
Berthold Beitz: Stationen eines Patriarchen
Zum Tode von Berthold Beitz Der Getreue des letzten Stahlbarons
Hamburg - Seine erste Begegnung mit Berthold Beitz sei ihm erschienen, als ob "ein Engel plötzlich in die Hölle kam", erzählte Zygmunt Spiegler. Die Hölle war für ihn der Bahnhof in Boryslaw in der heutigen Ukraine. Dort hatten NS-Schergen im August 1942 Hunderte Juden zusammengetrieben, um sie in Vernichtungslager zu deportieren. Spiegler ist bereits in einem Waggon gefangen, als plötzlich ein blonder, gut gekleideter Mann auf dem Bahnsteig auftaucht.
Er drängt sich vorbei an SS-Posten, ruft Namen, holt Leute aus den Eisenbahnwagen zu sich und handelt mit den Nazi-Fängern die Freilassung der Menschen aus. Sein Argument: Als kaufmännischer Leiter der Karpathen-Öl AG unterstehe er dem Oberkommando des Heeres, er brauche die Menschen in der Fabrik und auf den Ölfeldern.
Der couragierte Mann auf dem Bahnsteig ist Berthold Beitz. Auch den damals 21 Jahre alten Zygmunt Spiegler bekommt er frei. Der junge Jude sei einer seiner Mitarbeiter, sagt Beitz den Wächtern. Dabei haben die beiden sich vorher noch nie gesehen.
Bis zum Ende des Krieges rettete Berthold Beitz zusammen mit seiner Frau Else Hunderte Juden vor den Nazis und entkam nur knapp dem Zugriff der Gestapo. "Ich habe spontan gehandelt, aus dem Gefühl heraus", sagte er später. "Ich kenne die Deutschen. Wenn man fest, klar und bestimmt auftritt, dann respektieren sie einen. Wenn man weich ist oder verzweifelt, bringen sie einen um."
Am 30. Juli ist Beitz im Alter von 99 Jahren gestorben.
Nicht nur wegen seiner Rettungsaktionen während der NS-Zeit wird er in Erinnerung bleiben. Als graue Eminenz beim Stahlkonzern ThyssenKrupp war er "der letzte Patriarch" der deutschen Industrie, wie das manager magazin Beitz einmal nannte. Als Chef der mächtigen Krupp-Stiftung, die größter Einzelaktionär von ThyssenKrupp ist, dirigierte er bis ins hohe Alter das Schicksal des Konzerns.
Eine Begegnung im Atelier veränderte sein Leben
Die Villa Hügel in Essen war Beitz' Machtzentrale. Der 140 Jahre alte Prachtbau mit 269 Räumen ist ein Stück deutsche Geschichte. Kaiser, Könige, Politiker verschiedener Länder und auch Adolf Hitler waren hier bei der Industriellenfamilie Krupp zu Gast. Als deren Dynastie zerbrach, verwaltete Beitz das Erbe.
Er hatte eine Karriere gemacht, wie sie wohl nur im Nachkriegsdeutschland möglich war. 1913 wurde Beitz in Vorpommern als Sohn eines kleinen Beamten geboren. Er absolvierte in seiner Heimat eine Banklehre. Dann zog er nach Hamburg und fing dort mit 24 Jahren beim Ölkonzern Royal Dutch Shell an. In der Hansestadt lernte er seine Frau Else kennen, die er 1939 heiratete. Als Vertreter der Firma ging Beitz 1939 ins besetzte Polen, 1941 wurde er als Ölmanager ins Erdölgebiet südlich von Lemberg geschickt, im März 1944 wurde er dann zur Wehrmacht eingezogen.
Beitz fasste nach dem Krieg in der Versicherungsbranche Fuß und stieg in Hamburg zum Generaldirektor der Iduna-Germania-Versicherungsgesellschaft auf. Unter seiner Leitung florierte das Unternehmen. Doch eine Begegnung im Jahr 1952 stellte die Weichen für Beitz' Karriere als einer der mächtigsten Industriemanager der Bundesrepublik.
Der Versicherungsmanager hatte bei einem Bildhauer eine Skulptur in Auftrag gegeben. In dessen Atelier lernte Beitz Alfried Krupp von Bohlen und Halbach kennen, den letzten persönlichen Inhaber der Stahlfirma Krupp. Nach und nach entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis zwischen den Männern. Beitz versteht anfangs nicht, warum der scheue Krupp den Kontakt sucht und ihn in Hamburg besucht: "Wir sprachen über dieses und jenes. Aber was ihn eigentlich herführte, das verriet er nicht."
