Henrik Müller

Weltwirtschaftsforum in Davos Zombies im Schnee

Jedes Jahr treffen sich in den Schweizer Bergen die globalen Spitzenkräfte aus Politik und Wirtschaft. Einst eine verschworene wie verachtete Elite, haben sie sich längst in verschiedene Lager aufgespalten. Das ist ein Problem.
Das Kongresszentrum in Davos

Das Kongresszentrum in Davos

Foto: Gian Ehrenzeller/ dpa

Es war eine beißende Kritik. "Tote Seelen" seien diese Leute, denen "tiefe Gefühle von Bindung" an die Heimat fehlten. Der "Davos-Mensch" sei eine Spezies, die sich in ihren "Einstellungen und Verhaltensweisen" weit vom übrigen Volk entfernt habe, ätzte der US-Politologe Samuel Huntington vor anderthalb Jahrzehnten in einem bis heute viel beachteten Essay.

Es klang, als träfe sich oben in den Schweizer Bergen einmal im Jahr ein Haufen Zombies.

Ab Montag versammelt sich die globale Elite in Davos wieder mal zum World Economic Forum (WEF). Und es lohnt sich, Huntingtons Essay erneut zu lesen. Nicht, weil er unbedingt wahr wäre - sondern weil sich seither eine Menge verändert hat.

Inzwischen gibt es die eine globale Elite nicht mehr. Sie zerfällt zusehends in unterschiedliche Stämme, die die Lage der Welt jeweils aus ihrem ganz speziellen Blickwinkel beurteilen - der "Davos-Mensch" hat sich, so gesehen, in verschiedene Unterarten aufgespalten. Was seine eigenen Probleme mit sich bringt.

Der "Kosmopolitismus" und seine Gegner

Immerhin hatte die von Huntington heftig diffamierte Elite ein gemeinsames Weltbild. In der Ära der raschen Globalisierung der Neunziger- und Nullerjahre teilten die Führungsfiguren aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eine ziemlich einheitliche Sicht: weitere Integration der Märkte, verstärkte internationale Zusammenarbeit, schlagkräftige internationale Institutionen.

Es war ein großes liberalistisches Programm. Viele Schwellenländer mochten noch autoritär regiert werden, aber ihre Führer schienen doch nach Wegen zu suchen, wie sie ihre Gesellschaften allmählich öffnen könnten, ohne deren Stabilität zu gefährden. Die Welt würde allmählich westlich, das war lange die verbreitete Erwartung. Alles nur eine Frage der Zeit.

Was nicht hieß, dass alles gut war: Zum Davos-Konsens gehörte nicht nur das Versprechen von Wachstum und Reichtum (sowie das Zelebrieren der eigenen Wichtigkeit), sondern auch das Bewusstsein, dass es immer mehr globale Probleme gebe, die man gemeinsam angehen müsse - ja die man ausschließlich gemeinsam angehen könne. Lösungen könne es nur geben, wenn sich nationale Egoismen überwinden lassen.

Dieser "Kosmopolitismus" (Huntington) brachte immerhin einiges zustande: Das globale Krisenmanagement nach dem Finanzcrash von 2008 wäre ohne den Geist von Davos kaum vorstellbar gewesen, ebenso wenig das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015. Um nur zwei Beispiele zu nennen.

Doch dieser Geist verflüchtigt sich. Tiefe Gräben tun sich auf - zwischen den Staaten, aber auch innerhalb von Gesellschaften:

