Volkswagen Die wichtigsten Daten und Fakten zur Abgasaffäre


Vereinfacht gesagt haben VW-Ingenieure die Motorsteuerung mit einer Software ausgestattet, die die Leistung des Motors reduziert und gegebenenfalls eine zusätzliche Reinigungsstufe (den NOx-Katalysator) im Auspuff aktivieren kann. Dank bereits vorhandener Sensoren zum Beispiel in der Lenkung, im Getriebe, für das Antiblockiersystem oder den Schleuderschutz EPS erkennt das Fahrzeug, wenn es auf einem Prüfstand steht. In diesem Moment schaltet die Motorsteuerung dann in den extremen Schadstoffsparmodus und lässt das Fahrzeug sauberer erscheinen, als es im Alltagsbetrieb ist.
Die Warnmeldungen über Abweichungen der Verbrauchsangaben bei den rund 800.000 Benzinern haben sich dagegen als weitgehend gegenstandslos herausgestellt. Für die überwiegende Zahl der betroffenen Autos mussten lediglich einige Angaben im Katalog korrigiert werden. Die Grenzwerte wurden jedoch eingehalten. Einige Fahrzeugtypen müssen aber noch untersucht werden. Konzernchef Matthias Müller hat die EU-Kommission zu Beginn des Jahres allerdings um einen Terminaufschub bitten müssen, weil die Messungen noch nicht abgeschlossen waren.
Womöglich haben die Ingenieure die Grenzübertretung selbst gar nicht mehr so stark wahrgenommen. In Europa ist die Optimierung für den Prüfstand gang und gäbe. Bei dem Testverfahren dürfen die Techniker sogar die Rückspiegel entfernen und die Ritzen zwischen den Karosserieteilen abkleben, um den Luftwiderstand des Autos zu senken. Die Reifen sind extrem aufgepumpt und viel schmaler als in der Serie. Und die Motoren sind so abgestimmt, dass sie in dem für die einzelnen Testabschnitte vorgesehenen Drehzahlbereich optimale Ergebnisse liefern.
In den USA ist das Prozedere viel unberechenbarer, weil hier die Fahrzeuge nach dem Zufallsprinzip für Nachtests aus der Serie herausgezogen werden können. Ein weiteres Problem: Während in Europa die Grenzwerte für den CO2-Ausstoß streng sind, legt man jenseits des Atlantiks besonderen Wert auf einen niedrigen Stickoxidausstoß. Um die Grenzen einzuhalten, benötigen vor allem Dieselmotoren eine aufwendige Nachbereitung des Abgases.

Technisch ist das zwar kein Problem, doch es hätte VW viel Geld gekostet, die Motoren umzurüsten. Zu viel, um die Autos dann noch gut verkaufen zu können. So dachten offenbar die Vertriebsstrategen. Entsprechend streng waren die Vorgaben für die Kalkulation.
Nun war es bei VW unter dem Regiment von Martin Winterkorn und Ferdinand Piëch nicht statthaft, solche Vorgaben infrage zu stellen, selbst wenn es gute Argumente dafür gab. Die Entwickler bewegten sich also im Spannungsfeld von striktem Spardiktat auf der einen und strengen Abgasvorschriften auf der anderen Seite. Um sich dem zu entziehen, setzten sie die manipulative Software ein. Eine Art Notwehr aus ihrer Sicht, Betrug aus Sicht der Juristen.
Aufgedeckt hat den Skandal die Umweltorganisation ICCT. Die Forscher des Instituts gehen seit Langem der Frage nach, wie viele Schadstoffe Dieselfahrzeuge wirklich ausstoßen. Trotzdem machten sie die ungeheuerliche Entdeckung eher zufällig.
Im vergangenen Jahr hatten sich bei einem Test europäischer Dieselmodelle der Hersteller Volkswagen und BMW Widersprüche ergeben. Peter Mock, Direktor von ICCT Europe, gab daraufhin den Vorgang an seine Kollegen in den USA weiter. "Ziel war es zu zeigen, dass die deutschen Autos in den USA sauberer sind als in Europa, weil die Normen dort strenger sind", sagte Mock in einem Interview.
Die ICCT-Forscher suchten sich Hilfe bei der West Virginia University. Deren Center for Alternative Fuels, Engines and Emissions verfügte über die nötige Technik. Bei den Tests ergab sich allerdings bei den VW-Modellen ein Verdacht auf Manipulationen.