Der erste Mann des Königs
Im September 1952 rückte Krupp bei einem Spaziergang an der Alster mit seinem Anliegen heraus: "Möchten Sie nach Essen kommen und mir helfen, den Konzern wiederaufzubauen?" Innerhalb einer Viertelstunde waren sich die Männer einig, berichtete Beitz. Er geht ins Ruhrgebiet und wird ab 1953 Generalbevollmächtigter bei Krupp.

ThyssenKrupp: Industrielegende im Ruhrgebiet
Damit war er neben dem Inhaber der mächtigste Mann im Konzern. Gegenüber seinem Biografen Joachim Käppner verglich Beitz die Beziehung zu Krupp wie die "eines mittelalterlichen Königs zu seinem ersten Mann am Hofe". Es habe keine Machtkämpfe gegeben: "Ich habe ihn als Chef immer respektiert, und er hat mir immer freie Hand gelassen."
Beobachter wunderten sich über das ungleiche Gespann. Auf der einen Seite der verschlossene, schwermütige Alfried Krupp, der zum Kronprinzen erzogen worden war und als menschenscheu galt. Nach dem Krieg wurde ihm wegen des Einsatzes von Zwangsarbeitern der Prozess gemacht. Der Firmenerbe saß wegen "Plünderung" und Förderung von "Sklavenarbeit" mehrere Jahre im Gefängnis.
Auf der anderen Seite der charmante, selbstbewusste Beitz, der sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet hatte. Boulevardmedien nannten ihn "Deutschlands attraktivsten Manager". Von seinen Rettungsaktionen während des Kriegs wusste damals kaum jemand. Er selbst sprach erst sehr viel später öffentlich darüber.
Die Welt sollte sehen, dass Krupp sich geändert hat
Beitz handelte nach festen Prinzipien, er war weder Träumer noch Idealist. Er wusste in seinem Leben fast immer die guten Chancen zu nutzen. So heuerte der Beschützer Hunderter Juden ausgerechnet beim verurteilten Kriegsverbrecher Alfried Krupp an. Allerdings zog Alfried Krupp Konsequenzen aus der Vergangenheit. Er gab die Waffenproduktion auf und stimmte unter Vermittlung von Beitz bereits 1959 einem Entschädigungsabkommen zu. Die Welt sollte sehen, dass Krupp sich geändert hatte.
Weil es in der Industriellenfamilie selbst keinen geeigneten Nachfolger gab, sollte Beitz als Statthalter die Einheit des Unternehmens wahren. Als Testamentsvollstrecker von Alfried Krupp war er nach dessen Tod 1967 der starke Mann bei Krupp.
Dabei wollten einige Kruppianer den Manager in seinen Anfangsjahren bei dem Konzern wieder loswerden. Damals fertigte das Unternehmen eine Stahlkugel für den Tiefseetaucher Jacques Piccard. Als der Generalbevollmächtigte Beitz bei der Präsentation der Taucherkugel forsch im Anzug hineinkletterte, raunte einer der Krupp-Direktoren den Kollegen zu: "Jetzt den Deckel drauf, die Gelegenheit ist günstig."
Auch Bundeskanzler Konrad Adenauer war der selbstbewusste Aufsteiger suspekt. Beitz reiste auf eigene Faust in den Ostblock und knüpfte Geschäftskontakte. Sogar in Moskau wurde er vorstellig. Adenauer äußerte deshalb Zweifel an Beitz' "nationaler Zuverlässigkeit".
Krupp schrammte knapp am Untergang vorbei
Seine wohl größte Bewährungsprobe erlebte Beitz Ende der sechziger Jahre. Alfried Krupp als Alleininhaber und sein wichtigster Berater Beitz erkannten zu spät, welch tiefgreifende Folgen der Strukturwandel in der Montanindustrie für den Konzern hatte. Konkurrenten setzten auf neue Produkte, Krupp schwor weiter auf Stahl.
Kritiker sagen, Beitz sei zwar ein charmanter Menschenflüsterer gewesen, aber kein begnadeter Stratege. Statt Krupp neue Impulse zu geben, hätten sich die beiden Männer in ihrer einseitigen Sicht verstärkt.
