Zehn-Euro-Forderung Lidls List mit dem Mindestlohn

Lidl-Mitarbeiter-Demo im April 2008: Einer der Spitzenzahler der Branche
Foto: A3386 Uli Deck/ dpaHamburg - Ausgerechnet Lidl: Der Discounter fordert einen gesetzlichen Mindestlohn im Einzelhandel von zehn Euro pro Stunde. Nur mit einer verbindlichen Untergrenze lasse sich der Missbrauch von Lohndumping in der Branche "und in jeder anderen" wirksam unterbinden, schrieb Lidl-Chef Jürgen Kisseberth Anfang der Woche allen Fraktionsvorsitzenden im Bundestag. Öffentlichkeitswirksam - wohlgemerkt - an den nachrichtenarmen Tagen vor Weihnachten.
Der Vorstoß sorgt aber nicht nur deshalb für Aufsehen: Dass der skandalträchtige Discounter Lidl einen (so hohen) Mindestlohn fordert, scheint so unglaublich, als würden Deutschlands Energiekonzerne die Abschaffung von Atommeilern verlangen. Dennoch ist die Forderung eine Tatsache - und noch nicht einmal ganz frisch. Anfang des Jahres forderte Lidl erstmals einen gesetzlichen Mindestlohn. Das Zehn-Euro-Plädoyer allerdings ist neu - und es ist beachtlich: Denn die 8,50 Euro, für die sich die Gewerkschaften einsetzen, sehen dagegen mickrig aus.
Was also bezweckt das Unternehmen mit dem Vorstoß? Ist er nur eine "Luftnummer", wie ein Gewerkschafter Anfang des Jahres bereits monierte? Oder will der Discounter ernsthaft gegen Lohndumping vorgehen?
Das PR-Desaster könnte das Hauptmotiv sein
Sicher ist, dass der Konzern stark daran interessiert ist, sein Image aufzupolieren. Das nämlich hat in den vergangenen Jahren massiv gelitten. Zur Erinnerung: Der Einzelhändler ließ seine Beschäftigten ausspionieren, legte Krankenakten über sie an, hielt Betriebsräte klein und ließ über seine Zulieferer in Asien Mitarbeiter zu Dumpinglöhnen arbeiten. Die Gewerkschaft Ver.di verfasste sogar ein "Schwarzbuch Lidl" über die schlechten Arbeitsbedingungen für Beschäftigte in Deutschland.
Das PR-Desaster könnte daher sogar das Hauptmotiv des Lidl-Chefs sein, den Mindestlohn jetzt so vehement voranzutreiben. Aber es gibt noch andere Gründe, die mindestens genauso plausibel sind. Lidl könnte nämlich ein großes Interesse daran haben, die Löhne der Wettbewerber durch einen gesetzlichen Mindestlohn in die Höhe zu treiben.
Schließlich kann man Lidl viel vorwerfen, aber nicht, dass das Unternehmen seinen Mitarbeitern zu wenig zahlt. Mit einem Stundenlohn von durchschnittlich 13 Euro pro Stunde ist der Discounter einer der Spitzenzahler im Einzelhandel. Selbst Minijobber bekommen nach eigenen Angaben mindestens zehn Euro die Stunde. Konkurrenten, die ihren Mitarbeitern niedrigere Löhne zahlen, haben da einen unübersehbaren Vorteil - und den könnte Lidl nun auf gesetzlichem Weg sanft abschaffen wollen.
Ähnlich war der Effekt für die Deutsche Post, als Anfang 2008 ein Mindestlohn für Briefzusteller eingeführt wurde. Die Lohnuntergrenze von 9,80 Euro pro Stunde lag unter dem beim Quasi-Monopolisten gezahlten Lohn, aber weit höher als bei den kleineren Konkurrenten Pin und TNT. Die Folge damals: Pin meldete kurz nach der Mindestlohn-Einführung Insolvenz an.
Rückenwind für die zähen Verhandlungen von Ver.di
Für den zweitgrößten Discounter Deutschlands hätte ein Mindestlohn von zehn Euro außerdem den angenehmen Effekt, dass er nichts ändern müsste. Seine Mitarbeiter würden also auch nach der Einführung einer gesetzlichen Regelung nicht mehr Geld bekommen.
Dennoch jubeln Politiker und Gewerkschafter über den aktuellen Vorstoß des Lidl-Chefs - aus unterschiedlichen Gründen. Ein gesetzlicher Mindestlohn im Einzelhandel würde den Staat entlasten: Im Moment subventioniert er viele der rund 2,8 Millionen Beschäftigten in der Branche - durch ergänzendes Hartz IV. Denn oft reichen die Einkommen der Beschäftigten nicht zum Leben aus - wegen der vielen Teilzeitstellen, Dumpinglöhnen oder beides. Steigen aber die Einkommen über eine bestimmte Grenze, gibt es kein Aufstockergeld mehr vom Staat.
Ver.di wiederum erhält durch die Zehn-Euro-Forderung Rückenwind bei den zähen Verhandlungen mit dem Einzelhandelsverband HDE. Der Verband hat sich inzwischen zwar bereiterklärt, eine Lohnuntergrenze einzuführen - aber die soll weit unter der Lidl-Forderung liegen. Diese weist der HDE als "unrealistisch" zurück.
Am Ende wird der Lidl-Chef mit seinem Vorstoß also voraussichtlich scheitern - wenn auch nicht ganz. Immerhin das PR-Problem dürfte ein bisschen kleiner geworden sein.