Umsatzsteuerbetrug Die Amazon-Oase

Die Deutschen kaufen immer mehr Waren im Internet, doch dabei geht der Staat oft leer aus. Onlinehändler hinterziehen Steuern und nutzen dabei den US-Konzern Amazon. Der zeigt wenig Interesse an Transparenz.
Amazon-Lager in Brandenburg

Amazon-Lager in Brandenburg

Foto: © Hannibal Hanschke / Reuters/ REUTERS

Eine Steueroase, hier? In der Eingangshalle des Finanzamts Neukölln erinnern bestenfalls ein paar palmenartige Topfpflanzen an Orte wie Panama oder die Bahamas, wo Geschichten über Steuerhinterziehung sonst spielen. Doch bei näherem Hinsehen finden sich auch hier, im Südosten von Berlin, Spuren eines gewaltigen Betrugs.

Im Neuköllner Finanzamt müssten sich eigentlich alle Onlinehändler registrieren, die von China aus Waren nach Deutschland verkaufen. Oft laufen ihre Geschäfte über den US-Giganten Amazon - und sie laufen gut. Jahr für Jahr bestellen die Deutschen mehr im Internet.

Dabei müsste der Staat eigentlich immer mitverdienen: Unternehmen zahlen auf ihre Einkäufe Umsatzsteuern, die beim Endverbraucher als Mehrwertsteuer ankommen. In Deutschland machen Umsatzsteuern fast ein Drittel der Steuereinnahmen aus. Doch im Gegensatz zum traditionellen Einkauf im Geschäft, geht der Fiskus im Internet häufig leer aus und verliert jedes Jahr Milliardenbeträge.

Finanzamt Neukölln

Finanzamt Neukölln

Foto: David Böcking

Christian Müller (Name geändert) hat das selbst erlebt. Im April 2017 bestellt Müller über Amazons Premiumversand Prime einen USB-Adapter. Der Verkäufer soll hier "Leo" heißen, er nutzt die Amazon-Plattform Marketplace. Der Preis von 89,90 Euro ist inklusive Mehrwertsteuer - so steht es auf der Bestellseite. Nach nur einem Tag wird das Gerät geliefert, offenbar kommt es aus einem europäischen Amazon-Lager. Eine Rechnung fehlt.

Als Müller sie nachfordert, stellt sich heraus, dass hinter "Leo" eine Firma in der chinesischen Millionenstadt Shenzhen steht. In China droht bei Steuervergehen im schlimmsten Fall die Todesstrafe, deshalb hat der SPIEGEL den Händlernamen geändert. Eine Kundenbetreuerin namens "Lucy" schickt nach längerem Hin und Her eine Art Rechnung. Fürs deutsche Finanzamt ist sie unbrauchbar, auch weil keine Mehrwertsteuer ausgewiesen wird. Müller hakt nach.

"Bitte verstehen Sie freundlich, es gibt keine VAT-Gebühr in Ihrem Auftrag des Produkt", schreibt "Lucy" in holprigem Deutsch. Der Händler hat für das Geschäft in Deutschland also nie Mehrwertsteuer (englisch: Value Added Tax - VAT) abgeführt. Das bestätigt am Ende des Einkaufs sogar die Amazon-Bestellseite. Klickt man auf den Link "mehr Informationen" steht dort: "MwSt.: EUR 0,00". Und das ist rechtswidrig.

Rechnung von Händler "Leo"

Rechnung von Händler "Leo"

Foto: SPIEGEL ONLINE

"Waren, die innerhalb der EU gegen Entgelt gegenüber Endverbrauchern gehandelt werden, können grundsätzlich nicht ohne Mehrwertsteuer verkauft werden", sagt Nathalie Harksen, geschäftsführende Gesellschafterin der Steuerberatungsgesellschaft AWB.

Doch "Leo" ist kein Einzelfall. Müller hat viele Beispiele von chinesischen Amazon-Marketplace-Händlern gesammelt, die sich in Deutschland um die Mehrwertsteuer drücken. Das wurmt ihn auch aus beruflichen Gründen: Er verkauft selbst Waren im Internet und zahlt dafür brav Steuern. Deshalb ist Müllers Ware teurer als die der asiatischen Konkurrenz.

