VW-Vorstand Renschler "Die europäische Solidarität wird von plumpem Populismus verdrängt"

VW-Vorstand Andreas Renschler (Archivbild): "Ohne die Lkw-Fahrer hätten wir jetzt keine Erdbeeren aus Spanien"
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Andreas Renschler, 62, verantwortet im Volkswagen-Vorstand seit 2015 das Geschäft mit Trucks und Bussen. Außerdem ist der Chef der Lkw-Tochter Traton, die im Sommer 2019 an die Börse gegangen ist. Zuvor war Renschler 27 Jahre lang bei Daimler tätig, zuletzt als Vorstand für Produktion und Beschaffung in den Bereichen Pkw und Vans.
SPIEGEL: Herr Renschler, nach wochenlangem Shutdown machen Fabriken und Händler langsam wieder auf. Sind Sie mit dem Krisenmanagement der Politik zufrieden?
Renschler: In Deutschland ja. Auf europäischer Ebene ist dagegen nicht alles rund gelaufen. Manche Länder wie Belgien haben sich kurzerhand entschlossen, die Service-Stationen für Trucks zu schließen. Damit war es für manche Speditionen zeitweise kaum noch möglich, ihre Flotten am Laufen zu halten. Eine bessere Koordination der EU-Mitgliedstaaten untereinander wäre sehr wünschenswert gewesen. Andere Staaten wie die USA haben den Warenverkehr in ihrem Land besser gemanagt und die Nutzfahrzeugindustrie vom ersten Tag der Coronakrise an für systemrelevant erklärt. Die laufende Versorgung der Bevölkerung ist essenziell. Diese ist in Gefahr, wenn die Lkw-Fahrer nicht genügend Ware in die Regale bringen.
SPIEGEL: Sie fordern mehr Solidarität mit den Lkw-Fahrern?
Renschler: Ja. Die Arbeitsbedingungen und oftmals auch die Verdienstmöglichkeiten in dieser Branche sind oft nicht optimal. Es müsste ein grundlegendes Umdenken in der Gesellschaft stattfinden, was die Bedeutung der Trucker angeht. Wir wollen versorgt werden, und dafür brauchen wir sie. Ohne die Lkw-Fahrer hätten wir jetzt keine Erdbeeren aus Spanien. Und, viel wichtiger, auch keine wertvollen medizinischen Hilfsgüter in den Krankenhäusern.
SPIEGEL: Können Lkw mittlerweile wieder problemlos die innereuropäischen Grenzen passieren?
Renschler: Problemlos nicht, es kommt im Grenzverkehr immer noch zu langen Staus und Komplikationen. Langsam bessert sich jedoch die Lage, weil ja am Ende alle ein Interesse daran haben, dass die Lastwagen durchkommen. Mich stimmt es aber sehr nachdenklich, dass der europäische Gedanke zuletzt kaum noch eine Rolle gespielt hat, stattdessen überall die Schlagbäume wieder runtergelassen wurden. Im Elsass zum Beispiel gibt es Grenzen, die direkt durch eine Stadt gehen. Wenn man eine solche Grenze jetzt plötzlich wieder dichtmacht, dann hat das eine sehr negative Symbolkraft für den europäischen Gedanken.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Renschler: Die europäische Solidarität wird immer wieder von plumpem Populismus verdrängt. Leider vermehrt auch in Deutschland. Schnell heißt es, wir müssten an uns selbst denken, andere Länder wollten doch nur an unser Geld. Wenn ich das höre, verstehe ich die Welt nicht mehr. Jahrzehntelang hat Deutschland massiv vom europäischen Binnenmarkt profitiert. Nun ist es an der Zeit, dass wir unseren Partnern helfen, wenn sie in Not geraten. Wir dürfen jetzt nicht wieder anfangen, uns von unseren europäischen Nachbarn abzugrenzen.
SPIEGEL: Hinter den Grenzschließungen steckt wohl die Sorge vor Kontrollverlust.
Renschler: Mag ja sein. Aber durch geschlossene Grenzen und Nationalismus gewinne ich doch die Kontrolle nicht zurück, ganz im Gegenteil. Probleme wie die Coronakrise und deren wirtschaftliche Folgen können wir nur gemeinsam lösen. Gerade die offenen Grenzen haben Europa stark, lebenswert und erfolgreich gemacht.
SPIEGEL: Was müsste aus Ihrer Sicht passieren?
