
Teuer, schmutzig, riskant: Die neuen Ölfördermethoden
Teurer Rohstoff BP-Chefökonom prophezeit Ära des 100-Dollar-Öls
SPIEGEL ONLINE: Herr Rühl, 2011 war das teuerste Jahr aller Zeiten für deutsche Autofahrer. Derzeit pendelt der Ölpreis bei knapp 120 Dollar. Woran liegt das?
Rühl: Kurzfristig wirken zwei Kräfte auf den Ölpreis. Einerseits wächst die Wirtschaft in den Industrieländern nicht mehr so stark, wodurch die Nachfrage nach Öl sinkt - und der Preisdruck eigentlich nachlassen sollte. Andererseits gibt es die Furcht vor Lieferunterbrechungen im Nahen Osten, und das treibt den Preis. Zur Stabilität auf hohem Niveau trägt die Ankündigung Saudi-Arabiens bei, die Ölproduktion bis auf weiteres nicht zu verändern.
SPIEGEL ONLINE: Gerade haben Sie Ihre Langzeitprognose für den Energiemarkt veröffentlicht. Demnach wird der globale Energiebedarf in den kommenden zwei Jahrzehnten rapide steigen. Droht bald eine Energielücke?
Rühl: Nein, das Angebot wird mit der Nachfrage Schritt halten. Die Fördertechniken dafür existieren. Und es gibt auf der Welt genug Ressourcen. Es muss nur der politische Wille bestehen, sie zu erschließen.
SPIEGEL ONLINE: Allein der weltweite Ölbedarf steigt Ihren Prognosen zufolge bis 2030 von 87 auf 103 Millionen Fass pro Tag. Wie soll das gehen?
Rühl: Das erfordert mehr Förderung in Opec-Staaten. Zudem erlauben neue Technologien die Erschließung weiterer Ressourcen. Die genannte Zahl schließt eine Zunahme von Biokraftstoffen um 3,5 Millionen Fass pro Tag ein. In Kanada gibt es gewaltige Reserven an sogenannten Ölsanden. Brasilien baut die Förderung in der Tiefsee aus. Und in den USA gewinnt derzeit rasch eine Fördermethode an Bedeutung, mit der sich Öl aus Schiefergestein und anderen schwer zugänglichen Reservoirs gewinnen lässt.
SPIEGEL ONLINE: Das sind alles schmutzige Fördermethoden mit großen Umweltrisiken.

Grafiken: Wo kommt 2030 unsere Energie her?
Rühl: Nicht alles was neu ist, ist schmutzig. Fakt ist: Solche Fördermethoden werden zunehmen. Die konventionelle Ölförderung außerhalb des Nahen Ostens hat ihren Zenit vermutlich schon 2010 überschritten. Der Bedarf aber steigt, vor allem in Asien. Und es ist kaum vorstellbar, dass Länder dort der Umwelt zuliebe auf Wachstum und Wohlstand verzichten. Trotzdem müssen die Risiken in Grenzen gehalten werden. Dazu bedarf es Firmen und gesellschaftlicher Kräfte, die auf hohe Sicherheitsstandards dringen.
SPIEGEL ONLINE: BP hat im Golf von Mexiko eine der größten Umweltkatastrophen aller Zeiten mitverursacht - durch eine Tiefseebohrung. Kürzlich verursachte Ihr Konkurrent Chevron vor der brasilianischen Küste einen neuen, kilometergroßen Ölteppich - ebenfalls durch eine Tiefseebohrung. Wo waren denn da die gesellschaftlichen Kräfte?
Rühl: Sie wirken doch. Denn unter solchen Katastrophen leiden nach den Betroffenen, die sich zur Wehr setzen, zunächst die Aktionäre. Im Falle von BP also Investmentfonds und Privatanleger. Die drängen auf verbesserte Sicherheit, denn sie verlieren mit jeder Katastrophe, mit jeder Strafe bares Geld...
SPIEGEL ONLINE: ...und sie gewinnen es. Im vergangenen Jahr hat BP rund 22 Milliarden Dollar verdient. Die Folgen der Katastrophe im Golf von Mexiko sind damit wohl verdaut.
Rühl: Sie sind mitnichten verdaut. Der Gerichtsprozess in den USA fängt gerade an, und der Aktienkurs ist immer noch sehr niedrig. Glauben Sie mir: Der Druck, dass so etwas nie wieder passiert, ist enorm.
SPIEGEL ONLINE: Mal ganz abgesehen von den Umweltrisiken: Selbst die Förderung in Schieferstein, Ölsand und Tiefsee wird laut Ihrer eigenen Prognose nicht reichen, um den globalen Bedarf bis 2030 zu decken.