Müller beschwert sich auch bei Amazon. Dort, so erzählt er, erklärt man ihm am Telefon, dass der Händler aus China in ein sogenanntes Freilager nach Europa verschicke und deswegen keine Mehrwertsteuer abführen müsse. Die Chinesen versteuerten ihre Umsätze schon daheim. Doch das ist Unsinn.

Nicht mal jeder zehnte Händler ist gemeldet

Nach deutschem Steuerrecht unterliegen aus Drittländern importierte Waren der hiesigen Einfuhrumsatzsteuer. Zwar gibt es Zolllager, in denen die Güter zunächst abgabenfrei bleiben können, erklärt Hans-Michael Wolffgang, Professor für Zollrecht an der Universität Münster. "Aber spätestens, wenn die Ware aus dem Lager zum Endverbraucher geliefert wird, muss der Einführer Mehrwertsteuer entrichten. Macht er das bewusst nicht, ist es Steuerhinterziehung und damit ein Straftatbestand."

Die Mehrwertsteuer wird offenbar reihenweise nicht abgeführt: Allein auf Amazons deutschem Marktplatz und bei Ebay tummeln sich 5000 bis 6000 chinesische Anbieter, errechnete der Analyst Mark Steier, einst bei Ebay selbst als "Platin-Powerseller" aktiv. Sie alle müssten eigentlich beim Finanzamt Neukölln angemeldet sein. Tatsächlich sind laut der zuständigen Senatsverwaltung Finanzen gerade einmal "rund 430 Händler mit Sitz in der Volksrepublik China (einschließlich Hongkong) umsatzsteuerlich registriert". Mehr als 90 Prozent der Anbieter besitzen also nicht einmal eine deutsche Umsatzsteuer-Nummer.

Die mangelhaften Kontrollen prangerte der Bundesrechnungshof bereits 2015 unter der Überschrift "Steueroase Internet"  an. Die Behörden konzentrierten sich auf ehrliche Händler, kritisierten die Rechnungsprüfer. "Sie versuchen jedoch nicht, unbekannte Steuerfälle zu ermitteln, also Anbieter, die sich erst gar nicht bei den Finanzbehörden melden. Solche Anbieter haben somit nur das Risiko, zufällig entdeckt zu werden."

Auch Amazon kennt die Missstände, tut aber augenscheinlich nichts dagegen. Duldet der Konzern bewusst Steuerhinterziehung über seine Plattform? Ein Testkauf des SPIEGEL legt dies nahe.

Spätestens durch Christian Müllers Beschwerde wusste Amazon, dass Händler "Leo" offenbar keine Mehrwertsteuer abführt. Fünf Monate danach bietet der Händler aber noch immer denselben USB-Adapter und eine Reihe weiterer Produkte an - alle ohne Mehrwertsteuer. Der SPIEGEL hat den Adapter über Prime gekauft. Nach einem Tag kommt die chinesische Ware, offenbar wieder über ein Zwischenlager: Der Lieferschein ist auf polnisch ausgestellt, eine Rechnung fehlt erneut.

Auf Nachfrage folgt eine Rechnung ohne Mehrwertsteuer. Im Begleitschreiben schlägt eine Mitarbeiterin vor: "Bitte teilen Sie uns den genauen Steuersatz in DE mit. Dann kann ich es so schnell wie möglich ändern." Auf die verwunderte Rückfrage, ob "Leo" denn keine Mehrwertsteuer abgeführt habe, kommt eine weitere Rechnung. Sie enthalte 19 Prozent, "wie gewohnt", schreibt die Mitarbeiterin. Tatsächlich sind es rund 23,5 Prozent.

Offenbar hat der Händler die Mehrwertsteuer fälschlicherweise anhand der Bruttosumme berechnet. Erneut zeigt er sich flexibel: "Lassen Sie uns jede Änderung einfach wissen." Dann behaupten die Chinesen plötzlich, es handele sich um den britischen Mehrwertsteuersatz. Das passt erneut nicht zum Betrag und ist auch sonst kein überzeugendes Argument: Wenn schon nicht in Deutschland, so hätte "Leo" in Polen Steuern zahlen müssen - von wo das Päckchen offensichtlich versandt wurde. Ein drittes Mal bietet eine Mitarbeiterin an, den "exakten Tarif" für Deutschland einzutragen.