Daraufhin leitete die US-Umweltbehörde EPA im Mai 2014 eine Untersuchung gegen Volkswagen ein. Im Dezember 2014 rief der Hersteller dann fast 500.000 seiner Autos in den USA zurück, ein Software-Update wurde eingespielt. Nach dem Rückruf wiesen die Autos unter Realbedingungen aber immer noch erhöhte Abgaswerte auf.
Im Juli 2015 wurde VW nach weiteren unabhängigen Untersuchungen darüber informiert, dass etwas mit den Fahrzeugen nicht stimmen könne. Zur gleichen Zeit mussten die US-Behörden über die Zulassung der 2016er Modelle von VW entscheiden - und zogen angesichts der Vorgänge die Notbremse: Solange der Fehler nicht gefunden sei, gebe es keine Zertifizierung.
Erst am 20. September 2015 knickte Volkswagen ein und gab den Betrug zu. Zwei Tage zuvor hatte die US-Umweltbehörde einen erneuten Rückruf von fast 500.000 VW-Fahrzeugen gefordert. Mittlerweile ist klar: Weltweit sind insgesamt rund elf Millionen Autos des Konzerns betroffen, in denen der fragliche Motor des Typs EA 189 eingebaut ist.
In einem Unternehmen wie VW trifft die Frage nach der Verantwortung schnell die oberste Führungsebene. Konzernchef Martin Winterkorn musste bereits seinen Posten räumen, der zur fraglichen Zeit verantwortliche Entwicklungschef Ulrich Hackenberg und die für die Motorentwicklung zuständigen Top-Manager Heinz-Jakob Neußer und Wolfgang Hatz sind beurlaubt. Nach SPIEGEL-Informationen sind allerdings noch eine ganze Reihe hochrangiger Manager in die Affäre verwickelt. Der Kreis der Mitwisser und Mittäter könnte sich noch ausweiten.
Dazu gehört auch das Top-Management von Audi. So wurde der erst seit Januar amtierende Entwicklungsvorstand Stefan Knirsch beurlaubt, weil er wohl viel früher von den Manipulationen an den 3,0-Liter-Motoren gewusst hat, als angenommen. Einige Dokumente legen auch den Verdacht nahe, dass Vorstandschef Rupert Stadler seit 2010 von den Manipulationen gewusst hat. Die Ermittlungen laufen noch.
Nach Informationen der "Süddeutschen Zeitung hatte bereits 2007 ein Audi-Ingenieur eine E-Mail an einen größeren Kreis von Managern eine Email geschrieben, in der er den Betrug schon recht konkret andeutete: "Ganz ohne Bescheißen" werde man es nicht schaffen. Der Kreis der Mitwisser und Mittäter könnte sich noch ausweiten. Im September gab US-Justizministerium bekannt, dass erstmals ein Volkswagen-Ingenieur angeklagt wurde. James L. soll an der Entwicklung der illegalen Software beteiligt gewesen sein. Er bekennt sich schuldig und will mit den US-Behörden zusammenarbeiten.

Ein naheliegender Schluss. Schließlich müssen Motoren im Laufe der Jahre immer wieder an verschärfte Abgasnormen angepasst werden, die sich noch dazu auf den einzelnen Märkten stark unterscheiden. Dementsprechend ist auch der Dieselmotor EA 189 im Laufe seiner Einsatzzeit von 2008 bis heute mehrfach geprüft worden. Dass er die Vorschriften ohne die teure Abgasreinigung erreicht, die bei Dieselantrieben in der Regel erforderlich ist, hätte "jeden Motorenentwickler misstrauisch machen müssen", sagte ein VW-Manager.
Auch die Vorwürfe der EPA, nach denen in den USA 3,0-Liter-Motoren von Porsche, Audi und VW manipuliert wurden, haben sich als richtig erwiesen.
So viele Schummel-Autos sind unterwegs

Anzahl der betroffenen Fahrzeuge. Zum Vergleich: Anzahl der von der Marke ausgelieferten Fahrzeuge im Jahr 2014
Foto: Quelle: VolkswagenNach Angaben von Volkswagen sind allein in Deutschland etwa 2,4 Millionen Autos betroffen, weltweit sind es insgesamt elf Millionen. Diese verteilen sich auf fünf Sparten des Konzerns:
Volkswagen Pkw: 5 Millionen
Volkswagen Nutzfahrzeuge: 1,8 Millionen
Audi: 2,1 Millionen
Skoda: 1,2 Millionen
Seat: 700.000
Die Fahrzeuge stammen aus den Modelljahren 2009 bis 2014 und haben Dieselmotoren mit 1,2, 1,6 oder 2,0 Litern Hubraum, die an der Typenbezeichnung EA 189 zu erkennen sind.
