Verschwörungstheorien der Wirtschaft "Statt Gott lenken jetzt Verschwörer die Welt"

Kennedy-Ermordung: Hat der Kapitalismus mitgeschossen?
Foto: AP/Warner BrosVerschwörungstheorien beschäftigen nicht nur Stammtische oder Internetforisten, sondern längst auch die Wissenschaft. Ein Interview mit dem Amerikanisten Michael Butter, der die Theorien an der Bergischen Universität Wuppertal erforscht.
SPIEGEL ONLINE: Herr Professor Butter, was halten Sie von folgender Verschwörungstheorie: Die Wuppertaler Schwebebahn hätte 1901 bereits so schnell wie ein Transrapid fahren können. Doch Carl Benz riss sich das Patent unter den Nagel, um die unliebsame Konkurrenz für sein Auto zu stoppen.
Butter: Damit kann man anfangen. Aber Sie müssten die Theorie noch relevant für die Gegenwart machen.
SPIEGEL ONLINE: Na ja, die Autoindustrie hat später aus denselben Gründen natürlich auch die Einführung des Transrapid in Deutschland verhindert.
Butter: Genau. Und das Potenzial der Technologie wurde von Anfang an erkannt und verschwiegen, weshalb Benz sich mit anderen Produzenten abgesprochen hat. Dann haben wir eine Gruppe von fast schon übermenschlichen Verschwörern, die über Jahrzehnte hinweg den Mund halten, sich nie uneins sind und deren Plan auf das gesamte 20. Jahrhundert angelegt ist. Das macht Verschwörungstheorien aus: Einerseits machen sie die Dinge einfacher, weil wir durch sie nicht mehr an Zufälle glauben müssen. Andererseits sind ihre Erklärungen aber selbst höchst komplex.
SPIEGEL ONLINE: Sie beschäftigen sich seit Jahren wissenschaftlich mit Verschwörungstheorien. Gehen Sie dazu gleich ins Geheimarchiv, oder reicht erst mal die Unibibliothek?
Butter: Man kann gut in der Unibibliothek anfangen, weil Verschwörungstheorien inzwischen ein etabliertes Forschungsfeld sind. Schon seit den Sechzigerjahren beschäftigen sich Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen damit. Einen neuen Schub gab es um die Jahrhundertwende mit Serien wie "Akte X" und den Anschlägen vom 11. September.

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• Die Herrschaft der Illuminaten: Das Auge auf dem Dollarschein
• Aspartam: Das süße Gift
• Enteignung durch Währungsreform: Nur Gold ist sicher
• Der Fall Barschel: Die verräterischen Spuren der Waffenhändler
• US-Zentralbank: Die Fed als Marionette der Finanzmafia
• Flouride: Gefahr aus der Zahnpasta-Tube
• Geplanter Murks: Produkttod - pünktlich nach Garantieablauf
• Bilderberg-Konferenz: Das Kartell der Macht
• Schweine-Anus als Tintenfischring: Analimari Fritti
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SPIEGEL ONLINE: Sind Verschwörungstheoretiker nicht auch Wissenschaftler? Schließlich entwerfen sie wie andere Forscher eine Theorie mit einer Hypothese.
Butter: Manche Kollegen sprechen lieber von Verschwörungsideologien, weil sie die Urheber nicht mit dem Theoriebegriff adeln wollen. Ich halte ihn aber für angebracht. Wie Wissenschaftler versuchen Verschwörungstheoretiker, Ereignisse in der Vergangenheit zu erklären und Vorhersagen für die Zukunft zu treffen.
SPIEGEL ONLINE: Und wo ist dann der Unterschied zur Wissenschaft?
Butter: Verschwörungstheorien lassen sich nicht widerlegen. Wenn ein Verschwörungstheoretiker sich einmal die Grundzüge seiner Theorie zurechtgelegt hat, dann ändert sich daran nichts mehr. Gegenteilige Fakten werden entweder ignoriert oder zu weiteren Beweisen umgedeutet. Deshalb ist es so schwer, mit Verschwörungstheoretikern zu diskutieren.
