Internet-Boom China baut sich sein Silicon Valley

Chinesische Gründer im Garage Cafe: Aufbruch ins High-Tech-Zeitalter
Foto: Bernhard Riedmann / DER SPIEGELDie Verwandlung der Betty Tong begann mit einem Zitat von Deng Xiaoping, des großen chinesischen Reformers. "Mozhe shitou guohe", lautet es. "Taste nach den Steinen und überquere den Fluss." Betty sagt, es bedeute so viel wie: "Wenn du in deinem Leben etwas Schwieriges schaffen willst, arbeite dich langsam dahin vor." Es wurde ihr Lebensmotto, als sie die Uni schmiss, ihren Job kündigte - und ein Start-up gründete.
In den USA gibt es solche Geschichten zu Tausenden. Betty aber lebt mitten in China. Ihr momentaner Arbeitsplatz ist das Garage Cafe, der erste Ort in Peking, der nahezu ausschließlich von Start-up-Unternehmen bevölkert wird. Es ist eine junge Generation, die dem Mythos des Gründers nacheifert. Der Geschichte des armen Schluckers, der eine geniale Idee hat, damit unendlich reich wird und vielleicht die Welt verändert. Wer hier herkommt, lernt ein China kennen, das völlig anders ist, als man im Westen glaubt.
Dies ist die Geschichte von Betty Tong, die für ihre Freiheit alles riskiert. Von Lei Jun, der Chinas Steve Jobs werden will. Und von Kaiser Kuo und seinem gespaltenen Verhältnis zur Internetzensur. Die Geschichte der angehenden Supermacht China, die sich ihr eigenes Silicon Valley baut. Und sie beginnt ausgerechnet mit Planwirtschaft.
Menschen wie Betty und Orte wie das Garage Cafe dürfen existieren, weil die Kommunistische Partei existentielle Sorgen hat. Die Löhne steigen rapide, China kann bald nicht länger nur Billigproduzent westlicher Waren sein. Wenn die Wirtschaft weiter wachsen, wenn das Volk weiter Arbeit haben soll, muss sich China rasch entwickeln. Die Partei hat deshalb eine neue Nationale Richtlinie festgelegt: das Ziel von der "Forschungssupermacht".

Fotostrecke: Chinas Silicon Valley
Bislang hat das Land vor allem die Produkte westlicher Firmen abgekupfert, hat Unternehmen nur ins Land gelassen, wenn sie einen Teil ihres Know-hows preisgaben. Doch das bringt China nur langsam voran. Ausländische Konzerne lassen günstig produzieren und verkaufen Produkte mit hohen Gewinnen weiter. Chinesische Firmen schaffen es trotz Wissenstransfers nur selten, ihnen Konkurrenz zu machen. Im Hochtechnologiesektor konnten sie fast keine Weltmarken aufbauen. Ein Großteil der Wertschöpfung fließt noch immer ins Ausland.
Nun ändert sich die Strategie. "Zizhu chuangxin", lautet das Motto, Innovation aus eigener Kraft. Damit aus einer Kopiernation ein Kreativkönigreich wird, sollen die Forschungsausgaben bis 2020 auf 402 Milliarden Dollar anschwellen und sogar die der USA übertreffen.
Es ist ein ambitionierter Plan. Aber kann das überhaupt klappen? Lassen sich Geistesblitze per Planwirtschaft verordnen? Und was passiert, wenn es funktioniert? Wenn in China wirklich bald ein Heer von Kreativen erwacht - kämpft es dann nicht auch gegen das Zensurregime?
In Peking läuft dieses Experiment bereits an. Zwischen der 4. und der 5. nördlichen Ringstraße, unweit des alten kaiserlichen Sommerpalastes, gibt es ein Viertel, dessen Zungenbrechernamen man sich merken sollte: Zhongguancun.
Im Viertel ragen Elektromärkte teils 18 Stockwerke in die Luft, gepflastert mit Neonreklamen, in denen es vom Platinenteilchen bis zum Server-Regal so ziemlich alles gibt. Dort glitzern die Bürotürme von IT-Riesen wie Google, IBM und Microsoft und von heimischen Marktführern wie Sina und Tencent. Dazwischen liegen die Büros von rund zehntausend Start-ups. Junge Menschen mit Mundschutz radeln die breiten, baumlosen Straßen entlang, vorbei an Autos und bedenklich beladenen Motor-Dreirädern, auf dem Weg zu einer der besten Hochschulen Chinas. Mitten in Zhongguancun, in einer kleinen Einkaufsstraße, liegt das Garage Cafe.