Fazit: "Leo" wusste weder, wie hoch die Mehrwertsteuersätze in der EU sind noch, wie man sie korrekt berechnet. Zudem sah der Händler kein Problem damit, einen beliebigen Steuersatz anzugeben. Schwer zu glauben, dass dieser Händler irgendwo in der EU Steuern abgeführt hat.

Nach Schilderung des Falls kündigte Amazon gegenüber dem SPIEGEL eine Überprüfung an. Eine generelle Verantwortung für Steuerhinterziehung über seine Plattformen streitet der Konzern jedoch ab. "………Amazon-Händler sind eigenständige Unternehmen und verantwortlich dafür, ihre steuerrechtlichen Pflichten zu erfüllen", sagt eine Sprecherin. Man stelle Händlern "Tools und Informationen" zur Erfüllung ihrer Steuerpflichten zur Verfügung, "aber wir haben keine Befugnis, ihre Steuerangelegenheiten zu überprüfen".

Dabei ist Amazon weit mehr als eine neutrale Plattform: Über das Programm "Fulfillment by Amazon" übernimmt der US-Konzern für Händler wie "Leo" die Lagerung, Lieferung und das Retourenmanagement - und verdient daran satte Gebühren. Entsprechend größer ist die Verantwortung, dass alles mit rechten Dingen zugeht.

Wir haben leider keine Rechnung für Sie

An Transparenz zeigt Amazon jedoch selbst dann wenig Interesse, wenn es um die eigenen Mehrwertsteuerzahlungen geht. Diese Erfahrung machte Thomas Schlüter aus Münster.

Schlüter ist Kunde von Prime - Amazons Premiumversand, zu dem auch Leistungen wie ein Video-Streaming oder Fotospeicherplatz gehören. Für seinen Mitgliedsbeitrag von 69 Euro jährlich bittet er bei Amazon im August um eine Rechnung. Doch Kundenbetreuerin Mandy G. bedauert, "mitteilen zu müssen, dass wir Ihnen für Ihre Prime-Mitgliedschaft keine Rechnung mit ausgewiesener Mehrwertsteuer zur Verfügung stellen können".

Schlüter protestiert: Als Unternehmen in der EU sei Amazon verpflichtet, eine Rechnung auszustellen. Mandy G. begründet die Ablehnung damit, dass auch der Streaming-Dienst "Prime Video" Teil des Gesamtprogramms sei. Die Leistungen würden sowohl von Firmen in Luxemburg als auch Deutschland erbracht. Schlüter, selbst als Unternehmensberater tätig, ist sauer. "Da werde ich als Freiberufler drangsaliert bis zum Geht-nicht-mehr und Unternehmen wie Amazon setzen sich aufs hohe Ross."

Dialog zwischen Schlüter und Amazons Kundendienst

Dialog zwischen Schlüter und Amazons Kundendienst

Foto: SPIEGEL ONLINE

Als der SPIEGEL um eine Prime-Rechnung bittet, läuft es ähnlich: Zur Argumentation mit unterschiedlichen Firmensitzen kommt noch eine andere Begründung: Laut den Teilnahmebedingungen ist Prime nur für private Nutzer gedacht, nicht für Unternehmen, die Umsatzsteuerzahlungen verrechnen können.

Tatsächlich haben Privatkunden im Gegensatz zu Unternehmern keinen Anspruch auf eine offizielle Rechnung. Doch selbst auf den simplen Quittungen von Taxifahrern oder Supermärkten wird normalerweise der verwendete Mehrwertsteuersatz genannt. Nicht aber auf den Quittungen, die Schlüter und der SPIEGEL von Amazon erhielten.

"Solange Amazon seine Leistungen an deutsche Abnehmer richtet, muss es Mehrwertsteuer ausweisen", sagt Oliver Buttler von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg. Der Prime-Mitgliedsbeitrag enthalte auch gesetzliche Umsatzsteuer, beteuert die Unternehmenssprecherin. Warum dann also die Geheimniskrämerei?