Nach Angaben der US-Umweltbehörde EPA hat der Konzern auch in Autos mit 3,0-Liter-Dieselmotoren eine Manipulations-Software eingesetzt.
Jede Konzern-Marke, die den EA 189 verwendet hat, hat eine Webseite eingerichtet, auf der Kunden anhand der Fahrgestellnummer herausfinden können, ob ihr Auto betroffen ist.
Der zwischenzeitlich unter Verdacht stehende Motor EA 288 ist laut VW nur in den USA mit der betrügerischen Software ausgestattet. In Europa sei der Motor gesetzeskonform.
Am 7. Oktober hat VW dem Kraftfahrtbundesamt einen Zeit- und Maßnahmenplan zu dem nun anstehenden Rückruf vorgelegt. Demnach ist eine technische Lösung für die Modelle mit 1,6-Liter-Motor nicht vor September 2016 zu erwarten. Bei den 2,0-Liter-Aggregaten muss laut VW-Angaben die Software neu programmiert werden, die Rückrufaktion für verschiedene Modelle ist mittlerweile angelaufen. Zum kleinen 1,2-Liter-Motor nannte Volkswagen in einem Kundenbrief einen Beginn der Werkstatt-Aktionen ab dem 30. Mai.
Allerdings legte VW bei der Nachbesserung der Modelle mit 2,0-Liter-Motor einen grandiosen Fehlstart hin. Ursprünglich war geplant, betroffene Modelle des VW Passat mit 2,0-Liter-Motor in der neunten Kalenderwoche des Jahres nachzubessern. Doch Mitte Februar hatte eine Messung der Fachzeitschrift "Auto Motor und Sport" das KBA auf den Plan gerufen. Das Blatt hatte berichtet, dass bei ersten Tests mit zwei Amarok, die von VW upgedatet wurden, zwar die Motorleistung gleich geblieben, der Verbrauch aber gestiegen sei. Das Pick-up-Modell Amarok war das erste Fahrzeug, das von VW nachgebessert wurde. Wie auch der Passat verfügt er über einen 2,0-Liter-Diesel-Motor. Wegen der Abweichungen bei dem Test wollte das KBA die genauen Folgen des Software-Updates untersuchen. Bisher steht die Freigabe des Rückrufes durch das KBA noch aus. Modelle des A4, A5 und Q5 mit den 2,0 Liter-Motoren und Schaltgetriebe dürfen nun hingegen in die Werkstätten gerufen werden.
Der Diesel gilt in den Ingenieursabteilungen der deutschen Autohersteller als einfachster Weg zur Senkung des Flottenverbrauchs. Neben den strengen Grenzwerten für Stickoxide ist diese Kennzahl die zweite hohe Hürde in den USA. Hybridantriebe, wie sie Toyota seit Jahren mit wachsendem Erfolg anbietet, senken den Flottenverbrauch ebenfalls. Den deutschen Herstellern gelten die Antriebe dagegen als zu aufwendig und zu teuer (auch wenn sie dem Trend inzwischen notgedrungen folgen). Mit einer groß angelegten Marketingkampagne wollten Volkswagen und Co. ihren "Clean-Diesel"-Autos deshalb den Weg ebnen.
Wirklich erfolgreich war die Kampagne allerdings nicht. Der Diesel hat seinen Ruf als rustikaler Truck-Antrieb in den USA bis heute nicht wirklich ablegen können. Dabei tut sich VW auf dem dortigen Markt ohnehin schwer. Im Gesamtjahr 2014 verkauften die Wolfsburger gerade einmal rund 238.000 Autos. Etwas besser läuft es bei den Volkswagen-Töchtern Audi und Porsche, die ihre Verkäufe vor allem mit SUVs insgesamt um rund zehn Prozent steigern konnten.
Mit aller Wahrscheinlichkeit nicht. Dazu ist der Selbstzünder für viele Autofahrer noch zu attraktiv. Im Vergleich zu Benzinmotoren ist er sparsamer (und stößt dadurch weniger treibhauswirksames CO2 aus), außerdem ist Dieselkraftstoff in vielen Ländern billiger als Benzin. Nach Willen der Bundesregierung soll sich in Deutschland daran auch nichts ändern - die Bundesregierung will nach Angaben einer Sprecherin die niedrigere Besteuerung von Diesel beibehalten. Dennoch regt sich auch hierzulande Widerstand. Im Zuge des Skandals um manipulierte Abgaswerte bei Dieselautos wollen die Umweltminister mehrerer Bundesländer den Kraftstoff teurer machen. Steuervorteile gegenüber Benzin sollen schrittweise abgebaut werden, fordern die Ressortchefs aus Nordrhein-Westfalen, Bremen, Hamburg, Hessen und Niedersachsen.
