SPIEGEL Essay Wettlauf in die Vergangenheit
So erstaunlich ist es nicht, daß einige, die niedrige Löhne schon immer als Patentrezept für eine blühende Wirtschaft empfehlen, nun lauter werden. Was sollen sie sonst tun? Revozieren und neu nachdenken? Das wäre wohl zuviel verlangt.
Wer solche Patentrezepte empfiehlt, läßt außer acht, daß fallende Löhne auch sinkende Kaufkraft bedeuten - ein für die Konjunktur nicht ganz unwichtiger Aspekt. Es wird auch verschwiegen, daß in der Bundesrepublik die Löhne schon jahrelang real gesunken sind. Jetzt müßte erst einmal bewiesen werden, daß dadurch wirklich mehr Beschäftigung erzielt wurde.
Auch das neuere Motto der »größeren Lohndifferenzierung« meint im ganzen ein sinkendes Lohnniveau; denn die partiellen Lohnsenkungen sollen nicht durch stärkere Lohnsteigerungen anderswo ausgeglichen werden.
Die lohnfixierten Ökonomen sehen alles unter der Voraussetzung der »markträumenden Preise«, das heißt der Vorstellung, daß für jeden Markt ein Preis existiert, der Ungleichgewichte austariert. Gibt es zuviel Nachfrage, muß eben der Preis erhöht werden, bis die Nachfrage so zurückgeht und das Angebot so steigt, daß beide sich decken. Ist das Angebot zu hoch, muß der Preis gesenkt werden, bis der Ausgleich stattfindet.
Das ist das Grundtheorem der klassischen Nationalökonomie, um das sich ganze Bibliotheken aufschichten. Man muß sich wirklich wundern, wie wortreich ein so einfacher Gedanke der staunenden Menschheit als wissenschaftliche Erkenntnis immer wieder dargetan werden kann.
Nun wird das Prinzip von konsequenten klassischen Ökonomen auf Menschen und ihre Arbeitskraft ebenso angewandt wie auf Tomaten oder Kaffee. Aber hier hapert es.
Angewandt auf den Arbeitsmarkt bedeutet das Theorem, daß auch dort der »Markt geräumt« wird, wenn der Preis für Arbeit nur genügend tief sinkt. Es ist auch folgerichtig, daß dies reibungslos geschehen muß. Regelungen, die den Arbeitnehmer vor bodenlosen Preisanpassungen nach unten schützen, können hier nur als Störung angesehen werden.
So überrascht es nicht, daß die Attacken, die sich auf die Löhne richten, auch stets von Angriffen auf die soziale Sicherung und andere soziale Regelungssysteme flankiert sind. Das liegt in der Logik des Arguments, und es klang schon vor 55 Jahren so.
»Räumung« des Arbeitsmarktes ist denn auch durch schrankenlose Wirtschaftsliberalität schon versucht worden, beispielsweise im Frühkapitalismus. Als die Löhne so tief fielen, daß die Menschen ihre Arbeitskraft nur noch an der Grenze des Existenzminimums - und ohne die heutige soziale Sicherung - verkaufen konnten, mußte ein Teil ganz einfach »verderben« (wie überzählige Tomaten) oder »vernichtet werden« (wie Kaffee).
Das Korrektiv waren Hungersnöte, Seuchen, Unruhen und Kriege, so wie es heute wieder in der »Dritten Welt« beginnt. Und dennoch: Nicht einmal unter solchen Bedingungen verschwand die »industrielle Reservearmee«.
Mit der Zeit ist denn auch eine Reihe von Unterschieden zwischen menschlicher Arbeitskraft und Gemüse entdeckt worden: Arbeit hat Eigenschaften, die sie von allen anderen Produktionsfaktoren und Gütern deutlich unterscheidet.
Zunächst einmal haben Menschen Präferenzen, Wünsche und Neigungen - Produktionsfaktoren und Güter haben dergleichen nicht. Die menschlichen Präferenzen entstehen und verändern sich in einer sozialen Umwelt, in der die Lebensvorstellungen der einzelnen Menschen nicht unabhängig vom Lebensstandard anderer Menschen sind.
