Bundeswehr Weinend auf Stube
Verteidigungsminister Helmut Schmidt machte aus seinem Rückzug eine Tugend: »Jemand, der aus Erfahrung nicht lernt, ist ein Scheißkerl?
Anfang vergangener Woche tickerte -- als Ergebnis ministeriellen Lernwillens -- ein neuer »Erlaß über Haar- und Barttracht der Soldaten per Fernschreiben in alle Bundeswehr-Kasernen. Ab »sofort« waren die schulterlangen Locken der German Hair Force zu kappen. Neubefohlenes Längenmaß: nicht über den Kragen, nicht über die Augen, nicht über die Ohren.
Gefreiter Michael Wagener von der Hamburger Panzergrenadier-Brigade 17, das Haar noch lockig und lang. drückt aus, was Deutschlands sensible Soldaten-Generation empfand: »Ich bin erschüttert.« Ein Obergefreiter aus der Heliweg-Kaserne im westfälischen Unna, dem der neue Erlaß »zu weit geht«. formuliert robuster: »Jetzt sehen wir doch wieder wie Graf Arsch aus.« Sein Kamerad, Vater zweier Kinder, befürchtet zu Hause Ehekrach, weil »ich jetzt wieder meine Segelohren sehen lasse«.
Die größte Sorge, so ein Stabsschreiber, ist »die Sache mit den Mädchen: Die kennen uns doch gar nicht wieder«. Und ein junger Soldat aus Unna fürchtet: »Wenn ich so mit meinem Mädchen in eine Diskothek komme, lachen mich ja alle Freunde aus.« Zwei Soldaten der Boelcke-Kaserne teilten der »Südwest-Presse« in Ulm mit: »Die Stimmung der Truppe ist mies, die Langhaarigen protestieren.«
Nicht alle, nicht überall. Obergefreiter Hans-Jürgen Müller vom Fernmelde-Bataillon 840 in Essen-Kray zeigt Verständnis: »In hygienischer Beziehung mag der Erlaß vertretbar sein. denn bei Übungen muß man oft längere Zeit ohne Haarwäsche auskommen«
Ein junger Feldjäger aus Mainz, selbst langhaarig, findet »den Streit um Zentimeter« müßig, fünfzig Gefreite eines Unteroffizierlehrganges der 1. Panzergrenadier-Division reagierten laut Pressemajor Reinhard Luschert auf das Verlesen des neuen Haarerlasses gehorsam: »Jawoll, Herr Hauptmann, wir gehen zum Friseur.«
Viele Soldaten mit halblangem Haar sind überzeugt, daß sie den von der Hardthöhe verordneten Grobschnitt den Vollmähnen-Trägern zu verdanken haben. Ein Rekrut aus Hildesheim trauert der bislang geübten Großzügigkeit nach: »Das haben uns die Kollegen mit den wallenden Haaren versaut.«
Pfiffige Wehrpflichtige grübeln inzwischen schon über mögliche Lücken im Erlaß. Ein Ulmer Luftwaffensoldat bestellte flugs beim Friseur eine Kurzhaarperücke. die er im Dienst über seinen üppigen Kopfputz stülpen will. Einen Kameraden aus Zweibrücken, der die gleiche Idee hatte, ließ Verteidigungsstaatssekretär Karl-Wilhelm Berkhan abschlägig bescheiden: »Der Haarerlaß bezieht sich auf die echten Haare.«
So verärgert die Soldaten auf Schmidts Haar-Order reagierten, so erleichtert nahmen die Vorgesetzten in der Truppe den Ukas auf: »Endlich klare Verhältnisse«.
Generalmajor Carl-Gero von Ilsemann, Divisionär in Marburg und besonders engagierter Kritiker der Mähnen-Mode. empfindet »keinen Grund zu triumphierender Emotion«, ist jedoch mit seinem Kameraden Generalmajor Horst Ohrloff, Kommandeur der 3. Panzerdivision in Buxtehude, einer Meinung: »Offiziere und Unteroffiziere halten das für vernünftig.«
Fein finden die Friseure Schmidts neue Formel. Arthur Littig, Bataillons-Barbier der Herrenwald- und der Hessen-Kaserne in Allendorf: »Die Leute standen bei mir Schlange. Wir haben mit drei Mann gearbeitet, wo wir sonst nur mit einem arbeiten müssen.« Littig fürchtete den Ruin, sein Geschäft war »unrentabel« geworden, und »normalerweise hätte ich zumachen können. Aber jetzt geht"s wieder rund. nehme ich an«.