Hinzu kommt, dass bislang nur VW des Betrugs bei Abgasuntersuchungen überführt worden ist. Solange die Käufer keine Nachteile oder Wertverluste befürchten müssen, dürfte der Diesel beliebt bleiben.
Der Siegeszug des Diesels
Die Erfolgsgeschichte begann vor fast 20 Jahren: 1995 kamen Personenwagen mit Dieselmotor in Deutschland auf einen Anteil von läppischen 15 Prozent. Seitdem jedoch fuhr der Diesel jährlich neue Rekorde ein. Im Jahr 2003 lag sein Anteil an den Neuzulassungen schon bei 40 Prozent, für das Jahr 2012 meldet das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) nun mit 48,2 Prozent die bisherige Rekordmarke. Der Benziner schrumpfte im gleichen Zeitraum von mehr als 80 auf 50 Prozent Marktanteil - Autogas, Hybride und andere Antriebsvarianten spielten und spielen nur eine Nebenrolle.
Trotzdem glauben Experten wie Stefan Bratzel, dass aus dem VW-Skandal Chancen für andere Antriebe erwachsen könnten. "Kurzfristig", sagt der Direktor des Center of Automotive Management in Bergisch-Gladbach, "ist der Diesel zwar nicht zu ersetzen." Weil jeder zweite Neuwagen in Deutschland ein Selbstzünder sei, stünden die Produktionspläne der Autohersteller für die nächsten Jahre fest. Weitere Effizienzsteigerungen erforderten speziell beim Diesel allerdings immer höheren technischen (und damit finanziellen) Aufwand. Die deutsche Autoindustrie müsse sich deshalb fragen, ob eine Weiterentwicklung noch sinnvoll sei.
Reinhard Kolke, Leiter Test und Technik beim ADAC, glaubt dagegen an die Zukunft des Diesel-Motors. Er sieht die Automobilindustrie allerdings in der Pflicht, die Autos noch sauberer zu machen. Die dazu nötige Technik, sagt Kolke, sei bereits heute für die Großserie verfügbar.
Die EU-Staaten haben sich wegen der VW-Affäre auf neue Abgastests für Dieselautos in Europa geeinigt. Allerdings sind auch in Zukunft Abweichungen zwischen Laborwerten und den im Fahrbetrieb gemessenen Werten erlaubt. Ein Ausschuss der Mitgliedsländer hat am 28. Oktober beschlossen, dass die Abweichung bei den Stickoxidwerten zunächst mehr als das Doppelte betragen darf, wie die EU-Kommission mitteilte. Selbst nach einer mehrjährigen Übergangsphase dürfen die realen Werte immer noch um die Hälfte höher sein als im Labor.

Damit werden die Regeln zwar strenger als bisher, aber weniger scharf als von der EU-Kommission ursprünglich geplant. Zuvor hatte das EU-Parlament als Konsequenz aus dem VW-Dieselskandal die zügige Einführung von Abgastests unter realen Fahrbedingungen gefordert.
Bergauf

Abweichung des realen Kraftstoffverbrauchs vom zugelassenen Kraftstoffverbrauch in Prozent
Foto: Quelle: ICCT mit Daten von spritmonitor.deDie neuen Tests mit dem Namen Real Driving Emissions (RDE) sollen weniger anfällig für Manipulationen sein, da sie nicht in realitätsfernen Bedingungen auf Rollenprüfständen ermittelt werden - sondern auf der Straße. Die Tests gelten aber nur für Stickoxide, nicht für den CO2-Ausstoß, der weiterhin im Labor gemessen wird.
Die EU-Länder haben nun entschieden, dass die RDE-Tests für neue Fahrzeugtypen ab dem 1. September 2017 verpflichtend sind, für alle neu zugelassenen Fahrzeuge ab dem 1. September 2019.
Auch die Messbedingungen im Labor sollen künftig verändert werden. Bisher gilt in Europa zur Ermittlung der Abgaswerte der sogenannte Neue Europäische Fahrzyklus (NEFZ). Dieses Testverfahren wird seit Langem kritisiert. Zum einen bietet es den Herstellern zahlreiche Schlupflöcher, die es ermöglichen, die Autos auf Testbedingungen hin zu optimieren. Zum anderen sind die Bedingungen realitätsfern.
