EZB-Zinssenkung Draghis Schnellschuss

Gut gelaunt: EZB-Präsident Mario Draghi nach der Zinsentscheidung
Foto: AP/dpaHamburg - Die Deutschen haben vor allem eine Sorge: dass ihre Ersparnisse von einer Inflation aufgefressen werden. Die Erfahrungen aus der Weimarer Republik mit der Hyperinflation sind tief im kollektiven Bewusstsein verankert, lautet die Erklärung. Dann kam die Schuldenkrise - und die Europäische Zentralbank (EZB) überschüttete die europäischen Banken geradezu mit billigem Geld. Aus der deutschen Inflations-Sorge wurde eine regelrechte Inflations-Angst: Die Preise für die vermeintlich sicheren Anlagen - Gold und Immobilien - stiegen immer weiter. Und jetzt das: EZB-Präsident Mario Draghi senkt den Leitzins auf das nächste Rekordtief.
Er hat allerdings allen Grund dazu, denn er muss sich derzeit vor allem darum kümmern, dass die Euro-Zone nicht in eine Deflation fällt. Nicht steigende Preise bedrohen Europas Wirtschaft, sondern sinkende. Vor einer Woche gab das Statistikamt Eurostat die Inflationsrate für den Oktober bekannt: Die Teuerung betrug 0,7 Prozent, deutlich unter der von der EZB angestrebten Marke von stabilen Preisen bei rund zwei Prozent. "Die Null vor dem Komma war für alle eine große Überraschung, auch für die EZB", sagt der Chefvolkswirt der Berenberg Bank, Holger Schmieding.
So niedrig war die Inflation seit 2009 nicht mehr, in südeuropäischen Krisenländern wie Zypern, Portugal oder Spanien lag die Rate bei nur 0,5 Prozent. In Griechenland sinken die Preise seit März sogar. Während Deutschland die Inflation fürchtet, zittert der Rest der Welt eher vor einer Deflation wie in Japan. Dort kommt die Wirtschaft seit Jahrzehnten nicht auf die Beine. Deflation heißt, dass die Preise in einer Volkswirtschaft über einen längeren Zeitraum in den wichtigsten Branchen stark sinken. Die Verbraucher verschieben Anschaffungen, weil sie auf niedrigere Preise setzen, die Unternehmen verdienen weniger, müssen ihren Mitarbeitern aber unverändert hohe Löhne zahlen.
Zeitpunkt der Zinsentscheidung überrascht Ökonomen
In der Euro-Zone kommt die Wirtschaft derzeit nicht in Schwung, und die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie noch nie. Die Reaktion der EZB mit der Leitzinssenkung auf den Rekordwert von 0,25 Prozent hat Ökonomen trotzdem erstaunt. Der Berenberg-Ökonom Schmieding zeigte sich vor allem überrascht von der Geschwindigkeit der Entscheidung - nur eine Woche nach Veröffentlichung der neuen Inflationsdaten: "Draghi hat gezeigt, dass er schnell handeln kann, wenn er ein Problem sieht und sein Gremium in Rekordgeschwindigkeit von einer Zinssenkung überzeugen kann", sagte er SPIEGEL ONLINE.
Allerdings zweifelt Schmieding daran, dass die Entscheidung einen großen Effekt habe: "Die Wirkungen werden sehr begrenzt bleiben", sagte Schmieding, "die Zinsen für deutsche Haushalte und Unternehmen sind ohnehin sehr niedrig, da wird sich nicht viel ändern." Kurz: "Es schadet nicht, es bringt aber auch nicht viel."
Immerhin hat Draghi damit wieder ein starkes Signal an die Märkte gesendet: Die EZB nimmt die Deflationsgefahr ernst, heißt das. Zudem zeigt er damit, dass der Euro nicht zu stark werden und so die zögerliche wirtschaftliche Erholung bedrohen darf. Schon jetzt leiden die exportorientieren Unternehmen vor allem aus Deutschland unter den ungünstigen Wechselkursen. Tatsächlich reagierte der Euro umgehend: Als die Zinsentscheidung bekannt wurde, stürzte der Kurs zum Dollar umgehend ab, von 1,3514 Dollar auf 1,3365 Dollar. Der Dax schoss dagegen umgehend um mehr als 100 Punkte in die Höhe.
Die wesentlichen Probleme werden nicht gelöst
Die wesentlichen wirtschaftlichen Probleme der Euro-Zone seien aber andere, sagt Schmieding: "Haben deutsche Unternehmen genug Vertrauen, um zu investieren? Bekommen mittelständische Unternehmen in Italien Kredite?" Diese Probleme würden mit der Zinssenkung nicht gelöst. Allerdings habe die EZB auch kaum Möglichkeiten, die schleppende Kreditvergabe in der Euro-Zone zu stärken, glaubt Schmieding. Die Banken hielten sich vor allem deshalb zurück, weil sie für den Stresstest im kommenden Sommer ausreichend Eigenkapital vorhalten wollten.
Immerhin dürfen sie darauf hoffen, dass die EZB ihre Politik beibehält: Er rechne mit einer "lang anhaltenden Periode niedriger Inflation", sagte Draghi nach der Zinsentscheidung. Eine wirkliche Deflationsgefahr sehe er aber nicht.
Tatsächlich spielen bei der niedrigen Inflation derzeit sinkende Energiepreise die Hauptrolle. Weil aber zum kommenden Frühjahr mit einem Preisanstieg von Kohle, Öl und Gas gerechnet wird, dürfte sich auch die Inflationsrate entsprechend nach oben bewegen. Für den Fall, dass die Inflationsrate im November erneut stark sinkt, beruhigt der EZB-Präsident aber: "Wir haben noch eine Menge Artillerie." Bei den Zinssenkungen allerdings hat Draghi nur noch einen Schuss frei - dann ist das Magazin leer und der Leitzins auf dem Nullpunkt angekommen.