SPIEGEL ONLINE: Aber ohne solche Diskussionen könnten echte Verschwörungen unentdeckt bleiben.
Butter: Diese Gefahr besteht natürlich. Früher galten Verschwörungstheorien als legitimes Wissen. Heute reicht es meist, jemanden als Verschwörungstheoretiker zu bezeichnen, um sich mit seinen Argumenten nicht weiter auseinandersetzen zu müssen.
SPIEGEL ONLINE: Und wie unterscheidet man dann echte von vermeintlichen Verschwörungen?
Butter: Verschwörungstheoretiker können nie aufhören; bei ihnen hängt alles mit allem zusammen. Es gibt zum Beispiel gute Gründe für die Annahme, dass Lee Harvey Oswald den Anschlag auf John F. Kennedy nicht alleine beging. Weniger wahrscheinlich ist, dass er dabei Teil einer gigantischen Verschwörung von Mafia, Kubanern, der CIA und Vizepräsident Lyndon B. Johnson war.
SPIEGEL ONLINE: Aber Hand aufs Herz: Hätten Sie vor fünf Jahren geglaubt, dass der US-Geheimdienst NSA jedes Telefongespräch in einem Land mithören und aufzeichnen kann?
Butter: Das weiß ich nicht, aber die NSA macht das ja aus wenig überraschenden Motiven. Für eine echte Verschwörungstheorie müsste sie selbst von dunklen Kräften unterwandert sein.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es ein Geburtsdatum für Verschwörungstheorien?
Butter: Es gab sie schon im alten Rom und Griechenland. Aber die moderne Form der Verschwörungstheorie, in der es meist um die Herrschaft über eine Nation oder gar die Welt geht und die erst durch Entschlüsselung aufgedeckt werden kann, kam in etwa mit der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert auf.
SPIEGEL ONLINE: Wieso?
Butter: Vorher glaubten die meisten, dass ihre Geschicke komplett von Gott gelenkt wurden. Mit der Aufklärung wirkten viele Ereignisse plötzlich willkürlich. Da boten die Theorien eine willkommene neue Erklärung: Statt Gott lenken jetzt Verschwörer die Welt. Das war für viele leichter zu akzeptieren als völliges Chaos.
SPIEGEL ONLINE: Verschwörungstheorien sind also der Preis, den wir für die Aufklärung zahlen?
Butter: Ja, das könnte man sagen. Vermutlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Säkularisierung einer Gesellschaft und der Verbreitung von Verschwörungstheorien.
SPIEGEL ONLINE: Aber auch in den religiös geprägten Ländern des Nahen Ostens gibt es viele Verschwörungstheorien.
Butter: Stimmt, ebenso in Russland und Südosteuropa. Das liegt aber auch daran, dass diese Länder Umbrüche hinter sich haben, die sich ebenfalls durch Verschwörungstheorien erklären lassen. Hinzu kommt die Beteiligung von US-Geheimdiensten an realen Verschwörungen, etwa in Iran. Die iranische Regierung instrumentalisiert dies fraglos, um die USA für alle möglichen Übel verantwortlich zu machen.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben sich intensiv mit Verschwörungstheorien in den USA beschäftigt. Sind die Amerikaner dafür besonders begabt?
Butter: Auf jeden Fall waren Verschwörungstheorien dort immer sehr wichtig und sind länger eine legitime Wissensform geblieben als in Europa.
SPIEGEL ONLINE: Woran liegt das?
Butter: Zum einen am Weltbild der puritanischen Siedler. Die unterschieden sehr klar zwischen Gut und Böse und erklärten jede Missernte und jedes Unwetter letztlich mit dem Teufel. Außerdem sahen sich die amerikanischen Revolutionäre in der Tradition der frühen römischen Republik und italienischer Stadtstaaten und hatten gelernt, dass die fast immer durch Verschwörungen untergegangen waren. Und schließlich haben die Amerikaner immer besonders daran geglaubt, dass Einzelne die Geschichte beeinflussen können - eben auch durch Verschwörungen.
SPIEGEL ONLINE: Und wie gut sind wir Deutschen in Sachen Verschwörungstheorien?
