
Inflationsgefahren Boom-Bang-Crash


Die Luftaufnahme zeigt das Containerterminal Bremerhaven
Foto:Mohssen Assanimoghaddam / picture alliance/dpa
Derzeit konkurrieren zwei Erzählungen über die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Die eine verbreiten insbesondere die großen Notenbanken: Es werde noch eine ganze Weile dauern, bis wieder Normalität einkehre. Nach der Coronakrise seien die westlichen Volkswirtschaften immer noch derart geschwächt, dass sie massiver staatlicher Unterstützung bedürften.
Klar, die Inflationsraten steigen momentan. Aber dabei handele es sich nur um einen »vorübergehenden« Preisschub, glaubt Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB). In nicht allzu ferner Zukunft werde sich die Inflationsdynamik von allein wieder abschwächen. Ähnlich sieht das ihr US-Kollege Jerome Powell, Chairman der Federal Reserve Bank (Fed): »Wir sind noch nicht über den Berg.« Man müsse jetzt mal abwarten, wie viele neue Jobs entstehen könnten – und vorübergehend auch höhere Inflationsraten hinnehmen.
Die Botschaft der beiden ist eindeutig: Auf keinen Fall dürfe man der Wirtschaft Unterstützung zu früh entziehen. Notenbanken und Finanzminister müssten weiterhin Billionen Euro und Dollar in die Wirtschaft pumpen.
Doch es gibt auch eine andere Erzählung, und die geht so: Die Wirtschaft stecke längst in einem kräftigen Aufschwung. Was jetzt drohe, sei eine gefährliche »Überhitzung«, wie Larry Summers, der frühere US-Finanzminister, dieser Tage bei einer Notenbanker-Konferenz in Atlanta kritisiert hat. Auf die Lockdowns folge nun ein heftiger Boom: In Amerika sei das doch überall mit Händen zu greifen. Die Leute gehen wieder shoppen, die Regierung Joe Bidens schiebt die Nachfrage zusätzlich mit einem beispiellos hohen Staatsdefizit an (15 Prozent der Wirtschaftsleistung). Der Arbeitsmarkt ist leer gefegt, die Löhne steigen.
Das könne nicht mehr lange gutgehen, sagt Summers. Eine übermäßige Nachfrage werde massive Inflationsprobleme schaffen. Irgendwann könne die Fed die Dinge nicht mehr einfach weiterlaufen lassen und müsse gegensteuern, die Anleihekäufe herunterfahren, die Zinsen anheben. Dieses Umsteuern werde die Finanzmärkte, die sich derzeit in »gefährlicher Gelassenheit« auf das Notenbank-Versprechen dauerhaft niedriger Zinsen verließen, auf dem falschen Fuß erwischen.
Mutmaßliche Folge: die nächste Finanzkrise. Auf einen inflationären Boom würde ein rapides Umsteuern der Notenbanken (Bang) folgen – das den nächsten Crash auslöst.
Wer hat recht? Bei aller Unsicherheit über die weitere Entwicklung: Das Boom-Bang-Crash-Szenario ist keineswegs abwegig.
Ein außergewöhnlicher Aufschwung
Mein Eindruck ist, dass wir die derzeitige Dynamik deutlich unterschätzen. Das gilt aktuell bereits für die USA, aber nach erfolgreicher Impfkampagne ab dem zweiten Halbjahr auch für Europa (achten Sie auf den EU-Gipfel ab Montag und Dienstag und auf neue Zahlen vom Ifo-Institut zum Geschäftsklima).
Wir haben es mit einem Aufschwung zu tun, dessen Anatomie sich fundamental von allem unterscheidet, was wir seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben (siehe dazu auch meinen Beitrag im aktuellen manager magazin). Ein Faktor dabei ist die globale Parallelität. In den vergangenen Jahrzehnten war die globale Konjunkturentwicklung meist asynchron: Einige Volkswirtschaften wuchsen dynamisch, andere lahmten. Das sorgte für eine gewisse Selbststabilisierung. Die Pandemie synchronisiert nun die Wirtschaftszyklen.
Auch die Wirtschaftspolitik agiert in den großen Wirtschaftsräumen ähnlich: Die Notenbanken geben Vollgas. Parlamente und Regierungen haben ihre fiskalische Zurückhaltung aufgegeben; in den USA und in der Eurozone ist der konjunkturpolitische Impuls 2020 und 2021 zusammengenommen viermal so groß wie nach der Finanzkrise von 2008. China verfolgt einen vergleichbar expansiven Kurs.
So soll es weitergehen: Ab 2022 werden das geplante Infrastruktur- und Sozialstaatsprogramm der US-Regierung sowie der Coronafonds der EU, beide überwiegend schuldenfinanziert, für weitere Nachfragestimulierung sorgen.