Ein neues Verfahren soll den NEFZ deshalb ersetzen: Im sogenannten World-Harmonized Light-Duty Vehicles Test Procedure (WLTP) ist zum Beispiel eine Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h statt bisher 120 km/h vorgesehen, außerdem eine stärkere Beschleunigung sowie eine Temperatur in der Testanlage von 23 statt 30 Grad, die sich weniger vorteilhaft auf die Verbräuche und damit auf die Abgaswerte auswirkt.
Bei den CO2-Grenzwerten, die unmittelbar an den Spritverbrauch gekoppelt sind, beträgt die Abweichung bei Neuwagen in Europa mittlerweile im Schnitt 40 Prozent. Dies hat das Forschungsinstitut ICCT (International Council on Clean Transportation) in seiner jüngsten Studie berichtet. Besonders bei Audi (45 Prozent), Mercedes (51 Prozent) und Volvo (45 Prozent) fiel die Diskrepanz zwischen den im Labor ermittelten Werten und den im Straßenverkehr herausgefahrenen Spritverbräuchen besonders groß aus. Von 2002 bis 2014 haben sich die Abweichungen vervierfacht.
Generell gibt das deutsche Haftungsrecht den Kunden längst nicht so umfangreiche Möglichkeiten an die Hand wie etwa das amerikanische. Der Kölner Vertrauensanwalt des Autoclubs Europa (ACE), Matthias Siegert-Paar, sieht für betroffene VW-Besitzer dennoch Chancen für Regressansprüche. Wenn niedrige Abgaswerte quasi als Eigenschaftsbeschreibung des Autos konkret im Kaufvertrag vereinbart oder explizit im Verkaufsprospekt erwähnt seien, dann stünden dem Kunden die kompletten deutschen Gewährleistungsrechte zur Verfügung, sagt Siegert-Paar. Der Kunde muss dem Vertragspartner allerdings die Chance einräumen, den bestehenden Mangel auszubessern. Entsteht dadurch im konkreten Fall ein neuer Mangel - wie zum Beispiel ein höherer Verbrauch oder ein Leistungsverlust, dann könnten im Extremfall sogar eine Minderung des Kaufpreises oder der Rücktritt vom Kaufvertrag möglich sein.
Entscheidend ist natürlich auch, ob der Mangel überhaupt vollständig zu beheben ist. Während bei den 2,0-Liter-Aggregaten laut Angaben von VW lediglich die Software neu programmiert werden müsse, sind beim 1,6-Liter-Motor größere technische Eingriffe nötig.
Darüber gehen die Einschätzungen weit auseinander. Allein die Strafzahlungen an die US-Umweltbehörde EPA könnten - zumindest theoretisch - bis zu 18 Milliarden Dollar betragen. Es gibt aber auch Juristen, die in einer Bestimmung des 1963 verabschiedeten Clean Act eine Hintertür erkennen, die VW am Ende straffrei davonkommen ließe. Niemand wagt vorherzusagen, wie der juristische Streit ausgeht.
In Texas versuchte als Erstes der Landkreis Harris County Fakten zu schaffen: Mit einer Forderung von mehr als 100 Millionen Dollar wegen Luftverpestung durch die in der Region verkauften VW-Dieselfahrzeuge. Zu Anfang des Jahres erhob das US-Justizministerium die erste Zivilklage gegen Volkswagen, die den Konzern viele Milliarden kosten könnte. Seriöse Schätzungen sind nicht möglich, denn das Strafmaß liegt im Ermessen des Richters. Denkbar ist eine außergerichtliche Einigung, bei der eine Zahlung im niedrigen zweistelligen Milliardenbereich fließen könnte. In Europa drohen neben Strafen auch Steuernachzahlungen, weil die Motoren nachträglich einer anderen Schadstoffklasse zugeordnet werden müssen. Und auch in Australien könnte es Bußgelder in Millionenhöhe geben.
Aber auch aus einer anderen Richtung droht VW mittlerweile Ärger. Dem Konzern steht der erste Rechtsstreit mit einem Händler aus dem eigenen US-Vertragsnetz ins Haus. Der Besitzer dreier Autohäuser reichte bei einem Gericht im US-Bundesstaat Illinois Klage wegen Betrugs gegen den deutschen Hersteller ein. Bei den Vorwürfen gegen VW geht es auch um unlautere Vertriebspraktiken und Preisgestaltung. Der Handelspartner fühle sich durch den Abgas-Schwindel systematisch getäuscht. Die Kanzlei, die den Händler vertritt, will die Weichen für eine Sammelklage stellen, der sich weitere Händler anschließen könnten.