Die Keimzelle
Dieser Inhalt verwendet veraltete Technologien und steht daher nicht mehr zur Verfügung
Betty zieht die Tür hinter sich zu, sie durchquert den Raum mit großen Schritten. Sie kommt gern früh ins Café, um sich den immergleichen Platz zu sichern. Tisch Nummer elf gehört ihrem Start-up. Es ist eine der wenigen Konstanten in ihrem sonst unübersichtlichen Leben. Mr. Su, der Besitzer, nickt ihr von der Bar aus zu. Betty bestellt einen Drachenbrunnen-Tee, das obligatorische Getränk, das man kaufen muss, um den ganzen Tag im Café verbringen zu dürfen. Sie sinkt in ein Wohlfühlkissen und klappt den Laptop auf.
Betty programmiert mit zwei Freunden eine Community. Sie soll Chinesischlehrer und Ausländer aus aller Welt via Skype zu Sprachkursen zusammenführen. Es ist bereits ihr zweites Start-up, das erste gründete sie ganz allein. Es läuft leise Jazzmusik, Leuchtgirlanden tauchen den Raum in warmes Licht, und auf dem Tisch duften frische Tulpen. Nach einer Weile beginnt man Peking zu vergessen, den Smog, den Lärm, die Menschenmassen.
Das Garage Cafe öffnete am 13. April 2011 und wurde schnell berühmt. Erst kamen lokale Tech-Blogs, dann chinesische TV-Sender und die Nachrichtenagentur Xinhua. Viele erhoben das Cafe zum neuen Symbol für das prosperierende Ökosystem Zhongguancun, für das Erwachen von Chinas Kreativen. Inzwischen ist das Café jeden Tag voll besetzt. Investoren kommen regelmäßig vorbei, um die Projekte der Gründer zu begutachten. Und andere Cafés im Viertel eifern dem Vorbild nach.
Betty ist eine zierliche Person. Sie hat langes, ebenholzfarbenes Haar mit einem fransigen Pony, der ihr tief ins Gesicht hängt. Wie viele Chinesen benutzt sie gern die englische Version ihres Namens. Nicht Tong Xiaoqing - Betty Tong. Sie bewegt sich lässig, sie kann sehr gewinnend lächeln.
Code ist Poesie
Mr. Su ist ein drahtiger Mann, der Zigaretten raucht, die zu stark für Schnorrer sind. Er ist 32, ein Jahr älter als Betty. Und doch verlief sein Leben völlig anders. Er versuchte bereits vor zehn Jahren, ein Start-up zu gründen, einen Vertrieb für Computer. Doch damals fing der Internet-Hype gerade erst an. In Zhongguancun gab es nur wenige Gründer - und kaum Geldgeber. Su sagt, dass er gar nicht erst versuchte, welche zu finden. Dass er es auf eigene Faust probierte. Dass er dafür sogar seinen Computer versilberte. Er kämpfte sich durch und zog eine profitable Firma hoch. Als er sie verkaufte, investierte er das Geld gleich wieder. Ins Garage Cafe. "Ich wollte, dass es die nächsten Gründer leichter haben", sagt er.
Im Café trudeln allmählich die Stammgäste ein. Die Literaturstudentin von Tisch drei, die ein Online-Spieleportal aufbaut und sagt, Code sei Poesie. Wenige Zeilen würden reichen, um eine Welt zu erschaffen. Der Franzose von Tisch vier, der lieber in China als in Europa sein Glück versucht, zurzeit mit einem Online-Vertrieb für Tausende Werbeflächen in der Stadt. Der Schnelldenker von Tisch neun, der gerade eine Handy-App zum Filmen und Videoschneiden programmiert und nebenher chinesischer Zauberwürfelmeister ist (persönliche Bestzeit: 9,69 Sekunden).
Viele der Stammgäste sind wie Betty. Sie haben für ihr Start-up ihr sicheres Leben hinter sich gelassen. Sie zelebrieren die Veränderung, in einem Land, das sich seit ihrer Geburt mindestens ebenso stark verändert hat.