Rühl: In der Tat. Staaten wie der Irak oder Saudi-Arabien werden ihre Exporte zusätzlich steigern.
SPIEGEL ONLINE: Wie soll das gehen? Die meisten Länder im Nahen Osten fördern doch jetzt schon am Anschlag.
Rühl: Nicht alle. Zudem vergeuden viele Opec-Staaten derzeit noch selbst viel Energie. In Saudi-Arabien werden an heißen Tagen eine Million Fass Öl für die Stromproduktion verbraucht. Das ist natürlich ineffizient. Auch dort ließe sich Strom viel günstiger aus Gas oder erneuerbaren Energien produzieren. Damit die Exporte - und damit die Erlöse - weiter steigen, müssten die ölreichen Länder ihre Effizienz erhöhen und ihren eigenen Verbrauch deutlich senken. Manche Regierungen arbeiten bereits daran. Die Vereinigten Arabischen Emirate etwa haben kürzlich den Benzinpreis erhöht...
SPIEGEL ONLINE: ...und bekamen gehörig Ärger mit der eigenen Bevölkerung. In vielen ölreichen Ländern gilt es als gesellschaftlicher Konsens, dass Energie unendlich verfügbar ist und fast nichts kosten darf.
Rühl: Wohl wahr. Es ist ein politischer Kraftakt, eine Gesellschaft in Nahost energieeffizienter zu machen. Doch es wird passieren. Letztlich haben die Länder keine Wahl - wenn sie nicht auf Exporterlöse verzichten wollen.
SPIEGEL ONLINE: In China schwächt sich der Energiebedarf laut Ihrer Prognose in Zukunft ab. In Indien nimmt er zu, bleibt aber geringer als in China. Wie kommen Sie zu dieser Annahme?
Rühl: Wir glauben nicht dass Chinas Energieverbrauch so weiter wächst wie in den letzten zehn Jahren, oder dass Indien ein zweites China wird. In China steuert der energiehungrige Industriesektor derzeit fast 50 Prozent zur Wirtschaftsleistung bei - das wird abnehmen, und der Sektor wird effizienter werden, so wie es in anderen Industrieländern auch passiert ist. In Indien sind heute noch so viele Leute ohne Strom wie Europa Einwohner hat - die Industrie hatte stets eine geringere Bedeutung und wird von daher weiter wachsen müssen. Doch das Land hat eine andere Struktur, eine andere Geschichte und war nie so energieintensiv wie China. Deshalb wird Indien 2030 in etwa so reich sein wie China heute, aber nur halb so viel Energie verbrauchen.
SPIEGEL ONLINE: Im Schnitt kostet das Fass seit mehr als einem Jahr rund hundert Dollar. Früher galt dieser Preis als Obergrenze. Ist der Deckel von gestern der Boden von heute?
Rühl: 100 Dollar pro Fass sind hoch, aber viele sehen es inzwischen als so etwas wie den Normalpreis.
SPIEGEL ONLINE: Können sich die Industrieländer ihre Abhängigkeit vom Öl nicht mehr leisten?
Rühl: Das wäre so, wenn Märkte nicht reagieren könnten. Weil Öl immer teurer wird, machen sich entwickelte Industrien immer unabhängiger davon. In den siebziger Jahren deckte Öl rund die Hälfte des Weltenergiebedarfs - 2030 wird es noch ungefähr ein Viertel sein. Im Transportsektor werden sich bei steigendem Benzinpreis rasch Hybridfahrzeuge durchsetzen. Bei der Strom- und Wärmeerzeugung und in der Industrie wird Erdgas stark an Bedeutung gewinnen.
SPIEGEL ONLINE: Die Gas-Revolution findet bereits statt - vor allem in Amerika. Durch neue Fördertechniken produziert Nordamerika zudem immer mehr Erdöl und Kohle. Was sind die Folgen dieses Booms?
Rühl: Das globale Gleichgewicht verschiebt sich. Nordamerika, also die USA plus Kanada und Mexiko, wird 2030 fast komplett unabhängig sein von Energieimporten aus anderen Ländern. In Europa und China dagegen steigt die Abhängigkeit rapide. Dadurch ergeben sich neue geostrategische Interessen.
SPIEGEL ONLINE: Wenn es 2030 mal wieder Spannungen im Nahen Osten gibt, müssten künftig China und Europa eingreifen statt der USA?
Rühl: Es ist zum Glück nicht mein Job, darüber zu spekulieren. Fakt ist, dass sich die Interessenlagen verschieben. Dass zum Beispiel die USA künftig weniger interessiert an Ölimporten aus Nahost sein könnte, speziell natürlich, wenn sie ihr Öl hauptsächlich aus Kanada oder Mexiko beziehen. Und dass dieses Interesse in Asien und auch in Europa immer größer wird.