Wanderarbeiter Crashkurs für Chinas Entrechtete
Xian - Jeden Morgen geht Chen Lianhua in die Schuhfabrik. Sie näht Lederlappen zusammen - Teile, aus denen einmal Schuhe werden. Seit zehn Jahren arbeitet sie in der Fabrik in Xian, der Stadt mit der Terrakotta-Armee. Die Tonsoldaten hat die 37-Jährige noch nie gesehen, die Einkaufspaläste der Innenstadt mit ihren Marmorsäulen und Boutiquen kennt sie nur von außen.
Es ist nicht ihre Welt obwohl Frau Chen genau diese Welt des Wohlstands suchte, als sie vor zehn Jahren von ihrem Heimatdorf in die Sieben-Millionen-Metropole Xian zog. Sie ist eine von 250 Millionen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern in China, die auf der Suche nach dem chinesischen Traum vom Land in die Stadt drängen.
Chen Lianhua will nicht zurück aufs Dorf, wo sie kein fließendes Wasser haben, keine Toiletten, keinen Strom und noch nicht einmal ein Fahrrad. Doch sie möchte mehr als nur Schuhe fertigen, sie möchte besser bezahlt werden, einen richtigen Arbeitsvertrag und einen Job als "office lady", wie sie es ehrfurchtsvoll nennt. Als ein Freund ihr von einem Computerkurs erzählte, der auch noch kostenlos ist, meldete sie sich an, ohne zu zögern.
Und hier ist sie nun, in diesem kleinen Raum im oberen Stock eines der vielen Hochhäuser, die in den Smog Xians ragen. Dreißig Computer surren, der Drucker schnarrt. Einen Monat lang dauert der Kurs, erklärt der Leiter des "Computer Learning Center" er wurde von der Entwicklungshilfeorganisation Plan International ausgebildet, die das Projekt vor eineinhalb Jahren zusammen mit Microsoft ins Leben rief.
Die Stadt verstehen lernen
Die Wartelisten für den Computerkurs sind lang. Allein im ersten halben Jahr kamen mehr als 200 Teilnehmer, bis zum Sommer 2008 werden es mehr als 1800 sein. Einmal die Woche für zwei Stunden am späten Abend kommen die Wanderarbeiter hierher. Sie lernen nicht nur, wie man mit einem Computer umgeht, sondern auch, wie man mit Hilfe des Internets nach Jobs sucht und sich bewirbt.
Das war es, was Chen Lianhua besonders reizte: "Eine 'office lady' muss mit einem Computer umgehen können und die Angebote für diese Berufe stehen im Internet. Alle Jobangebote im Internet sind besser als das, was ich zurzeit mache."
Es sind neue Welten, die sich für die meist jungen Teilnehmer erschließen. Computer kannten viele von ihnen noch nicht einmal vom Sehen. Das Internet, obgleich zensiert, öffnet ihnen neue Perspektiven. Eine E-Mail-Adresse verrät nicht, dass man im Slum lebt, sich mit anderen eine kleine Wohnung teilt.
Als Frau Chen nach Xian zog vor zehn Jahren, war sie zunächst allein. Es war keine leichte Zeit, erinnert sie sich. Erst später kam ihr Mann nach, ihr Kind mussten sie im Heimatdorf bei den Großeltern lassen. Denn offiziell angemeldet sind sie noch immer dort auf dem Land. Zu aufwendig, zu teuer ist ein Ummelden in die Stadt. Ein polizeiliches Führungszeugnis braucht man, Gebühren gibt es zu bezahlen, dazu zumeist ein bisschen Schmiergeld, und außerdem muss ein Arbeitsvertrag vorliegen den viele Wanderarbeiter nicht besitzen.
Nur dort, wo die Familien registriert sind, können sie zum Arzt gehen, wenn sie sich das denn leisten können. Nur dort können ihre Kinder die Schule besuchen, ohne teures Schulgeld zu zahlen.
Im Computerkurs zeigen die ehrenamtlich arbeitenden Lehrer nicht nur das Surfen im Internet, Tabellenkalkulationen und das Schreiben von Texten die Wanderarbeiter sollen auch mehr über das Leben in der Stadt erfahren. Denn selbst die, die schon viele Jahre hier leben, wissen nicht viel über die Gepflogenheiten. "Neue Bürger" das sollen die Wanderarbeiter werden. Bürger statt Ausgeschlossene, sagt der Kursleiter.