Der Perlfluss
In der Nähe von Bettys Heimatstadt fließt ein Bach durchs hügelige Land, vorbei an Foshan, der Stadt "Buddhaberg", Bettys Heimat. Er fließt weiter und mündet schließlich in den großen Perlfluss. Als kleines Mädchen ist Betty dort oft ins Dickicht der Bananenbäume geklettert und hat sich vor ihrer Mutter versteckt. Ein altes Foto zeigt sie in Schuluniform, wie sie an seinem Ufer nach den Steinen tastet.
Vor 35 Jahren ist Mao gestorben. Als Betty vier Jahre später geboren wurde, reformierte Deng Xiaoping bereits das Land, erneuerte die Landwirtschaft, die Industrie. Sie lebte nicht weit von dem Ort, an dem alles begann, nahe den Städten Shantou und Zhuhai in der Guangdong-Provinz im Süden. An den Ufern des Perlflusses wuchsen plötzlich Fabriken empor. Menschen fanden Arbeit, verdienten Geld, und mit dem wachsenden Wohlstand veränderten sich ihre Ideale. Auf den Arbeiter folgte der Unternehmer, auf Sicherheit folgte Selbstbestimmung.
"Meine Mutter sagte mir damals, die Welt ist groß", erzählt Betty. "Du hast die Chance, sie zu entdecken." Betty lernte viel, bekam exzellente Noten. In ihrem letzten Schuljahr bot ihr das Institute of Microelectronics einen Job in Peking an, kurz darauf bekam sie einen Studienplatz an der Tsinghua Universität . Von sieben Millionen Chinesen, die jedes Jahr die Hochschulreife erreichen, werden nur die besten 3000 genommen.
Die Prestige-Uni mit ihren Gärten aus der Kaiserzeit wird oft mit der Stanford-Universität verglichen. Amerikas Silicon Valley entstand in den fünfziger Jahren um den Stanford-Campus herum. Am Tsinghua-Campus in Zhongguancun passiert nun das gleiche. Top-Manager von Google und Microsoft halten an der Uni Vorlesungen, ihre Headhunter suchen auf dem Campus nach Talenten. Neben der Universität ist ein Gebäudekomplex entstanden, in dem rund 400 Hightech-Firmen ihre Büros haben. Wie Stanford legt Tsinghua Wert darauf, Studenten zu lehren, wie man ein Unternehmen gründet.

Fotostrecke: Tsinghua Universität - Chinas Stanford
Als Betty zu studieren begann, war in Amerika gerade die Dotcom-Blase geplatzt. Zehntausende Chinesen, die im Silicon Valley ihr Glück versucht hatten, kehrten in die Heimat zurück, angelockt von staatlichem Startkapital, Steuervergünstigungen und Chinas Wirtschaftsboom. Meeresschildkröten wurden sie genannt, und sie zogen einige der größten IT-Konzerne des Landes groß. Firmen wie die Suchmaschine Baidu oder die Handelsplattform Alibaba. Die ersten Privatinvestoren begannen, in chinesische Gründer zu investieren. Erneut herrschte um sie herum Aufbruchstimmung, und erneut wurde Betty unruhig.
"Ich war damals 25", sagt sie, "ich führte ein Leben, das nur aus Arbeit und Uni bestand. Arbeit, Uni. Arbeit, Uni. Aber ich tat nichts, was mir etwas bedeutete. Ich sah meine Kollegen, die seit vielen Jahren das gleiche tun. Ich dachte, ich werde bald wie sie sein." Kurz vor den Olympischen Spielen kam ihr die Idee für ihr erstes Start-up: ein Betten-Portal, über das Leute, die wegen der Wettkämpfe nach Peking reisen, günstige Schlafgelegenheiten finden.
In der Nacht programmierte sie, tagsüber studierte sie. Und arbeitete. "Ich kam zu langsam voran", sagt Betty. Es war der Sommer vor den Spielen, als Betty das letzte Mal zur Uni fuhr. Sie saß mit drei Professoren in einem engen Raum. "Ich werde nicht mehr zu den Kursen kommen", sagte sie. Die Männer blickten sie ernst an, doch sie sagten nicht viel. Nach fünf Minuten war das Gespräch vorbei. Später saß Betty bei ihrem Chef im Büro. "Ich werde meine eigene Firma machen." Ihr Chef bot ihr eine Beförderung an. "Ich werde jetzt gehen", sagte Betty. Bald darauf startete Diidian.cn , ihr Übernachtungsportal.