Renschler: Wir brauchen wirksame Instrumente, um den Not leidenden Ländern zu helfen. Wir müssen die Kernländer in Europa wieder zusammenbringen, statt immer weiter auseinander zu dividieren. Im Moment ist das System Europa nicht in der Lage, sich weiterzuentwickeln. Wenn wir es zulassen, dass Europa in eine tiefe Rezession rutscht, sind womöglich Millionen von Arbeitsplätzen gefährdet. Und daraus würden dann die Populisten wieder Kapital schlagen.
SPIEGEL: Was müsste passieren, damit die Nachfrage wieder steigt?
Renschler: In der wirtschaftlichen Krisenbewältigung können uns zum Beispiel smarte Investitionsprogramme helfen. Diese Programme sollten breit angelegt sein. Viele sind in Not. In Bezug auf unsere Branche könnten bestehende Flotten europaweit deutlich sauberer und effizienter gemacht werden. Das Durchschnittsalter von Lkw liegt derzeit in Europa bei über zwölf Jahren. Das wirkt sich auch auf die Umwelt aus.
SPIEGEL: Jetzt also auch noch eine Abwrackprämie für Lkw?
Renschler: Wir brauchen eine Initialzündung, damit die Nachfrage wieder anspringt, etwa Investitionszuschüsse, damit die Spediteure ihre Altfahrzeuge in den Flotten austauschen. Das Instrument könnte man auf sechs bis zwölf Monate begrenzen, um die Investitionen ins Laufen zu bringen. Man muss in die wirtschaftliche Delle investieren, um ihre Auswirkungen so gering wie möglich zu halten. Das müsste so schnell wie möglich passieren: Es reicht nicht, erst im Oktober Schritte zu ergreifen. Denn bis dahin wäre ein halbes Jahr wirtschaftlich verloren - diese negativen Folgen fängt man nachträglich wahrscheinlich nicht mehr auf.
SPIEGEL: Wäre das VW-Management im Gegenzug bereit, auf Boni zu verzichten?
Renschler: Seit einigen Jahren ist unser Vergütungssystem schon so ausgelegt, dass die Bezüge mit dem Gewinn und dem Börsenwert verbunden sind. Das vergangene Jahr war ja sehr erfolgreich. Wie genau sich die aktuelle Lage auf die Boni für 2020 auswirkt, wird sich entscheiden, wenn das Ausmaß der Folgen der Covid 19-Pandemie für den Konzern klar ist. Unabhängig davon gibt es aber bei uns eine Diskussion, welchen Beitrag das Management leisten kann.
SPIEGEL: Die Autoindustrie muss sparen, um die gewaltigen Corona-Einbußen zu verkraften. Sind die hochtrabenden E-Auto-Pläne jetzt hinfällig?
Renschler: Keineswegs. Den Wandel zur E-Mobilität wird Corona nicht aufhalten. Die Milliardeninvestitionen der Fahrzeugindustrie sind irreversibel, die Projekte fest eingeplant. Wir werden unsere Entwicklungskosten bei konventionellen Antrieben weiter runterfahren und in die wichtigen Zukunftstechnologien verlagern. Ich kenne in der ganzen Autobranche niemanden, der die Klimaziele und die damit verbundenen Strategien ernsthaft infrage stellt.
SPIEGEL: Aber die Branche tat sich doch schon vor Corona schwer, all die Multimilliarden-Investments in Zukunftstechnik zu stemmen.
Renschler: Wir stellen alles auf den Prüfstand, ohne unsere Zukunftsfähigkeit aus dem Blick zu verlieren. Beim autonomen Fahren zum Beispiel ist ja schon vor der Coronakrise ein neuer Realitätssinn in der Branche eingekehrt. Der Wandel zum vollautonomen Roboterfahrzeug wird länger dauern als ursprünglich erwartet. Robotertaxis, die in allen Situationen eigenständig durch deutsche Innenstädte fahren, werden wir in diesem Jahrzehnt kaum mehr erleben. Dafür gibt es aber gerade bei Nutzfahrzeugen interessante Anwendungen, etwa fahrerlose Trucks, die Güter schon heute über hoch automatisierte Häfen fahren, oder in nicht allzu ferner Zukunft auch über die Autobahn Zentrallager miteinander verbinden. Richtig ist: Die Corona-Pandemie wird uns hier und da bremsen, aber auf dem Weg in die Zukunft sicher nicht stoppen.