Langwieriger und mindestens ebenso schwer vorauszuberechnen sind die privatrechtlichen Schadensersatzforderungen. In den USA erreichten Konzern, Kläger und Behörden nach monatelangen Verhandlungen für rund 480.000 betroffene Diesel mit 2-Liter-Motoren einen vorläufigen Vergleich. Dieser könnte Volkswagen bis zu 15,3 Milliarden Dollar an Entschädigungen, Rückkäufen, Reparaturen, Strafen sowie Umweltinvestitionen kosten. Auch die US-Vertragshändler, die unter den Folgen des Abgas-Skandals leiden, bekommen Geld. Details des außergerichtlichen Vergleichs sollen bis Ende September ausgehandelt werden, die Zahlungen dürften dem Vernehmen nach die Milliarden-Dollar-Grenze übersteigen.
In Deutschland pochen die Verbraucherzentralen auf Wiedergutmachung für betroffene Autobesitzer, stoßen dabei aber bislang nur auf ein geringes Echo. Beim Landgericht Braunschweig haben VW-Aktionäre mittlerweile 1400 Schadenersatzklagen in einem Umfang von 8,2 Milliarden Euro eingereicht. Sie argumentieren, der Konzern hätte früher über die Manipulationen an Diesel-Motoren und die möglichen Konsequenzen informieren müssen. Ein sogenanntes Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht soll frühestens im Oktober starten.
Auch in Südkorea sind Klagen in Vorbereitung. Die südkoreanische Regierung hat 80 Modellen die Zulassung entzogen und VW mit einer neuen Geldstrafe von umgerechnet 14 Millionen Euro belegt. Der Konzern will dagegen gerichtlich vorgehen.
In ersten Überschlagsrechnungen kalkulieren Experten bereits mit Forderungen in hoher zweistelliger Milliardenhöhe, die auf VW zukommen könnten. Andere sind vorsichtiger. Nach Einschätzung des US-Analysehauses Bernstein Research erscheinen 15 bis 20 Milliarden Euro als wahrscheinlich - vor allem, weil die Nachfrage nach Autos aus dem VW-Konzern derzeit weniger deutlich zurückgeht, als zunächst befürchtet.
Der neue Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch hält es allerdings durchaus für möglich, dass Volkswagen in seiner Existenz gefährdet sein könnte. Das sagt viel: Denn der Konzern ist recht wohlhabend. Er hat derzeit rund 33 Milliarden Euro auf der hohen Kante. Auf Fünfjahressicht ließen sich ohne dramatische Folgen noch einmal etwa 15 bis 20 Milliarden einsparen. Sollte es noch schlimmer kommen, wäre noch eine Kapitalerhöhung möglich, die noch einmal geschätzt acht Milliarden Euro einbringen könnte. Volkswagen könnte also rund 50 Milliarden Euro an Strafen und Schadensersatzzahlungen verkraften, ohne ernsthaft in Not zu geraten. Danach ginge es ans Tafelsilber, sprich: die einzelnen Marken des Konzerns stünden zur Disposition.
CO2: Kohlendioxid. Das Gas ist Bestandteil der Luft. 0,028 % betrug sein Anteil vor der Industrialisierung, heute sind es 0,04 %. Im Meer findet es sich gelöst und dient Meerestieren wie Korallen zum Bau ihrer Kalkskelette. Jeder Verbrennungsvorgang erzeugt CO2: die Verbrennung von Holz im Lagerfeuer, die von Kohle und Öl in Kraftwerken und die von Benzin oder Diesel in Automotoren. In der gesamten Erdgeschichte führten höhere CO2-Anteile der Atmosphäre zu wärmerem Klima. Experten gehen nach Berechnungen davon aus, dass ab einem CO2-Gehalt der Atmosphäre von 0,045 % die Weltdurchschnittstemperatur um 2° C ansteigt. Regierungen bemühen sich deshalb, Autohersteller zur Minimierung des Kraftstoffverbrauchs ihrer Fahrzeuge zu bewegen. Aus dem CO2-Emissionshandel ist der Verkehrssektor ausgenommen, obwohl er einen Anteil von 26 % an den EU-Gesamtemissionen hat. 2009 verabschiedete die EU eine Verordnung, mit der bis 2020 der durchschnittliche CO2-Ausstoß der europäischen Kraftfahrzeugflotte auf 95g/km gesenkt werden soll.