Der Mann, der Steve Jobs klonte
Es ist Nachmittag im Garage Cafe, als plötzlich ein irres Video für Gelächter sorgt. Es zeigt Lei Jun, den Chef der Firma Xiaomi. Der hat nicht nur ein Telefon entworfen, das stark ans iPhone erinnert, er hat gleich auch noch Steve Jobs kopiert . Lei trägt Sneakers, Jeans und ein schwarzes Shirt, das Standard-Outfit des kürzlich verstorbenen Apple-Gründers. Lei steht unter einer riesigen Projektion seines eigenen Telefons. Lei sagt: "Wir nennen es das Xiaomi-Phone." In Anlehnung an Jobs' berühmten Satz: "Wir nennen es: iPhone."
Was sagt so ein Auftritt über eine Nation aus, die zur Forschungssupermacht werden will? Was sagt es aus, dass das Rabattportal Groupon in China gleich mehrere tausend Klone hat?
"Viele Chinesen können es sich mittlerweile leisten, mit einer Geschäftsidee ihr Glück zu versuchen", sagt Betty. "Doch es gibt nur wenige, die den Mut haben, etwas wirklich Neues zu probieren." Betty ist stolz auf ihr Betten-Portal Diidian, denn es ging einige Monate vor dem heutigen Marktführer Airbnb online. Auch ihre beiden Start-up-Kollegen träumen davon, eine Weltneuheit zu erschaffen. Einer von ihnen will bald einen Alte-Leute-Knopf für das iPhone erschaffen. Eine Software, die die Bedienoberfläche mit einem Wisch auf ihre wesentlichen Funktionen reduziert und größer macht.

Fotostrecke: Der Anti-Steve-Jobs
Doch viele andere Start-ups in Peking, auch im Garage Cafe, begnügen sich immer noch damit, Ideen aus dem Ausland zu kopieren. Oder sie nehmen ein bestehendes Produkt und machen es so günstig, dass es für Chinas Mittelklasse erschwinglich wird. Das tut beispielsweise Xiaomi-Chef Lei Jun. Der verkauft sein Handy für umgerechnet 220 Dollar. Ein iPhone 4, mit dem das Xiaomi-Phone technisch durchaus mithalten kann, kostet im Laden das Dreifache.
Chinas Regierung mag "Innovation aus eigener Kraft" fordern. Für Chinas Internetmarkt aber scheint Innovation noch nicht das Wichtigste zu sein. Nur warum ist das eigentlich so?
Wenn es eine Firma gibt, deren Mitarbeiter darauf eine Antwort geben können, dann ist es Innovation Works, gegründet vom früheren Google-China-Chef Kai-Fu Lee. Dort arbeitet Chris Evdemon, ein Grieche, der akribisch die Strukturen untersucht hat, die Kaliforniens Silicon Valley ermöglichen. Seit zehn Jahren hält er Vorträge , inwieweit solche Strukturen auch in Zhongguancun entstehen. Das Hauptquartier von Innovation Works liegt einen kurzen Spaziergang vom Garage Cafe entfernt.
Der Eierpalast
Bei Innovation Works ist nicht nur der Name Programm, sondern auch das Büro-Design. Die Konferenzräume sind wie Eier geformt. Eine Karikatur im Großraumbüro zeigt den Firmenchef, der wie ein Küken aus einer Kalkschale schlüpft. Hier werden Ideen ausgebrütet, lautet die Botschaft. Beziehungsweise: nicht nur Ideen, sondern gleich ganze Start-ups.
Innovation Works ist ein Inkubator. Die Firma investiert nicht einfach in junge Gründer, die Start-ups nisten sich für drei bis sechs Monate ein, rundum betreut von einem 45-köpfigen Expertenteam. Das hilft bei Designfragen, bei der Buchhaltung, bei rechtlichen Problemen. Und bei der Ausarbeitung des Geschäftsmodells. Innovation Works legt Wert darauf, dass seine Start-ups eine neue Idee entwickeln. Internationale Investoren scheinen an die Kreativ-Legebatterie zu glauben. Jedenfalls hat die Firma Hunderte Millionen Dollar Kapital eingesammelt, unter anderem von YouTube-Mitgründer Steve Chen, von Bertelsmann und von der deutschen Software-Schmiede SAP.