Auf dem Land ist der Mensch die Maschine
Was kann man tun, um gesund zu bleiben? Woran erkennt man Krankheiten? Wann sollte man einen Arzt aufsuchen? Was bringt Körperhygiene? Und wie kann man sich vor HIV schützen? Die Immunschwächekrankheit wird ein immer größeres Problem in China und es sind vor allem die Wanderarbeiter und die Menschen auf dem Land, die es trifft.
Noch eines lernen die Kursteilnehmer hier kennen: ihre Rechte. Die meisten, die in den Kurs kommen, hören davon zum ersten Mal. Sie lernen, dass es ein Recht auf einen Arbeitsvertrag gibt, was darin nicht stehen darf, und dass es so etwas wie Arbeitsschutz gibt. Man sagt ihnen hier, an wen sie sich wenden können, wenn sie Probleme am Arbeitsplatz haben. Doch die Hilfe hat Grenzen - der Leiter des Computerkurses wird bei dem Thema nervös, wischt sich die Hände an der Hose ab. Arbeitsrechte sind immer noch heikel in China, denn sie sind Menschenrechte.
Schnell wird das Gespräch auf Unverfänglicheres gelenkt. Eine Arbeitskollegin von Chen Lianhua erzählt, dass ihr Leben in der Stadt besser ist als das ihrer Eltern, die immer noch auf dem Land leben. Sie wohnt hier in einem richtigen Hochhaus, mit einem kleinen Badezimmer, das sie sich mit mehreren teilen muss. Das ist allemal besser als die Wohnhöhle ihrer Eltern. Ein großer Raum, in den Berg gegraben, die Öffnung mit Holz und Papier verkleidet.
Ein Leben ohne fließendes Wasser, ohne landwirtschaftliche Maschinen. Der Mensch ist die Maschine auf dem Land: Er zieht den Pflug, drischt das Korn von Hand, mahlt das Mehl mit einem Mahlstein. So ist das Leben auf dem Dorf hier in der Provinz Shaanxi, wo der Entwicklungsstandard laut Uno auf dem niedrigen Niveau vieler afrikanischer Länder liegt.
Das ist nicht das Leben, das die 40-jährige Frau führen will. Ihr Traum: "Ich möchte reisen, die Welt sehen." So weit will Shi Meiling gar nicht gehen. Sie blickt von ihrem Bildschirm auf: "Ich möchte erst einmal meine Gegenwart organisiert bekommen, bevor ich an die Zukunft denke." Dabei soll ihr der Computerkurs helfen. Darüber, wie ihre Gegenwart aussieht, möchte sie nicht reden. 40 Stunden die Woche arbeitet sie, alle anderen auch, sagen sie alle und nicken eifrig und man weiß nicht, ob es die Wahrheit ist, oder ob sie einfach nur sagen, was sie sagen sollen.
Vom Tagelöhner zum Tagelöhnervermittler
Denn bei der Mehrheit der Wanderarbeiter sieht der Arbeitsalltag anders aus. Eine Studie von Amnesty International besagt, dass die Hälfte aller Wanderarbeiter keinen Arbeitsvertrag besitzt. Geringe Vergehen werden vom Arbeitgeber streng bestraft, von Lohnentzug bei nur ein paar Minuten Verspätung ist die Rede, von 14-Stunden-Tagen und davon, dass Streikende brutal zusammengeschlagen werden. Die Wanderarbeiter machen die gefährlichsten und am schlechtesten bezahlten Arbeiten - ist das der Preis für Chinas Wirtschaftswachstum?
Um diese Fragen geht es den Kursteilnehmern gar nicht. Sie wollen bloß teilhaben am großen Traum vom Wohlstand. "20 bis 30 Prozent der Teilnehmer finden nach dem Kurs einen besseren Job", sagt der Kursleiter. Für viele bedeutet das einen Aufstieg von einem Job auf einer Baustelle oder in einer Fabrik zu einer Arbeit als Kellner oder Kassierer. Arbeitsplätze in der Dienstleistungsbranche sind begehrt.
Und manche Kursteilnehmer haben sich schon einen kleinen Traum erfüllt: Hong Wi Li war zunächst Fahrer, ein Tagelöhner. Nun ist er selbst für die Vermittlung von Tagelöhnern zuständig. Ein Job, mit dem er zufrieden ist, sagt er, und um einen neuen Arbeitsplatz geht es ihm auch gar nicht: "Ich will in diesem Kurs lernen, wie man mit dem Computer umgeht, um meinen zehnjährigen Sohn in der Schule zu unterstützen." Denn das sei das Wichtigste, sagt der 40-Jährige und der Grund, weshalb sich all die Plackerei lohnt: "Mein Sohn soll einmal ein besseres Leben führen als ich."