EA 189: Der VW-Dieselmotor wird seit 2007 unter anderem in Jetta, Golf, Beetle und Passat eingesetzt. Aber auch Modelle der Konzernmarken Audi, Skoda und Seat sind mit diesem Motor bestückt, der mit 1,2-, 1,6- oder 2-Liter-Hubraum ausgeliefert wird und auf drei oder vier Zylindern läuft. Das konzerninterne Kürzel EA steht für Entwicklungsauftrag. Er wurde von VW mit einer Software bestückt, die sich im Testlauf automatisch in einen "saubereren" Abgasmodus schaltet. Bei ihm wurde die Manipulation zuerst entdeckt.
EPA: Die Environmental Protection Agency (EPA) ist die US-amerikanische Umweltschutzbehörde. Ihre Hauptaufgaben sind der Umweltschutz und der Schutz vor gesundheitlichen Risiken. Auf der Grundlage von Umweltschutzgesetzen, die der Kongress beschließt, erarbeitet die EPA Vorschriften und Verordnungen, legt zum Beispiel Grenzwerte für den Ausstoß von Treibhausgasen fest. Werden Gesetze und deren Verordnungen nicht eingehalten, kann die 1970 gegründete Behörde zivil- oder strafrechtlich gegen die "Umweltsünder", Unternehmen oder auch Bundesstaaten, vorgehen. Um ihre Vorgaben nach den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen machen zu können, ist sie außerdem in der Forschung durch eigene Labore aktiv und fördert die diese im Umweltbereich durch Stipendien und Kooperationen.
Feinstaub: Feste und teils auch flüssige Partikel, die aufgrund ihrer geringen Größe (maximal 10 Mikrometer) lange in der Luft schweben. Es kann dafür natürliche Quellen geben wie Waldbrände, Vulkanausbrüche oder durch Wind aufgewirbelte Bodenpartikel. Hauptsächlich aber entstehen Feinstaubemissionen durch menschliche Tätigkeiten, z.B. aus der Verbrennung fossiler Energierohstoffe, Reifenabrieb oder Autoabgase, dabei besonders aus Dieselmotoren. An der Oberfläche der Partikel können sich giftige Stoffe anlagern. Vom Menschen eingeatmet, erhöhen sie Allergierisiken und führen zu Gesundheitsschäden, von Atemwegs- bis hin zu Herzkreislauf-Erkrankungen. Die kleinsten, lungengängigen Partikel verursachen langfristig Lungenkrebs. Deswegen gibt es seit 2005 in Europa Feinstaub-Grenzwerte. Autohersteller statten Diesel-Fahrzeuge mit Partikelfiltern aus, Anlagenbetreiber installieren Staubabscheider.
ICCT: Der International Council on Clean Transportation (ICCT) ist ein unabhängiges Institut mit Hauptsitz in Washington. Er betreibt unabhängige Forschung und technische und wissenschaftliche Analysen. Finanziert wird das hauptsächlich von privaten Stiftungen, aber auch durch Regierungsaufträge. Damit möchte die Organisation zur Energieeffizienz und Umweltverträglichkeit des Verkehrs zu Land, Wasser und in der Luft beitragen. Seine Ergebnisse legt der ICCT Umweltbehörden wie der Environmental Protection Agency (EPA) in den USA vor.
Katalysator: Er wird in Fahrzeugen zur Reinigung der Abgase von schädlichen Stickoxiden, Kohlenmonoxid oder Kohlenwasserstoffen eingesetzt. Es kann die Emission dieser Stoffe um bis zu 90 Prozent reduzieren. Im modernen Fahrzeugbau werden Drei-Wege-Katalysatoren in Benzinmotoren eingebaut. Sie minimieren parallel alle drei genannten Schadstoffkategorien. Bei Dieselmotoren kann das nicht parallel ablaufen. Hier sind vor allem Stickoxide ein Problem. Dafür bieten sich NOx-Speicherkatalysatoren, die diese speichern und in einem separaten Vorgang reduzieren, und SCR-Katalysatoren (Selective Catalytic Reduction) als Lösung an. SCR-Systeme wandeln Stickoxide mittels Zusatz einer Harnstofflösung in unschädliche Stoffe um ("AdBlue"). Diese Variante verwarf VW beim EA 189 wohl als zu teuer für günstigere Modelle.
