ARBEITSZEIT Wie bei Orwell
Wenn Geschäftsführer L. ("Nennen Sie meinen Namen nicht) von seinem Teakholzschreibtisch in der Frankfurter City nach links blickt, weiß er Bescheid. Gelbe Lämpchen in einem grauen Blechkasten blinken auf und erlöschen. Sie zeigen dem Boß an, welche Mitarbeiter im Hause sind, welche ihren Arbeitsplatz verlassen haben.
Der Anwesenheits-Monitor ist eine fast zwangsläufige Fortentwicklung der einst als Beginn der Humanisierung der Arbeitswelt gefeierten gleitenden Arbeitszeit (Glaz).
Inzwischen sind Unternehmer und Gewerkschafter skeptischer geworden. »Immer mehr Betriebe denken sehr ernsthaft darüber nach, ob sie ihre Mitarbeiter gleiten lassen sollen«, fand Gerd Zepter Von den Unternehmerverbänden Hessen heraus. Und auch die Gewerkschaften -- die Betriebsräte haben bei der Einführung der gleitenden Arbeitszeit Mitbestimmungsrecht sorgen sich allmählich um die Folgen der Glaz. »Wir müssen uns da«, sinnierte ein DAG-Experte, »mehr einfallen lassen.«
Dabei hatte die Idee des Ottobrunner Flugzeugbauers Ludwig Bölkow zunächst nur Freunde gehabt. Glaz-Anhänger erhofften sich die Befreiung vom starren Werktag, als sie den Beschäftigten für Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einen Entscheidungsspielraum von ein bis zwei Stunden einräumten.
Innerhalb weniger Jahre, seit 1967, führten Tausende von Firmen und vor allem Behörden das neue System ein. Verkäuler von Zeiterfassungsgeräten, der modernen Stempeluhr, verbreiteten geschäftstüchtig die Heilsbotschaft von den zufriedenen, da gleitenden Arbeitskräften.
Derzeit, so schätzt der führende Hersteller von Zeiterfassungsgeräten. Hengstler im württembergischen Trossingen, wird in etwa 60 000 Firmen und Behörden geglitten. Den 50 bis 60 Millionen Mark starken Markt für das technische Zubehör teilen sich in der Bundesrepublik 25 Hersteller.
Doch die Zeiten. da sich Unternehmen mit dem Sozialbonbon gleitender Arbeitszeit für neue Mitarbeiter interessant machen mußten, sind vorbei. Fr über war es eine soziale Zugabe, heute entscheiden nur noch Kosteneinsparungen«, gibt Hengstler-Experte Wolfgang Hertting den Wandel wieder.
Hengstler wie auch die Mitbewerber Benzing in Schwenningen und die AFG-Tochter Telefonbau und Normalzeit spuren, daß die Geschäfte »recht ruhig geworden sind, ohne daß man sich sorgen muß« (Hertting).
Inzwischen sprechen sich nämlich auch die Nachteile des Systems herum, wird Widerstand wach. Unternehmen klagen über teuren Leerlauf und Reibungsverluste. Während der Kernarbeitszeit -- ohnehin gekürzt und halbiert durch die Mittagspause -- muß nachgeholt werden, was in den Gleitzonen nicht erledigt werden konnte.
Nur wenige Betriebe konnten bisher die Mehrkosten, die von gleitender Arbeitszeit verursacht werden, exakt ermitteln.
Dafür sind Klagen verärgerter Kunden über nicht besetzte Büros und Amtsstuben vor allem in Behörden unüberhörbar. Die Stadt Oberhausen beispielsweise ging von der flexiblen Arbeitszeit wieder ab, um die Dienstbereitschaft ihrer Behörden für die Bürger zu erhöhen. Demnächst wird der Berliner Senat zu entscheiden haben, ob die gleitende Arbeitszeit für die Beschäftigten der Stadt wieder abgeschafft wird.
Für die Unternehmen überwiegen derzeit offensichtlich noch die Vorteile: Fehlzeiten gehen zurück, Eintags-Erkrankungen treten seltener auf, und Überstunden werden zum Wohl der Firmenkasse verhindert. Eine Umfrage bei tausend Unternehmen ergab einen Rückgang der Fehlzeiten um 27 Prozent und eine Halbierung der Überstundenzahl.
Der Arztbesuch während der Arbeitszeit -- früher für Angestellte kein Problem -- wird dank Glaz nun erfaßt und aufgerechnet. Und mancher Betrieb gewährt sich zu Lasten der Lohnempfänger einen zinslosen Kredit, indem Zeitguthaben der Mitarbeiter nicht termingerecht abgerechnet, sondern auf spätere Monate übertragen werden.
»Wir haben vor Jahren erfolgreich um die Abschaffung der Stempeluhren gekämpft«, klagt deshalb BASF-Betriebsrat Rudi Bauer, »jetzt haben wir sie in den Büros.« Gleitzeit nämlich führt häufig zu weitgehender Kontrolle über Arbeitszeit und Einsatzbereitschaft der Angestellten, deren Anwesenheit früher allenfalls durch den Bürovorsteher zur Kenntnis genommen wurde.
Moderne Zeiterfassungsgeräte, in die der Angestellte seinen in Kunststoff gegossenen Hausausweis beim Kommen und Gehen steckt, melden die Daten des Beschäftigten an den Computer, der Zeitguthaben oder Minusstunden ermittelt und sie auf Knopfdruck der Unternehmensführung berichtet. Lampentafeln in der Chefetage -- umstritten wie früher Mithöreinrichtungen -- ermöglichen eine leichte Anwesenheitskontrolle. »Das erinnert fatal an Orwells Schreckensvisionen. 1984 ist im Büro schon erreicht«, fürchtet ein IG-Metall-Experte.
Ärgerlich besonders für die leitenden Angestellten, die nun wie jede Sekretärin oder früher Kumpel Anton die »Stempeluhr« zu bedienen haben. »Die sehen das gar nicht so gern«, berichtet BASF-Betriebsrat Bauer.
Fast die Hälfte der Glaz-Firmen hat sich inzwischen die aufwendigen Uhren zugelegt. Denn flexible Arbeitszeit zahlt sich erst dann richtig aus, wenn die Arbeitszeitdaten der Angestellten elektronisch erfaßt und ausgewertet werden. »Der Gleitzeit-Run ist vorbei«, weiß Hertting von Hengstler, doch mit der Verfeinerung der Methode sind noch Geschäfte zu machen.
Das Anschlußgeschäft wollen die Gewerkschaften den Zeiterfassern allerdings doch schwermachen. In internen Schulungen für Betriebsräte und Vertrauensleute programmiert die IG Metall: »Zeiterfassungsgeräte zur täglichen minutiösen Kontrolle der gleitenden Arbeitszeit sind abzulehnen.« ·