Chris Evdemon trägt einen Fünftagebart zum Designerhemd und eine Gel-Frisur ohne Gel. Er hat lange darüber gebrütet, was das Problem ist mit Chinas Innovationskultur. Und er ist zu einer simplen Antwort gekommen. "Es gibt einfach noch zu viele tiefhängende Früchte. Zu viele Geschäftsideen, die in den USA oder Europa großen Erfolg haben, und die es in China noch gar nicht gibt." Vor allem aber gebe es zu viele Wagniskapitalgeber, die ihren Namen nicht wert seien.
Die Grenzen der Kreativität
Durch Chinas Wirtschaftsboom ist die Zahl der privaten Geldgeber gewachsen. Wagniskapitalgeber investieren im Land inzwischen rund sieben Milliarden Dollar pro Jahr, das entspricht immerhin einem Viertel der US-Ausgaben, Tendenz stark steigend. "Doch ich kenne vielleicht ein Dutzend Investoren, die wirklich etwas wagen", sagt Chris. "Die wenigsten suchen eine Firma, die vielleicht einen neuen Milliardenmarkt aufstößt. Die meisten suchen das schnelle Geld mit einem Klon." Das sei verständlich, sagt Chris. "Sie setzen auf erprobte Geschäftsmodelle in einem gewaltigen Wachstumsmarkt." Rund eine halbe Milliarde Chinesen sind online, eine gigantische Zahl - und doch gerade erst 40 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Investments in etwas völlig Neues könnten die meisten Investoren nicht einschätzen, sagt Chris. "Doch das wird sich bald ändern. Spätestens, wenn die aktuelle Gründergeneration reich geworden ist." Vorbild sei das Silicon Valley. "Dort gibt es Tausende ehemalige Gründer, die ihr Geld und ihr Wissen ins System zurückspeisen." In Zhongguancun funktioniere dieser Kreislauf noch nicht. Doch es gebe bereits große Firmen wie Baidu, Tencent oder Ali Baba und zahlreiche Gründer, die reich sind an Mitteln und Erfahrung. Sie beginnen, global zu denken. "In Zhongguancun entstehen wirklich dieselben Strukturen wie im Silicon Valley, und zwar rasend schnell."
Durch den Kreativboom verändert sich auch die Gesellschaft. Eine neue Generation schätzt ihre persönliche Freiheit, entzieht sich immer mehr der staatlichen Kontrolle. Die Gründer im Garage Cafe werden deswegen manchmal unruhig. Sind sie wirklich die Prototypen einer angehenden Forschungssupermacht? Oder ein Systemfehler, den die Regierung aufspüren und auslöschen will?
Die neue Freiheit

Kurzporträts: Die Gründer aus dem Garage Café
Plötzlich wird es dunkel im Garage Cafe und danach lange nicht wieder hell. Ein Kurzschluss. Das Internet ist ausgefallen, ebenso die elektrische Heizung. Durch die schlecht isolierten Fenster kriecht die abendliche Winterkälte in den Raum. Mr. Su, der Besitzer, leuchtet mit der Taschenlampe in den Stromkasten. 20 Computer-Nerds in einem Raum, doch keiner kann die Sicherung reparieren. Nach einer Weile findet man sich mit der Dunkelheit ab. Chinas neue Gründergeneration arbeitet weiter, im Akku- und Offline-Betrieb. Ihre Gesichter leuchten im Licht ihrer Laptops. Mr. Su geht ins Treppenhaus und steckt sich eine seiner schnorreresistenten Zigaretten an.
Hat die Regierung seinem Café gerade den Saft abgedreht? Su lacht. "Nein, warum denn? Die Regierung mag mein Café." Er sagt, dass der Strom öfter ausfalle. Dass das normal sei in Peking. Dass es ein paar Stunden dauern könne. Dann aber kommt der Reparaturdienst, und es wird wieder hell und warm.