Weiter gilt: Während Waren und Produktionsfaktoren zur ökonomischen Verwertung da sind, folgen Geburt und Entwicklung des Menschen und sein Erwerb beruflicher Qualifikationen einer vielfältigen Mischung von Motiven, Neigungen, Erwartungen und Notwendigkeiten. Die Arbeitskraft und ihre Qualifikation ist von ihrem Träger unabtrennbar. Dagegen braucht der Eigentümer von Kapital nicht notwendig sein Vermögen (zum Beispiel in die Vernichtung) zu begleiten.
Anders als Sachkapital kann das »Humankapital« auch nicht verkauft, sondern lediglich als Nutzung des Arbeitsvermögens »vermietet« werden. Und während sich der Verkäufer von Gütern und Produktionsfaktoren im Kaufvertrag jeglicher Verfügungsmacht über sie begibt, legt der Arbeitsvertrag genau das Gegenteil fest, indem er eine Mitwirkungspflicht des einzelnen Arbeitskraftbesitzers bei der Nutzung seines Arbeitsvermögens begründet.
Ferner ist die Produktivität menschlicher Arbeit nicht nur technologisch bestimmt, sondern auch von der Motivation, der Anstrengung und Leistungsbereitschaft eines jeden Beschäftigten abhängig. Der Mensch verwertet seine Arbeitskraft auch nicht zur Erzielung von Gewinn, sondern letztendlich aus dem Motiv, den Lebensunterhalt zu sichern und Not abzuwenden. Das menschliche Arbeitsvermögen wird überdies nicht nur in der Erwerbsarbeit zur Produktion, sondern auch beim Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen eingesetzt.
Menschen erwerben aber auch Qualifikationen, um Güter für sich selbst zu produzieren, die niemals auf dem Markt angeboten werden. Investitionen in dieses »Humankapital« werden häufig bereits in einem Alter angelegt, in dem der Mensch keine volle Entscheidungsfreiheit hat.
Aus alledem folgt, daß Arbeitsvermögen und Humankapital unabdingbar mit dem Menschen verbunden sind und daß Arbeit schon deshalb keinen reinen Warencharakter haben kann. Das Angebotsverhalten auf dem Arbeitsmarkt ist atypisch. So wird etwa bei Lohnsenkungen oft Arbeitskraft vermehrt angeboten, sei es vom einzelnen selbst oder von den übrigen Gruppenmitgliedern.
Aus diesem vermehrten Angebot kann dann eine weitere Verschlechterung der Anbieterposition entstehen. Daraus folgt aber auch, daß soziale und anthropologische Grenzen bestehen, welche die Anwendung gängiger Marktmodelle hier erheblich einschränken.
Vor allem aber haben wir heute ein anderes Gesellschaftsverständnis als im Frühkapitalismus, und wir werden diese Entwicklung - gottlob - nicht völlig zurückdrehen können. Es ist gerade der Ordoliberalismus der 40er und 50er Jahre, von Walter Eucken bis zu Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack, der die Frage von Mindestnormen der Humanität und Solidarität mit den Prinzipien der Marktwirtschaft zu verbinden gesucht hat.
Neben anderen wichtigen neuen Komponenten, etwa der - nie konsequent realisierten - Kontrolle wirtschaftlicher Macht, wurde mit der Festigung sozialer Rahmenbedingungen die Reform der liberalen kapitalistischen Wirtschaft entworfen, die seit mehr als 35 Jahren als »soziale Marktwirtschaft« bekannt ist.
Soziale Sicherheit und Solidarität nehmen in dieser Gesellschaftsordnung einen hohen Rang ein, es gilt keineswegs etwa nur das Prinzip wirtschaftlichen Wettbewerbs.
Es wird heute häufig übersehen, daß diese Spielart des Liberalismus drei Stoßrichtungen hatte: Gegen die Zentralverwaltungswirtschaft ging die eine, gegen den Interventionismus die zweite und gegen den reinen Liberalismus, dem man Instabilität bis zur Selbstzerstörung, soziale Mängel und historisches Versagen nachwies, die dritte.
Ich meine, daß Argumente, die diesen Aspekt außer acht lassen, nicht mehr in unserem Grundkonsens liegen, genausowenig wie Positionen, die unsere Probleme über staatssozialistische Heilslehren beheben wollen. Es ist erstaunlich, daß große Teile der politischen und publizistischen Öffentlichkeit dies nicht wahrnehmen und bei Grenzüberschreitungen nach rechts (um nicht zu sagen: nach hinten) viel weniger sensibel und abwehrend reagieren als bei Grenzüberschreitungen nach links.