KBA: Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) verbinden viele mit einem seiner zwei Dienstsitze: Flensburg. Neben dem Fahreignungsregister, in dem "Verkehrssünder" Punkte sammeln, ist das Amt für viele weitere Dienstleistungen rund um Kraftfahrzeuge zuständig. Es erstellt beispielsweise Statistiken zu Zulassungen, Verkehrsauffälligkeiten von Fahrern und Informationen zum Lastkraftverkehr. Zwar sind die Autohersteller für Rückrufaktionen selbst zuständig, das KBA kann diese aber anordnen, wenn eine "ernste Gefährdung" vorliegt.
NEFZ: Der Neue Europäische Fahrzyklus (NEFZ) ist ein seit 1996 vereinheitlichtes europäisches Testverfahren für Abgas- und Verbrauchswerte. Der Wagen wird auf einem Rollenprüfstand durch einen definierten Fahrzyklus mit höheren und niedrigeren Geschwindigkeiten und längeren und kurzen Fahrzeiten geschickt, um Stadt- und Landfahrten zu simulieren. Insgesamt legt das Fahrzeug so 11 Kilometer in 20 Minuten zurück. Dabei sind allerdings zusätzliche Verbrauchssysteme wie Navigationsgeräte oder Klimaanlage abgeschaltet und das Fahrzeug in konstanter Raumtemperatur gehalten. Kritiker bemängelten schon länger, dass die in diesem offiziellen Test ermittelten Verbrauchs- und Abgaswerte nicht der Realität entsprechen. Deswegen soll in der EU ab 2017 die Worldwide Harmonized Light Vehicles Test Procedure (WLTP) in Verbindung mit dem Real Driving Emissions Test gelten.
Real Driving Emissions (RDE) Test: Beim Real Driving Emissions (RDE) Test wird der Schadstoffausstoß der Fahrzeuge nicht wie zurzeit üblich unter Laborbedingungen getestet, sondern im regulären Straßenverkehr. Gefahren wird dafür über 90-120 Minuten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Am hinteren Teil des Autos wird ein mobiles Messgerät angeschlossen. Mit einem ähnlichen Messverfahren hatte der ICCT den deutlich erhöhten Ausstoß von Stickoxiden von zwei VW-Modellen nachgewiesen. Die RDE-Tests sollen ab 2017 in der EU verpflichtender Bestandteil der Typenprüfung für neue Pkw werden.
Stickoxide: Stickoxide entstehen bei Verbrennungsprozessen aus dem Stickstoff der Luft. In Ballungsgebieten stammen sie hauptsächlich aus Auspuffgasen, Kraftwerken und Kleinfeuerungsanlagen. Eine weitere bedeutende Emissionsquelle ist die Landwirtschaft mit ihren Stickstoffdüngern. Der hohe Gehalt von Stickoxiden in der Luft führt in der Natur zu einer Überdüngung, die für viele Ökosysteme schädlich ist. Sie wirken als Treibhausgas, sind Mitverursacher von saurem Regen, führen zu Atemwegsreizungen beim Menschen und schädigen Pflanzen. Aus Stickoxiden und Kohlenwasserstoffen entsteht bei Sonneneinstrahlung bodennahes Ozon (Sommersmog), das ebenfalls Atemwegsschäden und Asthma hervorrufen kann. Die Menge von Stickoxiden, die ein Fahrzeug emittieren darf, ist in der europäischen Abgasnorm geregelt.
WLTP: Die Worldwide Harmonized Light Vehicles Test Procedure (WLTP) soll in der EU ab 2017 als neues Testverfahren zur Messung von Verbrauch und Emissionen eingeführt werden. Ziel ist es, dem tatsächlichen Schadstoffausstoß und Kraftstoffverbrauch im Straßenverkehr durch ein verändertes Testverfahren näher zu kommen. So wird die Höchstgeschwindigkeit auf 130 statt 120 km/h festgelegt, die Testdauer um zehn auf 30 Minuten erhöht. Sonder- und Zusatzausstattungen wie Klimaanlagen sollen mit berücksichtigt werden. Autohersteller fürchten nun deutlich höhere Werte bei ihren Fahrzeugen: Sie wollen die Einführung des Verfahrens bis 2020 verzögern und die bisher bestehenden Grenzwerte nach oben korrigieren.
Autoren: Almut Cieschinger, Margret Hucko, Michael Kröger, Claudia Niesen, Christoph Stockburger
Grafiken: Philipp Seibt
Produktion: Dawood Ohdah
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