Trotzdem erinnert der Stromausfall daran, wie außergewöhnlich das Garage Cafe ist. Welch Enklave des Freidenkertums es ist, im stark regulierten China. Es gibt hier Gründer, die sagen, sie würden nie Fördergelder der Regierung annehmen - obwohl es gerade sehr leicht ist, an welche zu kommen. Es gibt Gründer, die sogenannte VPN-Verbindungen nutzen - Schnittstellen, mit denen sich die sonst so allgegenwärtige Internetzensur umgehen lässt. Und es gibt Gründer, die verbotene Seiten wie Facebook und Twitter fürs Marketing verwenden - und im Web ungefilterte Nachrichten lesen.
Kommt es im Garage Cafe bald zur Cyber-Revolution? Das dürfte westliches Wunschdenken sein. Denn die VPN-Rebellen machen nur einen Bruchteil der Bevölkerung aus. Und auch ihre Freiheit hat eine klare Grenze. Sie verläuft ziemlich genau zwischen Wirtschaft und Politik.
Unternehmen müssen die Regierung in ihre Server lassen, damit sie unbequeme Inhalte löschen kann. "Du hast nur zwei Möglichkeiten", sagt ein Gründer. "Entweder du befolgst die Regeln. Oder deine Firma ist platt." Es habe Start-ups gegeben, deren Web-Seite plötzlich unsichtbar wurde und es so lange blieb, bis der Gründer pleite war.
Aber was ist mit den großen Konzernen? Mit Unternehmen, deren Geschäftsmodell auf einem möglichst offenen Internet basiert? Die genug Mittel und Angestellte haben, um die Grenzen der Freiheit zu testen? Ausländische Firmen wie Google haben schon den Eklat mit der Regierung riskiert. Chinas größte Suchmaschine Baidu fiel nie durch solche Aktionen auf. Dabei arbeiten auch dort Tausende gutausgebildete Intellektuelle. Lassen die sich wirklich alle zur Gedankensperre zwingen?
Der Kaiser

Baidu: Rundgang beim Google Chinas
Die Firmenzentrale von Baidu erinnert an ein Raumschiff aus einem Stanley-Kubrik-Film. Junge Menschen schreiten durch eine lange, weiße Halle mit fünf großen, von Leuchtdioden angestrahlten Kapseln. In ihrem Inneren können Mitarbeiter auf surrenden Massagestühlen schlafen - freilich nur, wenn sie sich nicht gerade im hypermodernen Fitnessraum austoben oder ihrem Chef in einem der luftigen Cafés im Treppenhaus ihre neuesten Projekte vorstellen.
Der Marketingchef ist ein langhaariger Hüne namens Kaiser Kuo. Früher Gitarrist bei Tang Dynasty, einer von Chinas bekanntesten Eighties-Rockbands. In seiner Freizeit moderiert er einen Podcast , der sich kritisch mit Themen wie Bauernaufständen, soziale Missständen und Medienkontrolle auseinandersetzt.
Die Botschaft ist eindeutig: Hier präsentiert sich ein weltoffener Querdenker-Konzern. Ein Internet-Gigant mit flachen Hierarchien und offener Diskurskultur, der global denkt und inzwischen auch Märkte wie Vietnam und Ägypten ins Visier nimmt.
Gleichzeitig steht Baidu in der Kritik. Debatten über die Unabhängigkeit Taiwans oder Tibets, Informationen über den Dalai Lama oder über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, Angaben über den Zusammenbruch der Sowjetunion - all das taucht in der Suchmaschine nicht auf. Und bevor SPIEGEL ONLINE die Firmenzentrale besichtigte, rief die Regierung im Management des IT-Riesen an und riet, das Thema Internetzensur doch besser auszuklammern.
"Das Zensurproblem wird oft übertrieben"
Das offene Gebäude, die Start-up-Philosophie - alles nur Show? Kaiser führt an seinen Arbeitsplatz in einem Großraumbüro im sechsten Stock. Tisch und Trennwände sind gepflastert mit Fotos seiner Bands und seiner Familie. Neben dem Monitor steht eine kleine Meeresschildkröte aus Porzellan. Kaiser wurde als Kind zweier Chinesen in den USA geboren und kam um die Jahrtausendwende ins Land zurück.
Eine Weile führt Kaiser die Funktionen von Baidu vor. Schnell wird klar: Es gibt einen fundamentalen Unterschied zu Google. Baidu ist stärker auf Konsum ausgelegt. Statt Suchergebnissen erscheinen oft Bücher, Songs, TV-Sendungen, die sich direkt lesen, hören, schauen lassen. Firmen können zu bestimmten Ergebnissen Anzeigen mieten, die fast die ganze Seite einnehmen. Nichtkommerzielle Informationen erscheinen in vielen Teilen nachrangig.
