VW-Affäre Warum Diess, Pötsch und Winterkorn angeklagt werden

Der Dieselskandal erreicht eine neue Dimension: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat VW-Boss Diess und Aufsichtsratschef Pötsch angeklagt. Was droht ihnen? Wie reagiert der Konzern? Ein Überblick.
Luftaufnahme von Volkswagen in Wolfsburg (Archivbild): Einmaliger Vorgang in der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte, falls das Gericht die Anklagen zulässt

Luftaufnahme von Volkswagen in Wolfsburg (Archivbild): Einmaliger Vorgang in der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte, falls das Gericht die Anklagen zulässt

Foto: Julian Stratenschulte / DPA

Was werfen die Ermittler den Managern vor?

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat am Dienstag drei Anklagen erhoben: gegen VW-Chef Herbert Diess, seinen Vorvorgänger Martin Winterkorn sowie den Aufsichtsratsvorsitzenden und früheren Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch. Die drei Topmanager, so der Vorwurf, hätten ihre Aktionäre viel zu spät über den Dieselskandal und die drohenden Milliardenstrafen informiert, und zwar mit der Absicht, einen Kurssturz zu vermeiden oder zumindest hinauszuzögern. Trifft das zu, dann wäre der Tatbestand der "vorsätzlichen Marktmanipulation" erfüllt, der laut Gesetz mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft wird.

Was sagen die Beschuldigten dazu?

Alle drei Beschuldigten bestreiten die Vorwürfe.

Pötsch, der in der fraglichen Zeit im Sommer 2015 Finanzchef war, hat erklärt, "weder die vorsätzliche Manipulation von Abgaswerten noch die beispiellose Schwere der Sanktion der US-Behörden gegen Volkswagen", seien für ihn im Sommer 2015 absehbar gewesen. Für ihn sei keine kapitalmarktrechtliche Relevanz erkennbar gewesen. VW habe den möglichen Schaden - gestützt auf ein Gutachten - auf höchstens 150 Millionen Euro geschätzt, ein nennenswerter Einfluss auf den Aktienkurs sei daher nicht zu erwarten gewesen.

Hans Dieter Pötsch (Archivbild)

Hans Dieter Pötsch (Archivbild)

Foto: THOMAS KIENZLE/ AFP

Auch Diess hat immer wieder betont, er sei mit sich im Reinen und habe sich nichts vorzuwerfen. "Weder die Fakten- noch die Rechtslage rechtfertigen den Vorwurf" der Staatsanwaltschaft, erklärten seine Anwälte nach der Anklageerhebung. Der Staatsanwaltschaft liegen jedoch Aussagen vor, die Diess, Pötsch und Winterkorn belasten. Demnach sollen die Beschuldigten Manager im Sommer 2015 bei verschiedenen Anlässen davon erfahren haben, dass US-Dieselautos auf der Straße zu viele Stickoxide ausstießen - und damit nicht den Zulassungsnormen entsprachen. Auch drohende Geldstrafen, die weit über die damals von VW veranschlagten Summen hinausgehen, sollen beziffert worden sein. Winterkorn habe spätestens seit Mai 2015, Pötsch seit dem 29.6.2015 und Diess seit dem 27.7.2015 "vollständige Kenntnis von den Sachverhalten und den daraus sich ergebenden erheblichen Schadensfolgen" gehabt. Jeder für sich hätte "ab jenem Zeitpunkt die erforderliche Ad-hoc-Mitteilung veranlassen müssen", erklärte die Staatsanwaltschaft. Die Beschuldigten bestreiten das.

Herbert Diess (Archivbild)

Herbert Diess (Archivbild)

Foto: Ronald Wittek / EPA-EFE / REX

Was ist an dem Fall so besonders?

Seit diesem Dienstag ist die aktuelle Führungsspitze des weltgrößten Autoherstellers ins Zentrum der Dieselaffäre gerückt. Im parallel laufenden Betrugsverfahren, in dem es darum geht, wer für die eigentliche Manipulation der Dieselmotoren zur Rechenschaft zu ziehen ist, sind neben Ex-Chef Winterkorn bislang nur nachrangige Führungskräfte angeklagt. Wenn das Gericht die neuen Anklagen wegen Marktmanipulation zulässt, was in Verfahrenskreisen als wahrscheinlich gilt, dann müssten sich die zwei mächtigsten Spitzenkräfte des größten deutschen Industriekonzerns vor Gericht verantworten. Das wäre ein einmaliger Vorgang in der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte.