Mancherorts reichten für die Scher-Aktion die Friseur-Stuben nicht aus. In der Unnaer Hellweg-Kaserne ließ der Chef der Stabskompanie einen Waschraum zum provisorischen Herren-Salon umrüsten und kommandierte den Gefreiten Manfred Bloch, in Zivil Coiffeur-Geselle. zum Haareschneiden ab.
Truppen-Offizier Oberleutnant Fritz Birnstiel aus Hamburg-Rahlstedt findet es »psychologisch gut«, daß auch viele Offiziere zum Haarschneider müssen. die wie er selbst mittellang tragen. Der Ministerial-Friseur auf der Hardthöhe war letzte Woche zeitweilig derart überlastet, daß er nach Aussage von Führungsstäblern nur grob in Kragenhöhe stutzen. aber keine verschönernde Feinarbeit leisten konnte.
Die Freude über den Durchbruch an der haarigen Front war im Ministerium auch sonst gedämpft. Nachdem Schmidt seine liberalen Haarerlasse des Jahres 1971 monatelang zäh verteidigt hatte, räumte er nun das Feld: »Ich hatte eine zu weitgehende Entscheidung getroffen und mußte handeln -- ohne große Sabbelei.«
Im Februar hörte der Minister von Hygiene-Sorgen der Sanitäts-Offiziere und forderte bei San-Inspekteur Generaloberstabsarzt Eberhard Daerr eine Vorlage an. Daerr schickte alsbald »sieben Zeilen. Das war mir zu wenig. Da habe ich erst mal Gutachter bestellt« (Schmidt).
Während in der Truppe die Vorgesetzten noch zähneknirschend Haarnetze verteilten. etablierte sich im Ministerium eine Kommission. Sechs Wochen später konnte Oberfeldscher Daerr das Gewünschte liefern.
Die Doktoren hatten festgestellt. daß die Soldaten ihre langen Haare nicht ausreichend pflegen konnten oder wollten. Dreck und Speck im Haar, auf Kragen und Kopfkissen waren die Folge. Dadurch wurde »das Auftreten von Hauterkrankungen, insbesondere Infektionen und Parasitenbefall ... begünstigt« (Erlaß).
Die Gutachter gingen ins einzelne: neben Läusen und Gestank diagnostizierten sie, daß die durch die mit dem Dienst verbundene Unregelmäßigkeit des Stuhlgangs hervorgerufenen typischen Akne-Pusteln der Soldaten »beim Tragen von Bärten und langen Haaren besser verbreitet werden«.
Besonders mußte es die Bundeswehr-Oberen erschrecken, daß Daerr-Stellvertreter Generalstabsarzt Heinrich Leers für den Fall weiterer Lang-Haar-Duldung »zeitliche und materielle Voraussetzungen für eine gründliche tägliche Pflege« forderte: »Zahlreichere Wasch- und Duschräume, vermehrter Wasserverbrauch. größere Kalibrierung der Zu- und Abflußleitungen« spezielle Trocknungsmöglichkeiten für das Haupthaar.«
Mit der bestellten Expertise bewaffnet. revidierte der Verteidigungsminister seine liberale Vorschrift, die Truppe bekam Order: Helm ab zum Haareschneiden.
Die meisten zufriedenen Vorgesetzten gewährten den Mähnenträgern kulante Schonfristen. Heeresinspekteur Generalleutnant Ernst Ferber: »Keine Nacht der langen Scheren, bitte.« Ilsemann: »Sachlich und korrekt durchsetzen, nicht abrupt.« Ein stellvertretender Bataillons-Kommandeur in Göttingen: »Keine Christenverfolgung geplant.«
Oberst Friedrich Wilhelm Grunewald, Stabschef beim Wehrbereich IV in Mainz, gab Zeit bis nach Pfingsten: »Die Soldaten können sich in langer Haartracht noch von ihrer Freundin verabschieden.«
Die humane Handhabung des Erlasses vermag jedoch nicht den Schmerz derjenigen zu mildern, denen die Locken mehr sind als nur Mode oder Protest gegen den Bund. Ein Soldat in Hildesheim: »Ich wollte sterben, als ich das hörte.«
Und in der Marburger Tannenberg-Kaserne berichteten Soldaten von einem langhaarigen Kameraden, der sich weinend auf seine Stube zurückgezogen habe.