Butter: Heute nicht besonders. Aber der gesamte Nationalsozialismus lässt sich natürlich als Resultat einer gigantischen Verschwörungstheorie begreifen: Die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung musste von der Macht entfernt werden, mit den bekannten schrecklichen Folgen.
SPIEGEL ONLINE: Haben wir daraus gelernt?
Butter: Vielleicht. Verschwörungstheoretische Denkmuster sind jedenfalls in der Nachkriegszeit von Politik und Medien in Deutschland nicht mehr so stark bedient worden. Das ändert sich erst langsam wieder - nicht zuletzt durch das Internet, das ein ideales Medium für Verschwörungstheorien ist.
SPIEGEL ONLINE: Wieso eigentlich? Damit kann doch jeder leichter als früher Fakten überprüfen.
Butter: Ja, aber Internet und Verschwörungstheorien folgen auch demselben Prinzip: Alles ist mit allem verbunden. In wenigen Klicks kommen wir von Barack Obama zu den Illuminaten.
SPIEGEL ONLINE: Über US-Politiker gibt es aber auch wirklich gruselige Fakten: Ex-Präsident George W. Bush und sein ehemaliger Herausforderer, der jetzige Außenminister John Kerry, waren beide in der Studentenverbindung Skull & Bones in Yale. Diese Verbindung protokolliert sexuelle Eskapaden ihrer Mitglieder, mit denen sie später erpresst werden können. Auf seine Mitgliedschaft angesprochen, sagte Bush: "Das ist so geheim, wir können nicht darüber reden."
Butter: Skull & Bones kenne ich nicht näher. Solch einen Korpsgeist versuchen ja auch andere Studentenverbindungen zu schaffen. Unter Bush wurde aber zweifellos eine Verschwörungstheorie instrumentalisiert: dass Osama Bin Laden und Saddam Hussein unter einer Decke stecken. Das hat super geklappt.
SPIEGEL ONLINE: Und dann kam es zum Irakkrieg, bei dem es den USA vor allem ums Öl gegangen sein soll. Werden Verschwörungstheorien aus rein wirtschaftlichen Interessen in die Welt gesetzt?
Butter: Im Irak hat das Öl sicher eine große Rolle gespielt, aber die Republikaner dachten auch, sie tun der Menschheit etwas Gutes. Menschen sind gut darin, das zu glauben, was ihnen nützt.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie denn eine Erklärung dafür, warum in Verschwörungstheorien so häufig wirtschaftliche Akteure eine Rolle spielen, etwa Großbanken oder Konzerne wie Microsoft?
Butter: Verschwörungstheorien gehen davon aus, dass nichts so ist, wie es scheint. Wenn wichtige Entscheidungen aber nicht von den gewählten Politikern getroffen werden, von wem dann? Da ist man schnell bei Banken und Konzernen. Außerdem sind diese meist transnational aktiv und nicht dem Wohl eines einzelnen Landes verpflichtet. Auch das macht sie suspekt.
SPIEGEL ONLINE: Kennen Sie denn eine Verschwörungstheorie, die eigentlich gar keine ist?
Butter: Nein.
SPIEGEL ONLINE: Und gibt es umgekehrt eine vermeintliche Wahrheit, die nur noch nicht als Verschwörungstheorie erkannt wurde?
Butter: Auch nicht.
SPIEGEL ONLINE: Und wenn Sie Filme über die angeblich inszenierte Mondlandung sehen: Kommen Ihnen da gar keine Zweifel?
Butter: Doch, denn diese Filme sind ja oft gut gemacht. Auch wenn ich meinen Studenten Oliver Stones Film über das Kennedy-Attentat zeige, halten das anschließend drei Viertel erst mal für die Wahrheit. Dann erkläre ich ihnen, wie dieser Film logische Verbindungen vorgaukelt, wo gar keine sind.
SPIEGEL ONLINE: Und danach sind alle überzeugt?
Butter: Zumindest sagt dann keiner mehr laut etwas anderes.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch "Das Glühbirnenkomplott".