  • Ideologisch: Das liberale westliche Gesellschaftsmodell gilt nicht mehr als Vorbild, dem andere nacheifern. Gegenentwürfe gibt es reichlich, von Chinas digitalem Totalitarismus über moderne Despotien wie Russland bis zu traditionellem Absolutismus am Persischen Golf (sie alle werden mit Regierungsmitgliedern in Davos vertreten sein). Auch der offen zur Schau getragene Nationalismus von Figuren wie Donald Trump stellt das liberale Modell infrage.
  • Sozial: Gesellschaften zerfallen zusehends in Gruppen und Stämme, die jeweils ihre eigene Identität beschwören. Rational begründbare Interessen sind häufig kaum noch zu erkennen, sodass sich ein demokratischer Konsens kaum noch herstellen lässt. Großbritannien steht gelähmt vor dem Brexit-Chaos (Finanzminister Philip Hammond hat sich für Freitag angekündigt); Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat alle Hände voll mit dem Aufstand der Gelbwesten zu tun (und kommt deshalb nicht nach Davos); in den USA blockieren sich Präsident und Kongress gegenseitig und bekommen keinen Staatshaushalt zustande, weshalb ein Teil der Bundesbehörden seine Arbeit eingestellt hat (alle angekündigten US-Minister haben kurzfristig ihre Davos-Reisepläne abgesagt).
  • Ökonomisch: Die gemessene wirtschaftliche Wirklichkeit widerspricht in großen Teilen den etablierten Vorstellungen davon, wie die Wirtschaft eigentlich funktionieren sollte. Beispiele: Trotz unübersehbarer technologischer Durchbrüche stagniert die Produktivität. Trotz Aufschwungs steigen Löhne und Preise kaum; die Zinsen sind so niedrig wie noch nie in Friedenszeiten, während sich an den Kapitalmärkten immer neue Blasen bilden, gefolgt von unvermeidlichen Crashs. Chancen und Risiken sind ungleich verteilt. Unter diesen Bedingungen lässt sich kaum noch Einigkeit über die richtige wirtschaftspolitische Strategie herstellen.

Merkel, Bono, Gates - und all die anderen

Sicher, es gibt noch die übliche Davos-Crowd, die auch dieses Jahr wieder anreist. Unter vielen anderen werden Angela Merkel und ihr japanischer Kollege Shinzo Abe dabei sein (beide am Mittwoch). Außerdem die üblichen Politik-Wirtschaft-Kultur-Promis wie Al Gore, Bill Gates und Bono. Die Topliga der internationalen Technokratie (darunter die Chefs von Währungsfonds, Weltbank, Uno, OECD sowie diverse EU-Kommissare) und natürlich Heerscharen von Managern internationaler Konzerne (aus Deutschland: die Vorsitzenden von Allianz, BASF, Deutscher Bank, Post, Merck und SAP).

Die Gästeliste ist wieder mal beeindruckend: Mehr als 40 Staaten entsenden Regierungschefs oder Minister. Hinzu kommen renommierte Wissenschaftler und Aktivisten von Nichtregierungsorganisationen. Aber anders als früher teilen sie nicht mehr unbedingt gemeinsame Ziele.

Jair Bolsonaro beispielsweise ist kein "Davos-Mensch". Brasiliens neuer Präsident wird am Dienstag seinen ersten großen Auftritt auf der Weltbühne haben. Er hat wenig Zweifel daran gelassen, dass er dem globalen Problem Nummer eins, dem Klimawandel, wenig Bedeutung beimisst und wieder im größeren Maßstab den brasilianischen Regenwald abholzen lassen möchte. Da mag der gerade erschienene Weltrisikobericht des WEF (PDF)  extreme Unwetter, Naturkatastrophen, Wassermangel, Artensterben und das Kollabieren ganzer Ökosysteme ganz oben auf seine Warnliste setzen. Bolsonaro dürfte sich davon wenig beeindruckt zeigen.

Chinas Präsident Xi Jinping gab sich vor zwei Jahren noch als "Davos-Mensch", als er sein Land in seiner WEF-Rede als Garanten der multilateralen Ordnung hinstellte, als eine Art Anti-Trump. Ein starkes Stück Propaganda von einem Regenten, der längst die Zurückhaltung seiner Vorgänger aufgegeben hat, nach außen eine aktive Großmachtpolitik betreibt und im eigenen Land den Repressionsapparat ausbauen lässt. Man darf gespannt sein, welche Töne sein Vizepräsident Wang Qishan (Mittwoch) und all die angereisten Topmanager chinesischer Konzerne anschlagen.

