Henrik Müller

USA vs. EU Der unheimlich starke Euro

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Es sind seltsame Zeiten: Die Pandemie hat Europa abermals fest im Griff, die EZB wirft ein weiteres 500-Milliarden-Paket auf die Märkte – doch der Euro wird stärker.
Foto: PHILIPPE DESMAZES/ AFP

Während diesseits des Atlantiks die Wirtschaft darniederliegt, die Schulden immer weiter steigen und Warnungen vor Inflation laut und lauter werden, gewinnt der Euro international an Stärke. Wie kann das sein? Spinnen die Spekulanten?

Seit März beträgt der Wertzuwachs gegenüber dem Dollar rund 20 Prozent . Gegenüber allen Handelspartnern ist der Euro im Schnitt mehr als zehn Prozent teurer geworden. Und gegenüber dem US-Dollar wertete die Gemeinschaftswährung vorigen Donnerstag weiter auf, als EZB-Chefin Christine Lagarde die jüngsten Beschlüsse des Zentralbankrats vor der Presse erklärte. Damit setzt sich der Aufwärtskurs fort.

Folgende Woche, am Mittwoch, wird die US-Notenbank Federal Reserve über die weitere Geldpolitik entscheiden. Nicht ausgeschlossen, dass der Euro gegenüber dem Dollar dann noch stärker wird.

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Institut für Journalistik, TU Dortmund

Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.

Drei Faktoren spielen für die Eurostärke eine Rolle:

  • Bei Wechselkursen geht es nicht um die absolute Bewertung der Wirtschaftslage einer Volkswirtschaft. Vielmehr gilt das Prinzip des relativen Desasters.

  • Die USA sind offenbar anfälliger für Inflation als der Euroraum.

  • Je weiter man von Europa entfernt ist, desto besser sehen wir aus.

Das Prinzip des relativen Desasters

Wechselkurse sind relative Preise. Wenn eine Währung aufwertet, heißt das nicht unbedingt, dass die Lage des jeweiligen Wirtschaftsraums gut ist, sondern lediglich, dass Investoren und Spekulanten der Meinung sind, dort bessere Renditen einstreichen zu können als anderswo. Dollar, Pfund oder Yen werden in Euro getauscht, die Nachfrage steigt, ebenso der Preis – es kommt zur Aufwertung.

Dabei geht es nicht nur um aktuelle Entwicklungen, sondern auch um Erwartungen für die Zukunft: Wie entwickeln sich Wachstum, Inflation, politische und gesellschaftliche Stabilität voraussichtlich in den kommenden Jahren?

Aktuell ist die Lage in Europa alles andere als glänzend. Im Corona-Jahr 2020 wird die Wirtschaftsleistung in der Eurozone nach OECD-Prognosen um 7,5 Prozent zurückgehen. Angesichts der erneuten Pandemiewelle bleiben die Aussichten wolkig: 2021 und 2022 wird es wohl nur gebremst aufwärtsgehen.

In den USA hingegen läuft die konjunkturelle Entwicklung deutlich besser. Die Wirtschaft wird nur halb so stark schrumpfen wie diesseits des Atlantiks (was für einen stärkeren Dollar spricht). Allerdings steigen dadurch auch die Inflationsgefahren (was einen schwächeren Dollar bedingen würde).

Lauter die Glocken nicht klingen…

Zwar ist von Inflation in den USA derzeit wenig zu sehen. Doch in der Eurozone sind die Werte noch niedriger. Die Prognosen für die kommenden Jahre gehen davon aus, dass die Konsumentenpreise in den USA leicht schneller steigen. In fünf Jahren soll, gängigen Vorhersagen zufolge, die Inflation in der Eurozone bei 1,7 Prozent liegen, in den USA bei 1,9 Prozent. 

Das wäre alles überhaupt nicht dramatisch. Es kann aber auch ganz anders kommen.

Nach der Coronakrise könnte die Inflation aus dem Ruder laufen. Wir haben bereits im Frühjahr an dieser Stelle darüber diskutiert. Mein Argument damals:

Drei Trends – De-Globalisierung, die höhere Konzentration auf vielen Märkten und die sinkende Zahl der Menschen im beschäftigungsfähigen Alter – werden durch die Pandemie verstärkt. Und alle drei wirken in dieselbe Richtung: Der gesamtwirtschaftliche Wachstumspfad flacht ab, die Spielräume für Preis-, Lohn- und Kostensteigerungen werden größer. Trifft auf diese veränderten Angebotsbedingungen eine künstlich angefachte Nachfrage, dann kann dadurch eine Inflationsdynamik in Gang gesetzt werden, ähnlich wie in den Siebzigerjahren.

Nach der Coronakrise wird es deshalb darauf ankommen, etwaigen Inflationsgefahren entschieden zu begegnen. Die staatliche Geldschwemme, die sich momentan berechtigterweise über die Märkte ergießt, um ein Abgleiten in eine schlimme Depression zu verhindern, kann in der neuen Normalität der Nach-Corona-Welt einen bislang kaum vorstellbaren Preisdruck auslösen.

Diese Warnungen erreichen nun den Mainstream. Die Zeitschrift »The Economist« orakelt in ihrer Titelgeschichte diese Woche von einer Rückkehr der Inflation. Es sind vor allem die USA, wo die Alarmglocken laut klingen: Bill Dudley, ehemals Vize des geldpolitischen Rates der Fed, hat Anfang Dezember fünf Gründe dargelegt, warum man sich »Sorgen um eine höhere US-Inflation« machen solle  – unter anderen nennt er die neue Strategie der US-Notenbank und eine veränderte wirtschaftspolitische Großwetterlage.

