Wall Street Die armen Reichen
New York - Wer wissen will, wie es der US-Wirtschaft geht, sollte in den Immobilienteil der "New York Times" gucken. Lange nicht mehr standen in Manhattan so viele, so teure Luxus-Apartments zum Verkauf. Die aktuelle Liste der Wohnungen im Wert von mindestens einer Million Dollar ist so lang, dass sie aus Platzgründen mit der laufenden Nummer 400 abbricht. An der Spitze steht das teuerste Quartier aller Zeiten in der Stadt der Rekorde: Das Penthouse des Pierre Hotels am Central Park, drei Etagen im Chateau-Stil, 16 Zimmer, fünf offene Kamine, Eichenparkett mit Mahagoni-Fassung, vier Terrassen - eine pro Himmelsrichtung. Preis: 70 Millionen Dollar.
Kein Wunder. Mögen Konjunkturexperten auch zaudern und Investoren zögern: Nie zuvor hat es in den USA mehr Millionäre gegeben als jetzt. Die Researchfirma Spectrem aus Chicago präsentierte dieser Tage eine viel sagende Studie, wonach sich die Zahl der amerikanischen Millionärshaushalte im vorigen Jahr um 21 Prozent auf 7,5 Millionen erhöht hat - 400.000 mehr als der bisherige Rekord von 1999. Ins gleiche Horn stößt eine Erhebung der Boston Consulting Group. Der zu Folge produzieren die USA mehr Neu-Millionäre - und schneller - als jedes andere Land der Welt: 3000 pro Tag.
Allein im Großraum Seattle, so war neulich zu hören, lebten schätzungsweise über 10.000 neue Millionäre - allesamt gut versorgte Jung-Persionäre des Microsoft-Konzerns. Und natürlich Microsoft-Chef Bill Gates selbst, mit einem Vermögen von 47 Milliarden Dollar auch weiterhin der reichste Mann der Welt. "Der Wohlstand, der in diese Gegend gekommen ist", sagte der Ökonom Richard Conway der "New York Times", "ist atemberaubend".
Mehr Kapital - mehr Anlagen?
Der US-Geldadel kontrolliert nach Angaben der Forscher inzwischen über elf Billionen Dollar an Privatguthaben, auch das ein historischer Rekord. "Die Wohlhabenden sind wieder da angelangt, wo sie vor dem Bärenmarkt waren", erklärte Spectrem-Geschäftsführerin Catherine McBreen in Anspielung auf den Börsencrash von 2001, der ja auch die Millionärs-Bubble vorerst platzen ließ. Man kann das allerdings auch anders sagen: Die Kluft zwischen Haben und Nichthaben in Amerika wird immer größer.
Schließlich stagniert das US-Durchschnittseinkommen seit Jahren bei mageren 43.000 Dollar pro Haushalt, derweil die Reichen immer reicher werden - und die Armen immer ärmer. Die aktuellsten Daten der Volkszählungsbehörde in Washington besagen, dass die US-Armutsquote zuletzt von 12,1 (2002) auf 12,5 Prozent (2003) angestiegen ist. 7,6 Millionen amerikanische Familien leben in Armut. Mit anderen Worten: Auf jeden US-Millionärshaushalt kommt ein Haushalt in Not.
Doch die Finanzjongleure der Wall Street scheren sich natürlich bekanntlich weniger um die Armen als um die Reichen, ihre Klientel. Und müssten sich also ordentlich freuen: mehr Krösusse, mehr Kapital, mehr Anlagen, höhere Kommissionen. Oder? Doch selbst in der guten Nachricht versteckt sich noch eine schlechte.
Von Drogensucht zum Luxusloft
Denn nur rund ein Drittel der Millionärs- und Milliardärs-Vermögen, berichtete Spectrem per Fußnote, liege in Börsen-Investments. Der Rest bestehe meist aus Kompensationen, Privateinkommen, Erbmasse und Cash. Und wenn sie investierten, dann meist ohne Rat eines Brokers, Bankers oder Finanzberaters - eine Skepsis gegenüber der Branche, die zum einen wohl noch aus dem letzten Börsenkrach herrührt und zum anderen aus den jüngsten Skandalen bei den großen Investmenthäusern.
Skepsis spiegelt sich auch in dem monatlichen Affluent Investor Index wieder, den Spectrem herausgibt. Der misst Risikobereitschaft und Optimismus der reichsten Spekulanten - und ist im April erstmals auf Null gesunken. Dies, so warnte Spectrem-Präsident George Walper, sei ein Zeichen für "breitere Sorgen um Börsen-Performance, die Konjunktur und den Rentenmarkt". Selbst die Reichen zaudern.
Bleibt ja immer der Immobilienmarkt. Das Pierre-Penthouse, das bisher dem Hedge-Fonds-Manager Martin Zweig gehörte, liegt zwar trotz aller Verkaufsgerüchte bis heute wie Blei in der Luxus-Auslage. Doch anderswo blüht das Wohnungsgeschäft - so sehr, dass Experten schon vor einer Immobilienblase warnen. In Soho wechselte gerade mal wieder ein Luxusloft den Besitzer, für 2,55 Millionen Dollar. Der Käufer: James Frey, ein Shooting Star der New Yorker Jungautorenszene. Mit seinem Erstlingswerk "A Million Little Pieces" ("Tausend kleine Scherben") wurde Mr. Frey reich und berühmt - mit der Geschichte über seine Drogensucht und sein Leben in Armut.