Viel Wandel, viel Unsicherheit

Der Blick auf die planetare Wirklichkeit zerfasert. Gemeinsame Ziele und Überzeugungen - das sind die Grundvoraussetzungen für kollektives Handeln. Eine gemeinsame Basis an Fakten, Wissen und Werten hilft dabei, nationale Interessengegensätze zu überwinden. Wenn aber die Weltsicht flexibel den jeweiligen Interessen angepasst wird, wird es schwierig, das selbst gesteckte Ziel des WEF zu erreichen, nämlich "den Zustand der Welt zu verbessern".

Ich sehe für diese Entwicklung vor allem zwei Ursachen. Einerseits erleben wir tatsächlich einen Wandel, der objektiv viele Bereiche parallel betrifft, zum Beispiel:

  • Demografie: Noch nie lebten so viele Menschen auf der Erde, noch nie alterte die Weltbevölkerung so rapide. Das dürfte fundamentale Auswirkungen haben - auf die Produktivität, auf Migrationsströme, auf soziale Beziehungen und politische Präferenzen. Nur welche?
  • Globale Machtverteilung: In der Vergangenheit stützte sich das internationale Staatensystem auf wenige Großmächte. Inzwischen erleben wir eine Diffusion der Macht, in der diverse Mächte miteinander um Vorherrschaft ringen. Besonders augenfällig ist dies am Persischen Golf, einer Region, die lange von den USA stabilisiert wurde, wo nun aber Saudis und Iran, Russland, die Türkei, Israel und Amerika ihre Finger im Spiel haben. Mit welchen Institutionen lässt sich eine derart zerklüftete internationale Landschaft stabilisieren?
  • Klimawandel: Die Erwärmung der Erdatmosphäre scheint sich zu beschleunigen, inklusive häufigerer extremer Unwetter und ungleichmäßigerer Niederschläge. Doch nicht alle leiden darunter. Russland beispielsweise kann sich Vorteile ausrechnen, wenn seine Permafrostgebiete auftauen und das Eis im Nordmeer schmilzt. Andererseits sollte der globale Ausstieg aus der CO2-Wirtschaft einfacher werden, weil erneuerbare Energie dank technischen Fortschritts immer billiger wird.

Wie wirkt all das zusammen? Was wird beispielsweise aus einer demografisch schrumpfenden Nation wie Russland, wenn die Welt immer weniger Öl und Gas nachfragt und dadurch die wirtschaftlichen Grundlagen bröckeln? Gelingt es dem Land, sich neu zu erfinden? Oder wird es seine inneren Konflikte nach außen tragen? So viel Wandel schafft Unsicherheit. Damit können wir schlecht umgehen.

Zum anderen verändern sich auch Kommunikationsstrukturen innerhalb von Gesellschaften, sodass sich die subjektive Wahrnehmung der Welt auffächert.

Bullshit und Wahrheit

Während die objektiven Probleme großräumiger werden, werden die Kommunikationsräume kleinteiliger; informationsorientierte Massenmedien werden von sozialen Netzwerken verdrängt, von Unterhaltung und Soft News. In den virtuellen Feedback-Kammern kommt es zu Rückkopplungseffekten, in der Gleichgläubige sich gegenseitig immer lautstärker bestätigen.

Zudem prasselt eine anschwellende Bilderflut aus YouTube-Videos, Netflix-Serien, Chats, Spielen, Push-Meldungen, WhatsApp-Nachrichten und vielem mehr auf uns ein. In unserer Wahrnehmung vermischt sich das Triviale mit dem Wichtigen, das Reale mit dem Fiktionalen, Bullshit mit Wahrheit. Kein Wunder, dass die Basis gemeinsam akzeptierter Fakten brüchig wird. Es ist nicht mehr unbedingt klar, was wirklich ist und was relevant - was also wirklich relevant ist.

Womöglich werden wir den "Davos-Menschen" noch schmerzlich vermissen.

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