Martin Winterkorn (Archivbild)

Martin Winterkorn (Archivbild)

Foto: Fabrizio Bensch/ REUTERS

Was bedeuten die Anklagen für Volkswagen?

Die Anklagen versetzen den Konzern in Aufruhr, sind aber nicht wirklich überraschend: Volkswagens Rechtsanwälte haben schon länger damit gerechnet, dass Diess, Pötsch und Winterkorn angeklagt werden. Sie betonen zwar, dass sie die drei Beschuldigten für unschuldig halten, glauben aber, dass die Strafverfolger hart durchgreifen wollen. Es dürfte einige Zeit vergehen, bis das Landgericht Braunschweig darüber entscheidet, ob die Anklage zugelassen und tatsächlich ein Gerichtsverfahren eröffnet wird. Wenn der Prozess dann startet, dürfte er Diess und Pötsch erheblich Zeit kosten und in ihrer Arbeit einschränken.

Der Reputationsschaden einer Anklage dürfte ihre Arbeit jedoch schon jetzt belasten. Der Aufsichtsrat des Konzerns muss daher schnell entscheiden, wie er mit der Anklage umgeht. Pötsch selbst wird bei der Debatte nicht anwesend sein, er darf nicht über seine eigene Weiterbeschäftigung mitbestimmen.

Müssen Diess und Pötsch jetzt gehen?

Zumindest auf die Schnelle ist das unwahrscheinlich. In den vergangenen Wochen hieß es im Konzern, für beide Spitzenkräfte gelte die Unschuldsvermutung. Der Aufsichtsrat hat aus mehreren Gründen kein Interesse, sich von Diess und Pötsch zu trennen. Zum einen wäre es aus Sicht der Kontrolleure schwierig, inmitten des größten technischen Wandels der Konzerngeschichte - vom Verbrennungsmotor zu Elektroantrieben - den Chef und den Aufsichtsratsvorsitzenden auszutauschen. Zum anderen will VW keinesfalls den Eindruck erwecken, Pötsch und Diess seien in den Dieselskandal verwickelt. Hartnäckig hält der Konzern an der Version fest, die Affäre sei nur das Werk von Ingenieuren unterhalb der Vorstandsebene. Ein Abgang des Spitzenpersonals würde aus VW-Sicht wie ein Schuldeingeständnis aussehen - und die milliardenschweren Schadensersatzklagen von Aktionären befeuern.

Welche Chancen haben die Anklagen?

Verwaltungshochhaus des Volkswagen-Werks

Verwaltungshochhaus des Volkswagen-Werks

Foto:

Sina Schuldt / DPA

Anklagen wegen Marktmanipulation sind, juristisch gesehen, eine höchst komplizierte Angelegenheit. Nur äußerst selten sind Manager deswegen in der Vergangenheit verurteilt worden, meist endeten die Verfahren mit Geldbußen oder Einstellung ohne Auflagen. Die Staatsanwaltschaft müsste nachweisen, dass Diess, Pötsch und Winterkorn es nicht nur versäumt haben, ihre Aktionäre zu informieren, sondern dass sie die Märkte vorsätzlich getäuscht haben, um den Aktienkurs zu beeinflussen. Das dürfte schwierig werden. Es dürfte vor allem darüber gestritten werden, ob die Angeklagten mit hinreichender Sicherheit absehen konnten, wie hoch mögliche Strafen für den Dieselbetrug ausfallen könnten und welche Folgen für den Aktienkurs auch der Reputationsschaden infolge des Betrugs haben würde. Dennoch setzen die Anklagen den Konzern gewaltig unter Druck: Diess und Pötsch auf der Anklagebank dürften ein verheerendes Bild in der Öffentlichkeit abgeben. Es ist ein Rückschlag auf dem Weg zum versprochenen Neubeginn.

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