Kann man überhaupt gute Suchergebnisse liefern, wenn man sich an Internetzensur hält? Kaiser sagt, dass nur Pornografie und Politik zensiert seien und andere wichtige Bereiche wie Wirtschaft oder Wissenschaft völlig frei. Ohnehin suchten die meisten Kunden eher nach Filmen, Musik oder guten Restaurants. "Das Zensurproblem wird oft übertrieben", sagt er. "Wir sind eine Internetfirma wie jede andere in China. Wir halten uns an die Gesetze." Schließt das auch ein, dass die Regierung dem Management vor Journalistenbesuchen einen Maulkorb verpasst? "Davon weiß ich nichts", sagt Kaiser.
Das klingt nicht nach einem Konzern, der versucht, die Freiheit im Internet auszudehnen. Eher nach einem Unternehmen, das Zensur nahtlos in sein Geschäftsmodell integriert hat. Allerdings bedeutet das nicht automatisch, dass die Mitarbeiter das gutheißen. Abseits der glitzernden Firmenzentrale, bei abgeschalteten Aufnahmegerät wird schnell klar, dass es bei Chinas größter Suchmaschine durchaus Menschen gibt, die sich nach mehr Freiheit sehnen.
Die goldene Plakette

Café-Besitzer Su im Garage Cafe: Gewinner der goldenen Plakette
Foto: Bernhard Riedmann / DER SPIEGELDer Mann möchte nicht mit Namen genannt werden, weil er um seinen Arbeitsplatz fürchtet. Er sitzt in einem fast leeren Restaurant, in dem eine chinesische Musikshow aus dem Fernseher dröhnt. "Die Regierung hat furchtbare Verbrechen begangen" sagt er. "Durch die Zensur wissen Millionen Bürger davon noch immer nichts. Einige in der Parteispitze fürchten einen Massenaufstand, falls das herauskäme."
Deshalb perfektioniert der Staat seine Internetzensur immer mehr - und scheint damit Erfolg zu haben. Den US-Kurznachrichtendienst Twitter hat er verboten, weil dessen Server im Ausland stehen und sich nicht kontrollieren lassen. Als die ersten chinesischen Start-ups Twitter klonten, wurden auch sie verboten. Seit Sommer 2009 gibt es das Twitter-Klon Weibo. Der Dienst hat mehr als 250 Millionen registrierte Nutzer - und die Regierung nutzt ihn für ihre Zwecke. Als "Informationskanal", um "schädliche Gerüchte" aus ihrer Sicht zu kommentieren. Und Twitter führt gerade einen Zensurmechanismus ein.
Der Mann in dem Restaurant hofft trotzdem auf Wandel - nicht sofort, aber in ein paar Jahren. "Die Regierung weiß, dass sie die Internetzensur früher oder später aufheben muss", sagt er. "Wenn sie es jetzt täte, gäbe es vermutlich große Ausschreitungen. Doch die Gesellschaft würde es wohl am Ende verkraften. Je länger die Regierung wartet, desto höher schlagen die Wogen der Empörung."
China, Zhongguancun, das Garage Cafe. Ein Riesenreich, ein Stadtviertel, ein kleiner Szene-Treff. Drei Ebenen, auf denen das gleiche Experiment abläuft: Wie viel Kreativität und unternehmerische Eigeninitiative kann eine Gesellschaft entwickeln, ohne gleichzeitig Freiheit zu fordern? Bislang scheint die Regierung alles, was neu und ungewöhnlich ist, erfolgreich in ihr System einzubinden.
Es ist spät geworden im Garage Cafe, und Mr. Su spendiert auf einmal Freibier für alle. Normalerweise macht er das, wenn ein Start-up aus dem Café einen Investor findet. Heute feiert er einen eigenen Erfolg. Auf der Bar, neben den Plastikbechern, liegt eine große goldfarbene Plakette. Su ist schon etwas betrunken. Er zündet sich eine Zigarette an und lächelt. "Die Plakette bedeutet Fördergelder", sagt er. "Und eine bevorzugte Behandlung durch die Behörden."
Die Regierung hat ihn ausgezeichnet - für besondere Verdienste.