Dem radikalen Flügel der wirtschaftsliberalen Kritiker paßt die ganze Richtung nicht - nämlich unsere sozialstaatliche Gesellschaftsordnung, aber sie geben dies nicht ebenso deutlich zu erkennen, wie dies ihre linken Pendants zumeist tun. Bei ihnen klingt alles oft ganz harmlos, so, als seien die Änderungen, die sie entwerfen, ganz systemverträglich, und sie locken damit viele Publizisten und Politiker aufs Glatteis wohlwollender Einbeziehung in ernsthafte Erörterungen.
In der Wortwahl allerdings geht es nicht so verdeckt zu: Es ist ja auffallend, daß in diesen Diskussionen der Begriff »soziale Marktwirtschaft« nicht mehr auftaucht; nur von »Marktwirtschaft« ohne Beifügung oder gar von »freier Marktwirtschaft« ist die Rede. Diese ist aber ordnungspolitisch etwas anderes als der Entwurf der Bundesrepublik.
Warum lassen wir uns das eigentlich widerspruchslos gefallen? Es täte uns allen gut, uns einmal auf alle Wurzeln unserer Ordnung und unseres sozialen Konsenses zu besinnen, um Diskussionselemente, welche tiefe Eingriffe ins Sozialversicherungssystem oder in die Tarifautonomie betreffen, richtig einordnen zu lernen. Dazu gehören auch die Thesen von der angeblich nötigen ungleichen Entlohnung für verschiedene Gruppen bei gleicher Arbeit oder von der nötigen Aufbrechung des Arbeitsrechts.
Eine fundamentale ordnungspolitische Debatte würde bald erweisen, daß manche Gralshüter der »freien Marktwirtschaft« gerade in den theoretischen Begründern unserer sozial-marktwirtschaftlichen Nachkriegsordnung scharfe Widersacher finden müßten. Und es ist ja diese sozial-marktwirtschaftliche Ordnung, der die Erfolge der ersten Nachkriegsjahrzehnte zu verdanken sind, und nicht irgendein frühliberaler Purismus.
Nein, die Gebetsmühle »Lohndrosselung« bringt nicht die heile Arbeitswelt. Dies bedeutet nicht, daß Lohnkosten unbeachtlich wären. Moderate Lohnpolitik bleibt nötig: Über den internationalen Kostentrend und über die inländische Produktivitätsentwicklung und Inflationsrate hinaus können real die Löhne nicht dauerhaft ohne schwere volkswirtschaftliche Schäden oder Verwerfungen steigen. Es gibt auch Situationen, wo etwa aus akuten Wettbewerbsgründen vorübergehende Anpassungen nach unten nützlich sind.
Dies ist aber jetzt nicht die Lage. Es wird von manchen dennoch lautstark weit mehr und immer mehr an Lohnzugeständnissen gefordert, und da wird es inzwischen theoretisch, empirisch und ordnungspolitisch dubios.
Die Grenzen, die der Strategie einer Lohndrosselung gesteckt sind, bedeuten ja nicht totale Resignation vor dem Beschäftigungsproblem. Der Instrumentenkasten ist viel reicher gefüllt, und obwohl keine einzelne Strategie ein Patentrezept bietet, wäre eine Bündelung vieler Teilstrategien doch erfolgversprechend.
Dazu gehört die Neuverteilung der Arbeit einschließlich Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die Entwicklung alternativer Arbeitsmärkte, die Verbesserung der sozialen Sicherung, die Stabilisierung der Masseneinkommen, eine expansionsfreundliche Geldpolitik und etwa steuerpolitische Anreize für eine zukunftsträchtige, umwelt- und ressourcenschonende Investitionstätigkeit. Dazu gehören auch beschäftigungsorientierte Finanzierungsmöglichkeiten für Infrastrukturaufgaben, etwa im Umweltschutz und im Energiebereich oder bei anderen kommunalen Investitionen.