Geldausgeben, mit beiden Händen

Vor einigen Monaten hat die Fed eine neue geldpolitische Strategie angekündigt. Künftig will die US-Notenbank die Inflation laufen lassen, auch wenn sie eine Zeit lang über die angestrebte Zielrate von zwei Prozent hinausschießt. Dudley erkennt zudem eine Verschiebung der »finanzpolitischen Orthodoxie«: Ökonomen sorgten sich nicht mehr so sehr wegen der horrenden Staatsschulden; vielmehr betonten sie die Notwendigkeit, bei den öffentlichen Ausgaben in die Vollen zu gehen.

In dieselbe Richtung gehen die bereits angekündigten massiven Ausgabenprogramme der nächsten US-Regierung unter Joe Biden. Steuererhöhungen zur Gegenfinanzierung werden – angesichts der starken Position der Republikaner im Kongress – kaum durchsetzbar sein. Die Kombination aus lockerer Geldpolitik und laxer Finanzpolitik könnte eine neue Ära der Inflation einleiten, zumal wenn sie auf veränderte Wirtschaftsstrukturen trifft.

All das lastet auf dem Dollar. Selbst wenn die USA sich wirtschaftlich recht dynamisch entwickeln sollten, so scheint das Institutionengefüge doch nachhaltig geschwächt zu sein. Die Ära Trump und die tiefe Spaltung der Gesellschaft machen die USA weniger widerstandsfähig gegen ein Aufflammen der Inflation.

Diesseits des Atlantiks befinden wir uns in der entgegengesetzten Lage: Die Wirtschaft ist schwach, aber die europäischen Institutionen erweisen sich als überraschend stark – was wiederum den Eurokurs beflügelt.

Die Wirtschaft mag darniederliegen; die OECD rechnet damit, dass auch Ende übernächsten Jahres viele Eurostaaten unter ihrem Vorkrisenniveau bleiben werden, darunter Italien, Spanien, Portugal und Griechenland. Aber die EU und die Eurozone entwickeln sich gegen alle Widerstände politisch weiter, und zwar schneller, als das vor wenigen Jahren noch vorstellbar gewesen wäre.

Ein paar aktuelle Schlaglichter: Die EU hat einen XXL-Haushalt beschlossen, samt verstärkter gemeinsamer Schuldenaufnahme. Ungarn und Polen haben am Ende in den neuen Rechtsstaatsmechanismus eingewilligt. Die Bankenunion wird weiter ausgebaut, der Eurorettungsfonds ESM kann nun auch zur Abwicklung maroder Banken eingesetzt werden. Großbritannien steigt zum Jahreswechsel aus dem Binnenmarkt aus, doch die übrige EU hält zusammen.

All das ist weder perfekt noch vollendet. Und doch: Ein Auseinanderbrechen der Eurozone und der EU insgesamt, vor einigen Jahren noch eine realistische Gefahr, ist unwahrscheinlich. Von innen betrachtet mag die EU von Streit und Zwietracht durchzogen sein – von außen jedoch wirkt sie derzeit vergleichsweise einig. In der größten Krise seit Generationen erweist sich Europa als handlungsfähig.

Zwischen 1970 und 1980 verdoppelte sich der Wert der D-Mark gegenüber dem Dollar

Dazu kommt die Rolle der Zentralbank: Sollten die Inflationsraten tatsächlich steigen, hat die EZB den klaren Auftrag, für Preisstabilität zu sorgen. Anders als die Fed, die per Gesetz dazu verpflichtet ist, gleichermaßen auf stabile Preise und einen hohen Beschäftigungsstand zu achten, muss die EZB gemäß EU-Vertrag vorrangig für Preisstabilität sorgen. Alle anderen Ziele müssen dahinter zurückstehen.

Schon wahr: Wenn die Inflation anzieht, wird sich auch die EZB in einer unkomfortablen Position wiederfinden. Höhere Zinsen und ein Ende der Anleihekäufe werden hoch verschuldete Staaten an den Rand der Pleite bringen. Entsprechend groß wird der politische Druck sein, es mit der Preisstabilität nicht so genau zu nehmen. Doch darauf darf sie, streng genommen, keine Rücksicht nehmen.

Welche Auswirkungen unterschiedliche Geldverfassungen auf den Wechselkurs haben können, zeigt die Erfahrung der Siebzigerjahre. Damals galoppierte in den USA die Inflation davon, während in Deutschland die Bundesbank die Zügel straffte. Mit der Folge, dass die D-Mark massiv aufwertete: Zwischen 1970 und 1980 verdoppelte sich ihr Wert gegenüber dem Dollar.

Klar, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber gelegentlich präsentiert sie uns Muster – zur Mahnung und zur Nachahmung.

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche

Tokio – Die Stimmung in Fernost: Die Bank von Japan präsentiert ihre Tankan-Umfrage zur Lage und Stimmung der Konjunktur im Land. 

Hamburg – Schwierige Balance I: In der Metall- und Elektroindustrie beginnt die norddeutsche Tarifrunde. Die Abwägung zwischen Lohnplus und Jobsicherung wird keine leichte sein.

Berlin – Nach Mutti: Die drei Kandidaten für den CDU-Parteivorsitz – Merz, Röttgen, Laschet – stellen sich online den Fragen der Parteimitglieder.

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