfänger erleiden Einbußen ihrer Kaufkraft, gerade ärmere Haushalte sind empfindlich betroffen. Regierungen können mit höheren Transferzahlungen oder partiellen Steuersenkungen die Auswirkungen der Inflation allenfalls vorübergehend lindern. Die Preisdynamik brechen können sie nicht.
Eingriffe in den Preismechanismus wiederum schaffen zusätzliche Probleme. So hatte Anfang der Siebzigerjahre die US-Regierung unter Richard Nixon versucht, mit dirigistischen Maßnahmen die Lage in den Griff zu bekommen und ein bürokratisches Monstrum geschaffen. Es half alles nichts. Erst als um 1980 der damalige Fed-Chef Paul Volcker mit drakonischen Zinserhöhungen die Wirtschaft abwürgte, gelang es, die amerikanische Inflation zu ersticken. Es ist diese Erfahrung, die die Fed heute – reichlich spät, aber immerhin – zu einer entschlossenen Straffung veranlasst.
Am Ende können nur die Notenbanken die Inflation in den Griff bekommen. Eben deshalb ist dies ihre vordringliche gesetzliche Aufgabe. Deshalb genießen sie heute ein hohes Maß an Unabhängigkeit. Warum also steuert die EZB nicht entschlossener gegen?
Recht und Realität
Kein Zweifel, die EZB steckt in einer schwierigen Lage. Einerseits muss sie den Preisanstieg abbremsen. Andererseits sind einige Eurostaaten so hoch verschuldet – ein Erbe der Finanz- und dann der Coronakrise –, dass ihre Zahlungsfähigkeit gefährdet sein könnte, wenn die EZB rasch auf die Bremse tritt. Eine Notenbank im Krieg, die die Finanzstabilität von Mitgliedstaaten gefährdet, wäre sogar ein sicherheitspolitisches Risiko. Anders als die Fed in den USA, wo es einen finanziell potenten Zentralstaat gibt, managt die EZB eine Währung, die 19 Staaten mit jeweils eigener Finanzpolitik umfasst. Und diese Staaten sind nun vom Krieg in höchst unterschiedlicher Weise betroffen.
Es ist ein heikler Balanceakt – eine Situation, die Anfang der Neunzigerjahre, als der EU-Vertrag unterzeichnet wurde, wohl niemand vorgesehen hatte. Die Realität hat sich vom Recht ein Stück weit entfernt.
Reden – und Handeln!
Dennoch: Die EZB muss dringend handeln. Und sie muss sich öffentlich deutlich erklären, um zu verhindern, dass die Bürger immer weiter steigende Preise erwarten und sich die Inflation auf diese Weise verselbständigt. Die mediale Inflationswahrnehmung in Deutschland ist jedenfalls auf ein Langzeithoch gestiegen, wie ein Indikator zeigt, den unser Dortmunder Forschungszentrum DoCMA berechnet . Als wichtigster Treiber der Entwicklung wird die Notenbank genannt.
Wie sehr gerade Privatbürger inzwischen von dauerhaft höheren Inflationsraten ausgehen, hat die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) kürzlich in einer Studie dargelegt . Die Schlussfolgerung der Basler Experten: Neben einer Straffung der Geldpolitik müssten die Notenbanken möglichst direkt kommunizieren – in Form von »einfachen und verständlichen Botschaften«. Aber auch das sei klar: »Wenn höhere Inflation sich bereits in höheren Inflationserwartungen niedergeschlagen hat, genügt Kommunikation allein nicht.«
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Berlin – Besuch der stillen Dame – Lange hat Angela Merkel sich in Schweigen gehüllt. Nun tritt sie wieder öffentlich auf – vorige Woche schon beim DGB, nun im ehemaligen Brecht-Theater Berliner Ensemble im Gespräch mit SPIEGEL-Autor Alexander Osang.