1966 machte Krupp einen Verlust von 43 Millionen Mark. Bestimmte Firmenbereiche galten als hoffnungslose Verlustbringer. Doch Krupp weigerte sich, Betriebe zu schließen und Leute zu entlassen. Stattdessen forderte er: "Dann müssen die anderen Betriebe eben mehr verdienen." Beitz fügte sich.
Aber die Schulden wuchsen. 1967 verweigerten Banken dem Konzern einen wichtigen Exportkredit. Krupp stand vor dem Aus. 100.000 Jobs waren in Gefahr. Um den Traditionskonzern zu retten, musste Alfried Krupp seine Alleinherrschaft aufgeben. Nun bekam das Unternehmen einen Vorstand und Aufsichtsrat, musste Bilanzen offenlegen. Im Gegenzug gewährte der Bund der Firma eine Bürgschaft in Höhe von 300 Millionen Mark - letztendlich musste Krupp diese Hilfe gar nicht in Anspruch nehmen.
Wütende Stahlarbeiter stürmten die Villa Hügel
Das Jahr 1967 war für den Konzern eine Zäsur. Ende Juli, zwei Wochen vor seinem 60. Geburtstag, starb Alfried Krupp. Seinen exzentrischen Sohn Arndt hatte Beitz erst einige Monate zuvor im Auftrag des Patriarchen überzeugt, auf sein Erbe zu verzichten. Statt der Familie erbte die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung das Vermögen. Ihr Ziel: die Einheit des Unternehmens erhalten. Testamentsvollstrecker und Chef der Stiftung wurde Beitz, dieser Posten wurde ihm auf Lebenszeit zugedacht. Eine in der deutschen Wirtschaft beispiellose Machtposition.
Im Stahlkonzern trat Beitz als Hüter der kruppschen Tradition sozialer Verantwortung auf. Doch das Verhältnis zwischen ihm und den Arbeitern war nicht immer harmonisch. In den achtziger Jahren steckte die deutsche Stahlbranche in der Krise, die Konkurrenten produzierten günstiger. Krupp Stahl schrieb rote Zahlen. Der neue Chef der Sparte, Gerhard Cromme, wollte den Verlustbringer schließen: die Hütte Rheinhausen, die seit fast hundert Jahren besteht.
Die Belegschaft meuterte gegen die Schließungspläne, 1987 stürmten wütende Stahlarbeiter aus Rheinhausen die Villa Hügel. Doch Beitz stellte sich hinter Cromme. Rheinhausen wurde dichtgemacht. Viele Arbeiter empfanden Beitz' Verhalten wie Verrat.
Wer nicht mit Beitz zurechtkam, musste weichen
In den Jahrzehnten nach Alfried Krupps Tod wechselten die Manager im Konzern. Wer nicht mit Beitz zurechtkam, musste weichen. Das Unternehmen fusionierte 1992 mit Hoesch, 1999 folgte der Zusammenschluss mit Thyssen zur ThyssenKrupp AG. Beitz wirkte stets im Hintergrund und sorgte daneben mit Millionen der Krupp-Stiftung für Wohltaten.
Beitz hob gern seine Sonderstellung hervor. "Ich gehörte und gehöre nicht zu dem Berufsstand der Manager. Ich war Generalbevollmächtigter des letzten Inhabers der Firma Krupp", sagte er 1995. Er ließ sich in einer Limousine mit dem Kennzeichen E-RZ 1, ERZ wie Eisenerz, chauffieren. Es war einst Alfried Krupps Kennzeichen.
Von den einen wurde Beitz für sein weltmännisches Auftreten bewundert, andere kritisierten seine strategischen Entscheidungen. Doch uneingeschränkten Respekt erhielt er für seine mutigen Rettungsaktionen in Boryslaw. 1973 erklärte ihn die israelische Gedenkstätte Jad Waschem zum "Gerechten unter den Völkern", auch seine Frau bekam den Ehrentitel verliehen.
Bis heute bedeuten Beitz' Taten während des Kriegs eine implizite Anklage gegen alle, die in vergleichbaren Situationen untätig geblieben sind. Warum handelte Beitz, wo Millionen Deutsche weggeschaut haben? Er selbst spielte seine Rettungsaktionen eher herunter und sagte: "Wenn ich Angst gehabt hätte, wäre ich verloren gewesen. Ich durfte keine Angst haben, und ich hatte sie auch nicht."