Engpässe bei Menschen, Material, Transportkapazitäten
Dass die Konjunktur warmläuft, ist unübersehbar. Es gibt bereits Lieferengpässe, für Rohstoffe wie auch für industrielle Vorprodukte. 45 Prozent der produzierenden Unternehmen in Deutschland leiden nach einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Ifo-Instituts unter Engpässen beim Einkauf – der höchste Wert, den die Münchner Forscher seit 1991 gemessen haben. Computerchips und Holz sind knapp, ebenso Seefrachtkapazitäten und vieles mehr.
Möglich, dass sich diese Verspannungen im Zuge des Aufschwungs lösen, weil es nun mal etwas dauert, bis Produktionskapazitäten nach den Lockdowns wieder hochgefahren werden – und weil Unternehmen angesichts des derzeit schmalen Angebots dazu neigen, Vorräte zu bunkern, was die Knappheit auf den Märkten zusätzlich verschärft.
Ob sich die Inflation verfestigt und der Aufschwung tatsächlich in eine Überhitzung übergeht, hängt insbesondere von der Entwicklung auf den Arbeitsmärkten ab. In einem Überhitzungsszenario würden sich Preis- und Lohnsteigerungen gegenseitig hochschaukeln. Allerdings nur dann, wenn Unternehmen so dringend Beschäftigte benötigen, dass sie deutliche Gehaltszuschläge bieten – und diese zusätzlichen Kosten auf die Verkaufspreise umlegen könnten.
Tatsächlich finden viele Unternehmen schon jetzt kaum noch Leute. In den USA sind derzeit mehr als acht Millionen Stellen unbesetzt – der höchste Wert, so weit die Daten zurückreichen. In Europa ist es noch nicht ganz so weit, aber auch hier wird Arbeit zusehends zum knappen Produktionsfaktor: Die Quote der unbesetzten Stellen ist schon wieder so hoch wie 2017, die Talsohle vom vorigen Sommer längst durchschritten. Im April dieses Jahres meldete die Bundesagentur für Arbeit 631.000 offene Stellen allein in Deutschland – Tendenz steigend.
In den Zahlen spiegelt sich nicht nur die konjunkturelle Lage, sondern auch die demografische Entwicklung. Wegen der Alterung der Gesellschaften werden Arbeitskräfte in den wohlhabenden Volkswirtschaften immer knapper. Dazu kommt die schleichende Desintegration der Weltwirtschaft: Die Globalisierung wird zurückgedreht und ein Ausweichen auf ausländische Produktionsstandorte schwieriger. Auch das eröffnet Spielräume für Lohnerhöhungen. Gut für die Beschäftigten – solange nicht zugleich das Leben rasch teurer wird.
Auf diese strukturell veränderten Produktionsbedingungen stößt nun der Post-Corona-Nachfrage-Push. Es wäre überraschend, wenn sich diese Kombination nicht in mehr Inflation niederschlagen würde.
Bleibt die Frage nach dem Crash.
Weltweite Verwerfungen
Bislang bauen die Finanzmärkte auf das Szenario extrem niedriger Inflationsraten und Zinsen. Im Vertrauen auf dauerhaft geringe Finanzierungskosten haben Staaten, Unternehmen und Privathaushalte die Verschuldung nach oben getrieben. Zugleich sind die Bewertungen vieler Vermögenswerte äußerst optimistisch: Aktien, Immobilien, Staatsanleihen – die Preise sind hoch, weil das billige Geld ja irgendwohin muss.
Entsprechend groß ist das Rückschlagspotenzial. Nicht nur in den USA, auch in der Eurozone sind die Risiken immens.
Im oben zitierten Szenario von Larry Summers, der von plötzlich steigenden Zinsen ausgeht, könnte sich manches Finanzierungsmodell, das bislang noch solide erscheinen mag, als nicht mehr tragfähig erweisen. Die Folge wäre eine Pleitewelle – gepaart mit enormen Verwerfungen. Auf den sich beschleunigenden Nach-Corona-Boom, der sich derzeit noch so gut anfühlen mag, würde in nicht allzu ferner Zukunft eine üble Finanzkrise folgen.
Tatsächlich beginnen die Finanzmärkte an der Erzählung der Notenbanken vom nachhaltig inflationsfreien Aufschwung zu zweifeln. In den USA steigen seit Monaten die langfristigen Zinsen an den Kapitalmärkten. Inzwischen springt diese Entwicklung auch auf Europa über. Weil Anleger das Szenario steigender Inflationsraten und Zinsen in den Blick nehmen, verlangen sie höhere Renditen. Noch sind die Sätze niedrig und die Bewertungen hoch. Aber die allmähliche Aufwärtsbewegung ist ein Anzeichen dafür, dass die Boom-Bang-Crash-Geschichte mehr und mehr Zuhörer gewinnt.
Im Wettbewerb um die Deutungshoheit dominieren bislang noch die Notenbanken. Aber die Zweifel an ihrem Narrativ wachsen.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche
Brüssel – die Welt nach Corona – Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs (bis Dienstag). Es geht insbesondere um den Kampf gegen die Pandemie, die Beziehungen zu Russland und zu Großbritannien sowie um den Klimaschutz.