"Die Wirtschaft zieht an uns vorbei"

Für die spärlichen Informationen hat Thomas Eigenthaler eine eigene Erklärung. "Die wollen möglichst wenig Beweismaterial herausgeben", vermutet der Chef der deutschen Steuergewerkschaft. Amazon hat in der Vergangenheit massiv Geld gespart, indem der Konzern in Luxemburg und den Niederlanden spezielle Steuerdeals aushandelte und seine Gewinne auf zahlreiche Länder verteilte. Umso bemerkenswerter, dass Amazon die mangelhaften Angaben nun mit verstreuten Tochtergesellschaften begründet.

"Die Wirtschaft zieht an uns vorbei, wir denken noch nationalstaatlich", warnt Eigenthaler. Auch er stört sich besonders am Betrug asiatischer Händler, fürchtet aber: "An die Chinesen kommen wir nicht ran." Deshalb gebe es nur eine Lösung: "Plattformbetreiber müssen mit in die steuerliche Haftung."

Amazon-Lager in England

Amazon-Lager in England

Foto: Oli Scarff/ Getty Images

Wie das gehen kann, hat Großbritannien vorgemacht: Der britische Fiskus verpflichtet Fernost-Händler neuerdings dazu, sich eine britische Steuernummer zu besorgen. Hinterziehen Marketplace-Teilnehmer die Mehrwertsteuer, können Amazon oder Ebay dafür selbst in Haftung genommen werden. Ergebnis: Amazon UK hat bis Mitte September schon mehr als 400 Händlerkonten gesperrt.

Der US-Bundesstaat South Carolina hat den Handelsriesen im Juni sogar auf Zahlung von 12,5 Millionen Dollar verklagt. Es geht um Steuern, die Amazon in den ersten drei Monaten des Jahres 2016 von seinen Marktplatzhändlern hätte eintreiben sollen. Nach Ansicht der Behörden ist das Unternehmen der steuerpflichtige Verkäufer - gerade dann, wenn es über "Fulfillment by Amazon" auch Lagerung und Versand übernimmt.

In Deutschland mahlen die Mühlen langsamer. Zwar gibt es seit einigen Monaten im Bundesfinanzministerium ein Referat zur "Umsatzsteuerkontrolle und -Betrugsbekämpfung - national und international". Fragt man im Ministerium nach konkreten Schritten, wird jedoch auf Brüssel verwiesen.

Dort hat die EU-Kommission gerade ein Reformpaket für die Mehrwertsteuer vorgelegt und gleichzeitig von Amazon 250 Millionen Euro an Steuern nachgefordert. Die bisherigen Vorschläge sollen aber vor allem den innereuropäischen Betrug über sogenannte Umsatzsteuerkarussells stoppen.

Teures Warten auf die Reform

Um auch den Betrug mit asiatischen Händlern zu bekämpfen, müsste unter anderem eine Freigrenze von 22 Euro fallen: Bis zu diesem Warenwert sind Internetbestellungen aus Nicht-EU-Staaten von Steuer und Zoll befreit. Unter den rund 150 Millionen Paketen, die bislang mehrwertsteuerfrei in die EU eingeführt werden, haben laut Stichproben viele eigentlich einen höheren Wert.

Die Abschaffung der 22-Euro-Grenze wird immerhin schon im Europäischen Rat diskutiert. Eine umfassende Reform aber peilt die Kommission erst für 2022 an. Bis dahin entgehen den Mitgliedstaaten laut einer aktuellen Studie der Brüsseler Behörde jährlich rund 152 Milliarden Euro an Mehrwertsteuern - rund ein Drittel davon durch grenzüberschreitenden Betrug.

Angesichts solcher Zahlen wundert sich Steuergewerkschafter Eigenthaler, dass Politik und Wirtschaft nicht viel stärker auf Änderungen dringen. "Wo bleibt der Aufschrei der deutschen Handelsverbände?", fragt er. "Das ist eine empfindliche Beeinträchtigung des Wettbewerbs!"

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