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Weniger Wohnhäuser

aus DER SPIEGEL 21/1947

Radio New York jagte seinen Hörern in der vergangenen Woche einen tüchtigen Schreck ein: Ein Bericht von zehn bekannten USA-Wirtschaftlern kündigte den Vereinigten Staaten in den nächsten drei bis fünf Jahren eine gefährliche Depressionsperiode mit Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und ähnlichen unangenehmen Begleiterscheinungen an.

Erfreulicherweise warten die zehn Wirtschaftspropheten gleichzeitig mit einem Gegenmittel auf, einem Neun-Punkte -Programm. Sie fordern eine allgemeine Lohnerhöhung um 15 Prozent gegenüber einer Preisherabsetzung von 10 Prozent. Eines der Hauptprobleme der Nachkriegszeit, die Wohnungsfrage, soll durch die zwangsweise Herabsetzung der Baukosten um 20 Prozent gelöst werden.

Tatsächlich tanzt der Wohnungsbau in dem Blütereigen der gegenwärtigen amerikanischen Hochkonjunktur erheblich aus der Reihe. Für 1947 waren eine Million fertiggestellter Häuser geplant. 1,5 Millionen Häuserbauten sollten zum mindesten begonnen sein. Nach den betrüblichen Erfahrungen des ersten Quartals 1947 zieht sich das Handelsministerium in seinen Schätzungen auf bescheidenere Ziffern (700 000 bis 800 000 Häuser) zurück.

An Baumaterialien ist kein Mangel. Ebensowenig fehlt es an der Nachfrage. Der Wohnungsbedarf wird amtlich auf mindestens 6 Millionen Häuser geschätzt. Für die Beseitigung der berüchtigten Slums, auch in den ländlichen Bezirken, wären weitere 6 Millionen Wohnhäuser erforderlich.

Tausende von entlassenen amerikanischen Soldaten hausen in Wellblechbaracken und Wohnwagen. Fast 5 Millionen wohnen als lästige Gäste bei den Schwiegereltern oder bei Freunden. Rechtsanwälte führen es auf diese Zusammenpferchung zurück, daß die Zahl der Ehescheidungen unter den früheren Soldaten wesentlich höher ist als bei der sonstigen Bevölkerung.

Dabei stehen in den Vororten vieler amerikanischer Städte neugebaute Häuser reihenweise leer und werden zum Verkauf angeboten. 2000 allein in Chikago, hunderte in Boston. Amerikanische Tageszeitungen enthalten spaltenlange Inserate unter der Rubrik »Zu vermieten!«. Aber es sind nur wenige in der Lage, die verlangte Miete zu bezahlen.

In Detroit beispielsweise ist der Preis für ein Haus, das 1940 noch für 5090 Dollar gebaut werden konnte, heute fast 10 000 Dollar.

Ende des Krieges lag der Baukostenindex bei 137,4. (1935-1939 = 100). Nach der Aufhebung der Preiskontrolle für Baustoffe im November 1946 zogen die Preise weiter an. Der Bauindex hat 180 überschritten. Die Materialkosten betragen teilweise doppelt soviel wie 1939.

Hinzu kommt die Erhöhung der Arbeitskosten. Die Löhne sind etwa 10 Prozent höher als vor dem Kriege. Außerdem ist es für viele Bauarbeiter Mode geworden, in der Mitte der Woche zu feiern und übers Wochenende zu arbeiten. Dafür werden dann doppelte Löhne gezahlt.

Das Arbeitstempo der amerikanischen Maurer hat sich erheblich verlangsamt, ohne daß man von allgemeiner Faulheit sprechen kann. Durchschnittlich setzte ein gelernter Maurer vor dem Kriege 700 Steine täglich. Heute beträgt die Arbeitsleistung 400-500 Steine. Es fehlt an Nachwuchs. In Chikago sind die Maurer durchschnittlich 58 Jahre alt.

Nur wenige Bauunternehmer »machen« noch in Miethäusern. Das Geschäft lohnt sich nicht mehr. Während die Kosten weiter ansteigen, sind die Mietpreise durch staatliche Kontrolle festgelegt.

Das private Kapital der freien amerikanischen Wirtschaft wendet sich deshalb anderen Anlagemöglichkeiten zu, die größere Gewinne versprechen. In dem Programm der Bauindustrie rangieren Kinos, Kabaretts und Rennbahnen vor den Wohnungen. Von 6 Milliarden Dollar, die in den letzten Wochen für Bauten investiert wurden, sind knapp ein Drittel für Wohnhäuser aufgewendet worden

Das Wohnungsproblem macht der reichsten Nation der Erde fast ebensoviel Kopfzerbrechen wie den Habenichtsen in der zerbombten alten Welt. In mehreren amerikanischen Großstädten nächtigten entlassene USA-Soldaten in Zelten und Hängematten auf öffentlichen Parkanlagen. Aber nicht aus Not, sondern aus Protest gegen die unzureichende Wohnraumversorgung.

Auf großen Plakaten, die sie vor ihren provisorischen Nachtlagern aufgebaut hatten, stand in dicker Kreideschrift: »Genug Wohnungen für uns? Das ist ein Witz!«

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