Die diskussionslähmende Fixierung auf die Lohnkostenfrage könnte demgegenüber die gesellschaftliche Kreativität und Innovationsfähigkeit bei der Behandlung der Beschäftigungsproblematik vielerorts blockieren. Vor allem deswegen muß die Lohnsenkungsthese grundsätzlicher erörtert werden - sie darf nicht unbesehen als der Wirtschaftsweisheit erster, letzter und einziger Schluß hingenommen werden. Die Systemfrage gehört bei dieser Diskussion dazu.
Nun wird nicht nur bei uns, sondern in vielen Industrieländern über die angeblich zu hohen Arbeitskosten diskutiert. Interessant dabei ist, daß dies ganz unabhängig vom tatsächlichen internationalen Rangplatz bei den Arbeitskosten in der jeweiligen Volkswirtschaft gilt. Auch dies stellt die Erfolgsaussichten jeder nationalen Strategie, die Kostenvorteile auf dem Weltmarkt anstrebt, sehr in Frage.
Statt dessen wäre ein internationaler »sozialpolitischer Dialog«, wie ihn der Ministerrat der EG vorgeschlagen hat, nützlich. Er könnte einen sozialpolitischen Verhaltenskodex ansteuern, der verhindert, daß die konkurrierenden Volkswirtschaften aus kurzsichtigen Wettbewerbsgründen einen Wettlauf in die sozialpolitische Vergangenheit beginnen. Das Ende eines solchen Wettlaufs wären ja nur gleiche Konkurrenzverhältnisse wie zuvor, jedoch auf einem durchweg niedrigeren sozialen Niveau.
Wer meint, damit könnten aber doch dynamische unternehmerische Verhaltensweisen ausgelöst werden ("Angebotspolitik"), setzt darauf, daß die Nachfrageseite in den Unternehmen völlig übersehen oder vernachlässigt wird. Oder er unterstellt, daß jeder meint, er profitiere als einziger von diesen Kostensenkungen und die Nachfrage werde schon wie ein Deus ex machina von irgendwoher kommen. Ein solch illusionäres Verhalten wiederum ist nicht mit der Hypothese des kühl kalkulierenden Homo oeconomicus mit vollem Durchblick vereinbar, die für die Stimmigkeit aller akademischen nationalökonomischen Überlegungen aber unentbehrlich ist.
Wer mit radikalen Lohndrosselungen für eine Gruppe, in einer Branche oder in einem Lande eine spezifische Beschäftigungsdynamik auslösen will, der übersieht, daß dieser Gedanke nicht originell und eine solche Strategie nicht geheimzuhalten ist. Wenn aber alle so denken und vorgehen, bleibt für niemanden ein Wettbewerbsvorteil und ein Beschäftigungseffekt.
Bleibt das Argument besserer Wettbewerbsbedingungen des Faktors Arbeit gegenüber dem Kapitaleinsatz. Dieses Argument besagt, daß durch Senkung der Löhne der Rationalisierungsdruck vermindert und der Ersatz von Arbeit durch Kapital verlangsamt werden könne. Eine Strategie mit dieser Zielrichtung wäre in einer Zeit überall überbordenden Arbeitsangebots aber nur für den Globus als Ganzes akzeptabel, nicht aber für ein einzelnes Land oder einen Teil einer Volkswirtschaft.
Dieses Land oder dieser Sektor könnte zwar kurzfristig Beschäftigungsgewinne erzielen. Die aber würden auf lange Sicht mit einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit bezahlt, der durch den damit verbundenen Verzicht auf technische Neuerungen, auf Produktivitätsfortschritt und auf Strukturwandel bedingt wäre. Das Beschäftigungsproblem würde schon bald verstärkt wiederkehren.
Die Kurzsichtigkeit der Argumente für eine fortgesetzte Lohndrosselung ist deshalb besonders befremdlich bei denjenigen, die immer wieder betonen, der technische Fortschritt müsse genutzt und das Strukturwandeltempo beschleunigt werden: Nur so könne die Wirtschaft dem internationalen Wettbewerb gewachsen bleiben.
Der Blickwinkel ist in der bisherigen Diskussion zu sehr auf die Lohnkostenfrage eingeengt worden. Jetzt muß der Horizont auf die ganze Vielfalt beschäftigungspolitischer Möglichkeiten erweitert werden. Und vor allem sollten wir dabei auch ordnungspolitisch gesehen die Kirche doch lieber im Dorf lassen.