Vioxx-Skandal Erste deutsche Strafanzeige gegen Merck eingereicht

Nach dem Wirbel um schwerwiegende Nebenwirkungen des Medikaments Vioxx haben die Angehörigen eines verstorbenen Berliners Strafantrag gegen den US-Pharmakonzern Merck wegen fahrlässiger Tötung gestellt. Dies könnte der Beginn einer Verfahrensflut sein.

Berlin - Am Mittwochabend ging nach Informationen von SPIEGEL ONLINE bei der Münchner Staatsanwaltschaft I per Fax die sechsseitige Strafanzeige gegen die "Verantwortlichen der Unternehmensgruppe Merck & Co. Inc. unter anderem wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung pp." ein. Am Donnerstagmorgen bestätigte der Berliner Rechtsanwalt Andreas Schulz auf Anfrage, dass er im Auftrag von zwei Angehörigen eines vermeintlichen Vioxx-Opfers gegen den Pharmariesen wegen des Vertriebs des Schmerzmedikaments Vioxx Anzeige erstattet habe.

Dies ist die erste strafrechtliche Aktion von betroffenen Patienten wegen der vermuteten Nebenwirkungen des Medikaments Vioxx in Deutschland. Allerdings hat die Einnahme des Präparats nach Berechnungen des Leiters des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Peter Sawicki, wohl bei mindestens 2500 Patienten in Deutschland zu Schlaganfällen, Thrombosen und Herzinfarkten geführt. Das hat Sawicki aus Risikostudien hochgerechnet, derentwegen das Medikament zurückgenommen wurde: "Ein Teil dieser Menschen wird diese gefährlichen Nebenwirkungen nicht überlebt haben." Gut 125 Millionen Tagesdosen haben allein die gesetzlichen Krankenkassen 2003 bezahlt, das ergibt mindestens 340.000 deutsche Vioxx-Patienten.

Für die USA kommt eine weitere Studie zu dem Ergebnis, dass hochgerechnet 27.785 Herzattacken und Herztode zwischen 1999 und 2003 hätten vermutlich verhindert werden können, wenn die Patienten statt Vioxx ein Alternativmittel geschluckt hätten. In den USA sind bereits mehrere Sammelklagen gegen den Konzern Merck eingereicht, aber noch nicht von den Gerichten zugelassen.

Der Berliner Fall war bereits in den letzten Tagen immer wieder als Beispiel für die vermuteten Nebenwirkungen des Medikaments Vioxx genannt worden. Es geht um den am 15. November 2002 verstorbenen Berliner Professor Grigorij R., der Vioxx gegen seine starken Rheumaschmerzen eingenommen hatte. Kurz darauf traten bei dem Mann Nebenwirkungen "wie Atemnot und Herzbeschwerden sowie die Entwicklung einer Leberzirrhose auf, obwohl er nie Alkohol zu sich genommen hat", so der Text der Anzeige, die SPIEGEL ONLINE vorliegt.

Grundsätzlich richtet sich die Anzeige gegen den US-Konzern Merck, dort soll man bereits frühzeitig von den gefährlichen Nebenerscheinungen des Medikaments gewusst haben, trotzdem sei der Vertrieb nicht eingestellt worden. In der Begründung der Strafanzeige heißt es nun, dass Merck die Risiken für die Patienten "in Kauf nahm und vielmehr seine wirtschaftlichen Überlegungen in den Vordergrund stellte".

Seit Ende September hat Merck das Medikament Vioxx vom Markt genommen. Seitdem häufen sich Aussagen von Fachleuten, welche die Nebenwirkungen des Medikaments beschreiben. Die entscheidende Frage allerdings lautet, seit wann Merck von den Gefahren wusste. Die Studie, die zum Zurücknehmen des Schmerzmittels geführt hatte, ergab eine Verdoppelung von Herzattacken und Schlaganfällen bei den Vioxx-Konsumenten.

Die Strafanzeige zitiert mehrere Experten, die von einer frühen Kenntnis Mercks von den Problemen berichten. Auch die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Helga Kühn-Mengel wird mit den Worten zitiert, der Vioxx-Skandal zeige ein Muster der Industrie, die "mehr vom Profit als von Patienteninteressen" gesteuert werde.

Michael Winnebeck, Sprecher der deutschen Niederlassung, die in München unter dem Namen MSD firmiert, bestätigt, dass man im Konzern Kenntnis von den Nebenwirkungen hatte. "Die Nebenwirkungen betreffen jedes Rheumatikum, dazu gehört auch Vioxx. Im Gegensatz zu den bis dahin verfügbaren mitteln hatten wir sie aber deutlich reduziert", sagt Winnebeck. Ärzte und Behörden seien nach Veröffentlichung einer Studie sofort informiert worden. Außerdem habe man die Zugabe von Aspirin in geringer Dosis empfohlen, um die schädliche Wirkung zu kompensieren.

Hinweise auf die Nebenwirkungen von Vioxx hatte es schon seit Einführung des Mittels 1999 gegeben. Das Mittel, zunächst wegen der vermeintlich besseren Verträglichkeit beworben, sollte Schmerzen lindern. Die Werbekampagne wurde Merck in den USA jedoch von der Zulassungsbehörde FDA untersagt worden. Als der Konzern die Kampagne weiterführte, ist Merck von der FDA im September 2001 abgemahnt worden.

Die eingereichte Anzeige könnte der Beginn einer ganzen Welle von Klagen gegen Merck aus Deutschland sein. Bei dem Berliner Anwalt Andreas Schulz gehen nach eigenen Angaben täglich Hunderte Anrufe ein, die sich wegen seiner Aktivitäten in Sachen Vioxx melden. Auch bei MSD ist bereits eine große Zahl von Anfragen eingegangen, wie Winnebeck bestätigt. Man werde jeden Einzelfall prüfen, sicherte er zu. Zu der Strafanzeige wollte er sich nicht äußern: "Zu einem laufenden Verfahren nehmen wir grundsätzlich keine Stellung".

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